Fazit
Vulnerabilität verstanden als Verletzlichkeit des Menschen in seinem leiblichen Personsein ist kein Hindernis für seine Autonomie, sondern diese schließt die Verletzlichkeit ein. Dies hat Konsequenzen für das Verständnis von der Würde des Menschen und der Gerechtigkeit einer Gesellschaft. Wenn Autonomie nicht ohne Verletzlichkeit zu denken ist, muss auch der Inklusionsgedanke einer kritischen Revision unterzogen werden. Inklusion ist dann nicht als gnädiger Akt der Fürsorge zu begreifen, sondern als solidarischer Akt der Anerkennung der gleichen Würde aller.
Was die Pandemie hier gezeigt hat, ist zunächst etwas ganz Grundlegendes: Dass wir als Menschen, als Einzelne, aber auch als Gesellschaft im Ganzen verletzlich, vulnerabel sind. Diese Vulnerabilität hat Konsequenzen auch für das Selbstverständnis des Menschen, für die Fragen der Selbstbestimmung ebenso wie für solche der Fürsorge und Solidarität in einer gerechten Gesellschaft.
Die Pandemie hat gezeigt, dass alle Menschen verletzlich sind – wenn auch in unterschiedlicher Weise. Die Begegnung mit dem Corona-Virus ist daher nicht nur die Begegnung mit einer Krankheit, sondern die Begegnung mit der unhintergehbaren Fragilität menschlichen Lebens auf dieser Erde. Die Macht dieses Virus zeigt die Grenzen menschlicher Herrschaft gegenüber der ihr vorgegebenen Natur. So hat die Pandemie das Nachdenken über den Menschen in vielfältiger Weise befördert, das Nachdenken über Krankheit und Gesundheit, über Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen sowie Freiheit und Sicherheit in der Gesellschaft im Ganzen. Die Erfahrungen mit der Pandemie und den damit einhergehenden medizinischen, sozialen, kulturellen und politischen Herausforderungen legen unser Augenmerk daher auf die Fragen, was menschliches Leben ausmacht und was seiner Erhaltung und Entfaltung in einer freien Gesellschaft dient.
Angesichts der sich weltweit ausbreitenden Gefahren durch neue Krankheitserreger kommen lange für selbstverständlich gehaltene Fortschrittserzählungen an ihre Grenzen. Wenn der Soziologe Andreas Reckwitz feststellt, dass die Zukunft aufgrund vielfältiger Verlusterfahrungen ihre Anziehungskraft verliert, trifft er die Erfahrungswelt jener Menschen, die bislang große Zukunftserwartungen in den technologischen Fortschritt setzten, gerade auch in der Medizin und Heilung dort erwarten lassen, wo früheren Generationen dieser Weg verschlossen war. Dies gilt zwar nach wie vor angesichts vieler Fortschritte, gerade etwa in der Krebsforschung, aber solche Hoffnungen haben auch durch die Pandemie ihre Dämpfer erlitten. Gesellschaftlich sind wir dadurch teilweise zurückgeworfen worden in alte Muster. Rigorose Sicherheitsvorkehrungen drohten die Errungenschaften von Demokratie und Freiheit in Gefahr zu bringen. Nicht, dass jetzt die Fortschrittsversprechen der technologischen Aufklärung oder die Frage der Autonomie des Menschen überflüssig würden, aber sie werden angesichts der gegenwärtigen Situation zurechtgerückt auf ein realistischeres Maß. Anhalt daran hat nicht zuletzt die Erfahrung, dass der Mensch, das menschliche Leben, nicht nur von seiner Vernunft bestimmt wird, sondern dass es bis auf Weiteres an seine Leiblichkeit gebunden bleibt. Vernunft und Leib gehören im Menschen zusammen.
