Fazit
Geistlicher Missbrauch ist eine subtile, aber tiefgreifende Form der Manipulation, bei der religiöse Autorität genutzt wird, um Kontrolle und emotionale Abhängigkeit zu schaffen, oft auf Kosten der Selbstbestimmung und Identität der Betroffenen. Die Mechanismen dieser Dynamik sind schwer erkennbar, doch ihre schädlichen Effekte reichen weit in die Persönlichkeits- und Glaubensentwicklung hinein und hinterlassen oft langanhaltende seelische Spuren. Um geistlichen Missbrauch zu verhindern, braucht es ein Bewusstsein für die feinen Grenzen zwischen unterstützender spiritueller Begleitung und kontrollierendem Einfluss.
Grundsätzlich können wir sagen, dass geistlicher Missbrauch in jeglichem spirituellen Kontext geschehen kann, in dem asymmetrische Machtstrukturen gegeben sind. Das können geistliche Gemeinschaften oder Orden sein, Einzelsituationen in geistlicher Begleitung oder stark religiös geprägte Familiensysteme.
Was ist geistlicher Missbrauch?
Dabei benutzen Personen ihre religiöse Autorität oder Macht und bedienen sich religiöser Lehren, Werte oder Schriftstücke, um andere Menschen, die sich ihnen anvertrauen, zu kontrollieren, zu manipulieren oder zu unterdrücken. Dies geschieht manchmal offen und direkt, in den meisten Fällen aber verdeckt und so subtil, dass sich Betroffene der zunehmenden Grenzüberschreitungen nicht bewusst werden. Wir sprechen hier also nicht von einmaligen Ereignissen oder Übergriffen, sondern in der Regel wird über lange Zeit eine Vertrauensbeziehung zu den Betroffenen aufgebaut und so eine emotionale Abhängigkeit geschaffen, die den Missbrauch erst möglich macht. Die Täter/-innen handeln dabei mit dem selbstbewussten Anspruch, zu wissen, was der Wille Gottes sei, oder als „Sprachrohr“ des Heiligen Geistes zu fungieren und bei allem nur das Beste für die andere Person zu wollen. Dabei werden die Betroffenen ihres spirituellen Selbstbestimmungsrechts beraubt und sukzessive sich selbst, ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen entfremdet.
Was ist kein geistlicher Missbrauch?
Da wir es hierbei mit einem sehr subtilen Phänomen zu tun haben, dessen Grenzen oftmals schwimmend und schwer einzufassen sind, erscheint mir eine Abgrenzung umso wichtiger, um einer Verwässerung und Inflation des Begriffs vorzubeugen. Kein geistlicher Missbrauch liegt in folgenden Fällen vor:
- Übertragungsphänomen: Übergriffige oder missbräuchliche Erfahrungen aus der Kindheit oder früheren Vergangenheit werden auf eine aktuelle Situation oder Person übertragen, die in der Folge als missbräuchliches Geschehen im Hier und Jetzt erlebt werden, ohne dass die vermeintliche Täterperson tatsächlich übergriffig gehandelt hätte. Beispiel: Eine Person hat einen extrem dominanten Elternteil erlebt und daraus eine starke Abwehr gegenüber jeglicher Form von Führung oder Leitung entwickelt.
- Ausübung geistlicher Autorität: Geistliche Leitungspersonen haben das Recht, Verantwortung zu übernehmen und in einer Art und Weise zu führen, die das geistliche Wachstum ihrer Gemeinschaft fördert. Dabei kann es auch zu Kritik, Äußerungen unbequemer theologischer Überzeugungen oder zwischenmenschlichen Konflikten kommen wie Meinungsverschiedenheiten, unliebsame Entscheidungen (sofern sie nach bestem Wissen und Gewissen getroffen werden) und andere Konfrontationen. Entscheidende Kriterien sind hier, dass die Autonomie und Würde der Einzelnen geachtet werden und gegenseitiger Respekt und Wohlwollen, beiderseitige Kritikfähigkeit sowie die Bereitschaft zu Aussprache und Versöhnung gegeben sind.
- Intrinsisches religiöses Leistungsdenken: Menschen können aus sich heraus eine so hohe Erwartung an den eigenen geistlichen Fortschritt oder das Gemeinschaftsleben haben, dass sie sich selbst massiv unter Druck setzen und sich extrem viel abverlangen. Auf diese Weise können sie durch ihr eigenes Handeln ihre körperliche und psychische Gesundheit schädigen, ohne dass es von außen zu einer manipulativen Einwirkung durch eine geistliche Autorität kommt.
