Aufs Gleis gesetzt

Die Erinnerung ist weg, weil es keine wirkliche gab. Bist du mir von einem Rednerpult herab begegnet, beim Stammtisch, in einer Kirche, im Kreis der Kolleginnen und Kollegen? Von wo aus hast du Anlauf genommen?
Du warst kein Bedürfnis, ich habe dich nicht erwartet, nicht bestellt. Du legtest dich ungefragt da hin, und ich stolperte.
Irgendetwas fandest du in mir, um dich festzuhalten.
Bald konntest du auftreten, kamst daher, gewandet in Vertraulichkeit, oder der Weisheit des Alters, in schmeichelnder Kompetenz, als Beschützer oder alles zusammen. Und andauernd ließest du dein Unterkleid heraushängen, Selbstlosigkeit.
Immer mehr Halt fandest du in mir. Und ich begann mich zu halten an dich.
Wortiger* war dein Auftreten nun, und ich ließ dich zu, zumal auch Gleichsinnige um mich herum wortig schienen, irgendwie dir ähnlich, nahm ich an.

Ich würde mich sehnen nach Wortigkeit, wurde mir attribuiert. War nicht ganz falsch, war was dran: ein bisschen eigene Babbel, homöopathische Beruhigung in turbulenten Zeiten, pulsieren bewirkt durch ein „ich sei wichtig“, und dann das Ganze eingehüllt in ein entsprechend forderndes Versprechen, Heiligem ganz nah zu sein.
Ich spürte mich kaum, und im Nachhinein wusste ich, du wusstest das auch.
Näher kamst du, Wortigkeit bekam Kontur, Vertraulichkeit wurde Vertrautheit. So entäußertest du dich, wurdest Fleisch, salopp gekleidet oder hoch geschlossen, mit Krawatte, Kollar, Habit, mit allem, was die Welt so trägt.

So schlichst du dich unter meine Haut, durch dich wurde sie dehnbar. Du machtest sie zum Lappen, der dein gerade in mir gelegtes Gleis polierte, indem du mich über es herzogst.
Ich spürte dieses Gleis, immer wieder zogst du mich darüber her. Ich, Richtung bestimmen, auf dem Gleis: unmöglich. Emotionen, Sehnsucht, Leidenschaft, Abgründe tanzten auf dem Gleis. Und immer wieder flatterte dein Unterkleid mir entgegen, Selbstlosigkeit.
Was hat das Bett für dein Gleis alles zugelassen. Du hast geformt.
Bis ich Weichen fand, hieltest du meinen Abgrund fest.
Du machtest mich mächtig machtlos!

Ich frage mich heute, von wo aus hast du Anlauf genommen?
Aber nicht nur ich frage, denn deine Entäußerung dehnte nicht nur meine Haut. Sie ist mächtig in allen Kulturen, politischen Systemen und Kindergärten.

Ich frage mich: Welchen Namen trägst du, hinter dem du deine Wandlungsfähigkeit verbirgst. Kein Klarname ist mir bekannt, weil du immer wieder um die Ecke kommst und Menschen triffst, die dich nicht erwarten. Menschen wie mich, der ich diesen Artikel lese. Werde ich spüren, wenn du und von wo du dann Anlauf nehmen wirst?

* Wortigkeit, ein Begriff in der Deutung von Missbrauch, der Trauworte, Halteworte und Lügenworte verdichtet.

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