Dies hat weitreichende Konsequenzen für die herrschende Annahme eines rationalen, autonomen Subjekts und das daraus folgende Verständnis von Autonomie. So werden mit der Pandemie grundlegende Auffassungen der Moderne fragwürdig, indem am Selbstverständnis des modernen Paradigmas gerüttelt wurde, dem Mantra des Fortschritts, des technologischen immer Weiterführenden. Sicherheit und Gesundheitsvorsorge des Menschen immer umfassender und perfekter zu gestalten, so dass das Menschsein sich sozusagen emanzipieren kann von seinen naturalen und leiblichen Bedingungen, war und ist Ziel. Aber dieses Ziel ist irritiert worden. Das Fortschrittsparadigma wurde erschüttert durch die Einsicht, dass Pandemien solchen Versprechen des Fortschritts sehr schnell ein Ende bereiten können. Nicht zuletzt die Rückläufigkeit der Lebenserwartung seit einigen Jahren bietet dafür ein drastisches Anzeichen. All diese Wahrnehmungen verraten, dass wir zu schnell einem abstrakten Verständnis des Menschseins gefolgt sind, einem Verständnis des Menschen, das davon ausgeht, dass der Mensch mit seiner Vernunft alle Unbill, die ihm durch seine Leiblichkeit droht, überwinden kann. Hier ins Nachdenken zu kommen, ist von Bedeutung, gerade um ein realistischeres Verständnis des Menschen zu gewinnen. Zu diesem gehört seine Vulnerabilität, die an seine Verletzlichkeit erinnert. Was meint dieser Begriff?
Zum Begriff der Vulnerabilität
Der Begriff der Vulnerabilität stammt ursprünglich aus der Armutsforschung und Entwicklungspolitik. Er avancierte jedoch in jüngerer Zeit zu einem Schlüsselbegriff in vielen Wissenschaften und seit der Pandemie ist er auch als geläufiger Begriff in die Mitte der Gesellschaft gelangt. Größere Beachtung hat der Begriff der Vulnerabilität aber in der Psychologie und dort vor allem in der Resilienzforschung erlangt. Mit Resilienz wird in der Regel die Fähigkeit zur Anpassung an schwierige Umstände bezeichnet, eine psychische Widerstandskraft, mithilfe derer Menschen Krisen bewältigen und gestärkt hervorgehen können. Vulnerabilität dient dann einem solchen Reifungsprozess.
Es gibt aber noch ein weiter ausgreifendes Verständnis von Vulnerabilität, das diese nicht nur als Mittel zum Zweck, hier einem Reifungsprozess, sondern das ihr eine Eigenbedeutsamkeit zumisst. Das Ziel der Anerkennung von Vulnerabilität ist dann nicht – oder nicht in erster Linie – ihre Überwindung durch die Gewinnung von Resilienz. Es geht vielmehr um die Anerkennung von Vulnerabilität als zum Menschsein gehörig. Diese Perspektive auf Vulnerabilität verspricht ein realistischeres Verständnis vom Menschsein, das auf die Ambivalenzen des Lebens verweist, zu dem immer auch Verletzlichkeit gehört. Die Bedeutung von Vulnerabilität changiert demnach also je nachdem, ob sie fokussiert ist auf die Gewinnung von Resilienz, oder ob ihr ein Eigenwert beigemessen wird. Damit erfolgt eine Ausweitung des Verständnisses der Vulnerabilität, das diese für die Eigenart menschlichen Lebens als Verletzliches in Anspruch nehmen möchte.
Erfahrungen der Verletzlichkeit als Grundbestimmung des Menschseins
Der Mensch ist nicht nur als autark und autonom, sondern auch in seiner Verletzlichkeit, in seiner Abhängigkeit von der Natur und seine Angewiesenheit auf den Mitmenschen zu verstehen. Das bedeutet, auch in seinem Personsein, in seiner Rolle als Verantwortungsträger/-in hat er oder sie nicht alles in der Hand, alles im Griff. Die leibliche Eingebundenheit des Menschen lässt uns das nur allzu deutlich erfahren. Mit seinem Leib gerät er an Grenzen, ist er Opfer von Krankheiten, von Viren, die in einer Pandemie verstärkt ihre Schrecken zeigen.