Die Attraktivität toxischer Systeme
Was führt Menschen in die Fänge von Systemen, die sich später als geistlich missbräuchlich entpuppen? In einer kleinen Studie habe ich zu dieser Frage geforscht (vgl. Butenkemper 2023). Die befragten Personen haben den Missbrauch ausschließlich in katholischen geistlichen Gemeinschaften erfahren. Ein Großteil von ihnen berichtete von einer überwältigenden Willkommenskultur beim Kennenlernen der Gemeinschaft und dem Gefühl der liebevollen Annahme und eines intensiven Interesses für die eigene Person. Diese erste Begegnung fiel in den meisten Fällen in eine Umbruchs- oder Krisenphase, in der die Betroffenen explizit auf der Suche waren nach Sinn, Halt und Orientierung und damit besonders ansprechbar für eine Gruppierung, die genau das im Angebot hat: ein entschiedenes Lebenskonzept, klare Wertevorstellungen, ein religiöses Elitedenken, einfache Antworten auf komplexe Fragen, idealisierte Lebensziele (wie das Streben nach Heiligkeit), die Aufteilung der Welt in schwarz und weiß bzw. gut und böse und ein familienähnliches System von Brüdern und Schwestern, die gemeinsam für eine große Mission unterwegs sind.
Zunehmende Einschränkung und Kontrolle
All diese Faktoren haben zunächst einen selbstwerterhöhenden und stärkenden Effekt: die positive Resonanz tut gut, neue Freundschaften werden geschlossen, ein Gefühl von Zugehörigkeit und Verbundenheit stellt sich ein und das Leben bekommt einen neuen Sinn. Im Nachhinein berichten Betroffene jedoch, dass dieser wohlige Zustand auf kurz oder lang ins Kippen gerät. Die zunehmende zeitliche und inhaltliche Einbindung in die Aufgaben und Aktivitäten der Gruppierung wird zur Verpflichtung. Wer viel bekommen hat, muss nun auch zurückgeben. Die Loyalitätserwartung kann so weit gehen, dass keine Zeit mehr bleibt für andere Freunde, Hobbys und individuelle Interessen, was eine schleichende soziale Isolation zur Folge haben kann. Mit der Begründung, dass Außenstehende im Zweifel einen schlechten Einfluss auf die Mitglieder der Gruppe hätten und den neuen Lebenswandel nicht verstehen könnten, werden Kontakte zu Familien und Freunden mehr und mehr eingeschränkt oder schließlich ganz gekappt. Dies hat zur Folge, dass die Abhängigkeit von der Gemeinschaft immer stärker wird.
Darüber hinaus wird den Betroffenen unter Berufung auf religiöse Lehren und Glaubensinhalte vorgegeben, wie sie ihr Leben zu führen haben. Dies kann so weit gehen, dass sich in ganz persönliche Entscheidungen wie Beruf, Beziehungen oder Finanzen eingemischt wird und konkrete Regeln aufgestellt werden, die den Lebensstil und die Persönlichkeit betreffen (z. B. zu Kleidung, Sprache oder Ernährung). Interessanterweise berichten fast alle Betroffenen von einem Kontrollsystem, das sich innerhalb der Gruppe etabliert, bei dem die Mitglieder sich gegenseitig beobachten und bespitzeln und Verstöße oder Fehlverhalten direkt an die Leitung weitergeben. Auf diese Weise entsteht in solch geschlossenen Systemen eine Atmosphäre von Angst- und Schuldgefühlen, die die Betroffenen unter einen enormen Druck setzen und ihnen ständig vermitteln, nicht gut oder „heilig“ genug zu sein und sich immer mehr anstrengen zu müssen, um das unerreichbare Ziel zu erreichen.
Unterdrückung von Individualität und Selbstwert
Infolge der beschriebenen Mechanismen und Strategien werden Betroffene nach und nach dazu gebracht, ihre persönlichen Wünsche und Bedürfnisse aufzugeben, um dem „Willen Gottes“ oder den Anforderungen der Gemeinschaft zu entsprechen. Systematisch werden die eigene Identität und das Selbstwertgefühl des Einzelnen demontiert, um die Konformität zu fördern und eine immer stärkere Abhängigkeit zu schaffen. Eigenverantwortung und unabhängiges Denken haben keinen Platz mehr und sind auch nicht erwünscht. Unter dem Deckmantel der spirituellen Übung oder „Abtötung“, um geistlich zu wachsen, werden die Mitglieder zur Vernachlässigung und Unterdrückung ihrer psychischen, emotionalen und körperlichen Bedürfnisse angehalten. Die Allheilmittel zur Bewältigung von Problemen sind in erster Linie das Gebet und der Glaube. Aus diesem Grund wird in vielen Fällen von therapeutischer und manchmal auch ärztlicher Hilfe außerhalb der Glaubensgemeinschaft abgeraten, was gravierende Folgen für die Gesundheit der betroffenen Personen haben kann. Darüber hinaus werden die enge Bindung und das Vertrauen der Mitglieder in vielen Fällen auch materiell ausgenutzt, indem finanzielle Unterstützung oder Abgaben verlangt werden, ohne Rücksicht auf die wirtschaftliche Situation der einzelnen Person.
Unter diesen Bedingungen entsteht in derartigen toxischen Systemen eine Kultur des blinden Gehorsams. Individuelle Gedanken, Zweifel und kritische Fragen werden als Schwäche oder mangelnder Glaube abgetan oder sogar als Angriff gewertet. Die Entscheidungen oder Lehren der geistlichen Führung dürfen nicht hinterfragt werden, da ihre Autorität als Repräsentanz Gottes unangefochten ist. Auf diese Weise werden Missstände systematisch verschleiert und vertuscht und Betroffene, die Kritik äußern oder Missbrauch aufdecken wollen, als Verräter gebrandmarkt und ausgeschlossen.
An dieser Stelle wird deutlich, warum geistlicher Missbrauch in einigen Fällen leider zum Vorzimmer für sexuellen Missbrauch werden kann. Nachdem Betroffene des eigenen Selbstwerts sowie des kritischen Denkvermögens beraubt und psychisch wie emotional in Abhängigkeit gebracht und unter Duck gesetzt sind, ist es für die Täter/-innen ein Leichtes, ihre Position auch für sexuelle Übergriffe auszunutzen und diese als von Gott gewollt darzustellen.
Ausstieg und Folgen von geistlichem Missbrauch
Der Ausstieg aus Systemen geistlichen Missbrauchs ist aufgrund der beschriebenen Mechanismen und der gewachsenen Abhängigkeiten äußerst schwer. Oft braucht es einen körperlichen oder psychischen Zusammenbruch, damit Betroffenen unmissverständlich bewusst wird, dass ihre Grenzen massiv überschritten wurden und es so nicht weitergehen kann. Die Überzeugung, ohne die Gruppierung nicht (über)leben zu können, kann eine existenzielle Verlustangst auslösen. Es drohen Einsamkeit aufgrund der sozialen Isolation, finanzielle und berufliche Unsicherheiten, der Verlust des Lebenssinns und damit von Halt und Orientierung und nicht zuletzt der Verlust des „wahren“ Glaubens und die Aufgabe der „göttlichen Berufung“, die an die Gemeinschaft gekoppelt sind. Schuld- und Schamgefühle tun ihr Übriges, um den Ausstieg zu erschweren. In den meisten Fällen braucht es externe Unterstützung, um sich endgültig von dem System zu lösen und sich neu in der eigenen Realität zu orientieren.
Wir haben es bei geistlichem Missbrauch in vielen Fällen mit einer traumatischen Erfahrung zu tun, weshalb Betroffene oft unter ernsthaften psychischen und emotionalen Problemen leiden wie Angstzuständen, Depressionen, Verlust des Selbstwertgefühls und des Selbstvertrauens. Auch körperliche Symptome und soziale Schwierigkeiten können infolge der missbräuchlichen Erfahrungen auftreten und das Leben der Betroffenen belasten. Durch die religiöse Manipulation wird zudem ihr Gottesbild und ihr Glaube tief erschüttert oder sogar zerstört, womit ihnen als spirituell suchenden Menschen eine wichtige Ressource genommen wird. Geistlicher Missbrauch ist besonders deshalb so schwerwiegend, weil er alle Bereiche des Menschseins betrifft und bis in die Identität des Einzelnen hineinwirkt, insbesondere in den Bereich der Spiritualität, in dem Menschen nach Sinn, Trost und Geborgenheit suchen.
Die Grenzen zwischen ehrlicher religiöser Begleitung und manipulativer Kontrolle zu erkennen, ist nicht immer leicht, aber notwendig, um Missbrauch zu verhindern und aufzuarbeiten. Leitung und Gemeinschaft sind an sich nicht verwerflich, sondern können im Gegenteil zur Bereicherung und Entwicklung der persönlichen Spiritualität beitragen. Ein entscheidendes Kriterium für gesunde geistliche Führung scheint mir dabei die Wahrung und Achtung des spirituellen Selbstbestimmungsrechts jeder Person. Gleichzeitig braucht es eine umfassende Sensibilisierung für die Gefahren geistlichen Missbrauchs und eine Sprachfähigkeit, um Betroffene auf ihrem Weg der Heilung und Befreiung zu unterstützen.