Diese Erfahrung jedoch musste sich erst ihren Weg bahnen. Das war aber gerade durch den Umgang mit der Pandemie schnell möglich, und zwar anhand der Frage, wer ist systemrelevant und wer ist vulnerabel. Die Frage schien zunächst einfach zu beantworten zu sein. Ersteres trifft zu auf Menschen in pflegerischen oder ärztlichen Berufen, aber auch auf Menschen in pädagogischen Berufen wie Erzieher und Lehrerinnen, auf Menschen in öffentlichen Berufen wie Polizisten, oder Menschen, die im Einzelhandel arbeiten, wie etwa Verkaufspersonal. Besonders geschützt werden müssen hingegen Kranke, Vorerkrankte und ältere Menschen, die man dann als vulnerabel bezeichnet hat. Aber hier wurde sehr schnell deutlich, dass diese Einteilung in systemrelevant auf der einen und vulnerabel auf der anderen Seite sich nicht durchhalten lässt, zeigte sich doch gerade, dass die im Pflegebereich und in der Krankheitsversorgung Tätigen bald selbst gesundheitlich an ihre Grenzen stießen und sie vor Überforderung geschützt werden mussten. Systemrelevanz und Vulnerabilität trafen da eng aufeinander.
Darüber hinaus zeigte sich, dass oft auch eine Fehleinschätzung der Systemrelevanz vorlag. Gerade seelsorgerliche und psychologische Betreuung kam daher zu kurz. So wurden ältere Menschen in Heimen bisweilen selbst im Sterben isoliert gehalten. Aber auch jungen Menschen, Schülerinnen und Schüler in einer herausfordernden Lebensphase, waren über die Maßen Erfahrungen der Einsamkeit ausgesetzt. Das führte Extrembelastungen mit sich, die noch nicht aufgearbeitet oder gar bewältigt wurden.
Diese Gemengelage der Zuordnung von Systemrelevanz und Vulnerabilität ist und war herausfordernd. Mit dem Versuch der Unterscheidung von systemrelevanten und vulnerablen Gruppen meinte man vorschnell, die Gefahr der Pandemie bannen und alles im Griff behalten zu können. Aber die Erwartung, die Aufrechterhaltung der Institutionen, der Infrastruktur der Gesellschaft durch jene Unterscheidung sichern zu können, erwies sich als trügerisch. Auch hoch funktionstüchtige und systemrelevante Personen waren angesichts der Pandemie nicht gegen Verletzlichkeit gefeit. Die Rede von besonders vulnerablen Gruppen verdeckt diese prinzipielle Verwundbarkeit eines jeden Menschen.
Zur Würdigung der Leiblichkeit des Menschen in seinem Personsein
Gerade die prinzipielle Verwundbarkeit kann rückwirkend auf ein Verständnis des Menschen als solches klärend wirken, zeigt sie doch, dass Menschsein keineswegs ein solches ist, das sich ohne alle Angewiesenheiten selbst als autonomes behaupten, das Selbstbestimmung letztlich als bedingungslose Freiheit verstehen kann unter Ausblendung der Forderungen, die sich aus den Lebenszusammenhängen und der jeweiligen Stellung in der Gesellschaft ergeben.
Die Berücksichtigung solcher Abhängigkeiten und Angewiesenheiten rückt hingegen anthropologische Bestimmungen in den Blick, die auf eine Tradition zurückgreifen können, wie sie in der christlichen Tradition, aber auch in philosophischen Traditionen der Leibphänomenologie geltend gemacht worden sind, dass der Mensch gerade in seiner Freiheit zugleich immer auch in seinem leiblichen und naturalen Eingebundensein zu sehen ist und es seine Aufgabe ist, sich unter diesen Bedingungen zu erhalten und zu entfalten. Das heißt eine grundlegende Angewiesenheit des Menschen auf die Bedingungen seiner Mit- und Umwelt lässt sich nicht ausblenden, wenn die Leiblichkeit des Menschen ernst genommen wird.
Die Personalität des Menschen, die Würde des Subjekts, wird sich dementsprechend an der Anerkennung des Leib-Körpers in seiner Endlichkeit und Verletzlichkeit ausweisen müssen. Es gilt daher nicht nur die Vernunft, sondern auch die Leiblichkeit des Menschen ernst zu nehmen. Denn der Leib des Menschen weist stets über sich hinaus und ist bezogen auf eine natürliche Umwelt und soziale Mitwelt. Unter Einschluss der je konkreten Leiblichkeit in ihrer spezifischen Situiertheit ist Verletzlichkeit nicht nur als defizitärer Zustand zu verstehen, den es zu überwinden gilt, sondern sie ist als spezifisches Berührt-werden in das Selbstverständnis von Personalität einzubinden.
Zur Neubestimmung von Autonomie
Zu einer daraus erwachsenden Neubestimmung von Autonomie gehört dann auch der Gedanke der Fürsorge, der den Schutz auch jener Personen einschließt, die in ihrer Selbstbestimmung und ihrer Entscheidungskraft eingeschränkt sind und insofern Assistenz benötigen. Autonomie und Angewiesenheit schließen sich daher nicht aus, sondern ein.
Für ein Verständnis von Autonomie des Menschen bedeutet die Einbeziehung seiner Verletzlichkeit also keineswegs deren Minderung. Denn, indem auch die leiblichen Aspekte des Menschen für dessen Autonomie zu berücksichtigen sind, wird es gerade dadurch ermöglicht, den Menschen in seiner Unverwechselbarkeit als Einzelnen wertschätzen zu können. So kann auch für Menschen mit besonderen Einschränkungen der Anspruch der Autonomie aufrechterhalten werden. Verletzlichkeit, die auf Einschränkungen und Angewiesenheiten verweist, ist dann jedenfalls kein Hindernis für Autonomie. Wenn auch Autonomie nicht ohne Verletzlichkeit zu denken ist, muss auch der Inklusionsgedanke einer kritischen Revision unterzogen werden.
Inklusion und Gerechtigkeit – Konsequenzen für das Verständnis der Menschenwürde leiblichen Personseins
Im Anspruch auf Inklusion meldet sich die Achtung der Menschenwürde, die jedem Menschen zukommt. Den Einzelnen anzunehmen, ihn wahrzunehmen, ihn nicht als Nummer oder Rädchen zu beachten, ist Ausweis einer gerechten Gesellschaft, die der Anerkennung der gleichen Würde aller folgt. Gleichheit bemisst sich dann an der Wertschätzung nicht einer Klasse, eines Geschlechts, einer Ethnie, sondern jedes und jeder Einzelnen in den speziellen Konditionen und Begabungen, Stärken und Schwächen. Differenzierung meint nicht Diskriminierung, sondern bringt die Wertschätzung des Einzelnen im Sinne der Unvergleichlichkeit zum Ausdruck. Gerade dadurch erweist sich Vulnerabilität nicht als eine Behinderung, sondern als eine Kraft, die den Menschen zu sich selbst bringt.
Inklusion und Exklusion werden durch die Anerkennung von Vulnerabilität daher zu Begriffen, die in ihrer Bedeutung präzisiert, profiliert und markant verändert werden müssen. Denn Inklusion meint dann nicht einen Akt der Barmherzigkeit, der etwa dem kranken oder schwachen Menschen, dem Menschen mit Einschränkungen gilt, dem die Gunst gewährt wird, in den Kreis vollwertiger Mitglieder der Gesellschaft aufgenommen zu werden. Verletzlichkeit zöge also keine Stigmatisierung nach sich, der durch sogenannte Inklusionsvorkehrungen begegnet werden müsste. Vielmehr steht der Begriff der Inklusion dann dafür, Personen in und mit ihrer jeweiligen Kondition und Situation anzuerkennen, die Verletzlichkeit als Begleiterscheinung leiblichen und endlichen Daseins ausdrückt.
Anerkennung der Vulnerabilität leistet einem Verständnis von Gleichheit Vorschub, das sich an der Anerkennung gleicher Würde bemisst und gleichwohl solch Unterschiedenes zulässt, das sich in spezifischen Einschränkungen und Behinderungen zeigt. Solche aber sind nicht Anlass für Stigmatisierungen, sie gefährden nicht die Gleichheit in der Würde. Eine so verstandene Inklusion wirklich werden zu lassen und damit Gleichheit und Freiheit zu befördern, verweist auf die Mündigkeit einer demokratischen Gesellschaft.