Lukas stellt keine Theorie auf. Er ist ein erzählender Theologe. Er erzählt uns die Menschwerdung Gottes und er erzählt uns, wie Jesus als der Anführer zum Leben die Menschen zum gelingenden Leben führt. Lukas ist Seelsorger. Er spricht eine Sprache, die die Herzen der Menschen berührt, weil sie aus dem Herzen kommt. Und es ist eine dialogische Sprache, die sich auf den einlässt, zu dem sie spricht.
Lukas erzählt uns, wie Gott auch in uns Mensch werden kann. Da sind die beiden Verkündigungsgeschichten. Zacharias zweifelt an der Botschaft des Engels. Der Engel lässt ihn verstummen. Wir haben oft unsere bestimmten Vorstellungen von Gott und vom Menschen.
Die Weihnachtsgeschichte als Bild für die Menschwerdung Gottes in uns
Der erste Schritt der Menschwerdung ist: still werden, um all die Bilder loszulassen, die wir von uns und von andern in uns tragen. Zacharias traut seiner Frau Elisabeth nichts zu. Er hat sie festgelegt durch seine Vorstellungen. So machen wir es mit uns und auch mit den Menschen, denen wir oft genug nichts mehr zutrauen. Das Schweigen will unsere Bilder zerbrechen, damit wir in das einmalige Bild hineinwachsen, das Gott sich von uns gemacht hat, und damit wir offen werden für das, was Gott im andern bewirken möchte.
Maria lässt sich ein auf die Botschaft des Engels. Sie führt ein Gespräch mit dem Engel. Man könnte auch sagen: mit den leisen, inneren Impulsen ihrer Seele. So kann Gottes Wort in ihr Fleisch annehmen. Die Bereitschaft, sich auf Gottes Wort einzulassen, bringt sie in Bewegung zum Menschen hin. Sie geht über das Gebirge, über den Berg von Vorurteilen und Hemmungen und Ausreden, um beim andern, bei Elisabeth anzukommen. Sie trägt Christus in ihrem Schoß und wird gerade so in der Begegnung mit Elisabeth zum Segen für sie.
Und dann wird Jesus im Stall geboren. C. G. Jung betont immer wieder: Der Mensch solle sich bewusst werden, dass er nur der Stall ist, in dem Gott geboren wird. Menschwerdung Gottes in uns ist nicht etwas, womit wir angeben oder uns über andere stellen können. Dann würden wir den Gedanken der Menschwerdung Gottes nur benutzen, um unseren eigenen Narzissmus durch Grandiosität zu überspielen. Die Geburt Jesu im Stall, wie sie Lukas uns schildert, befreit uns von solchen narzisstischen Tendenzen. In unsere eigene seelische Armut hinein wird Gott geboren. Gottesgeburt bedeutet, dass wir mit dem einmaligen Bild in Berührung kommen, das Gott sich von jedem von uns gemacht hat. Wenn wir mit diesem Bild in Berührung sind, dann sind wir ursprünglich und authentisch, dann müssen wir uns nicht beweisen, dann dürfen wir einfach da sein, so wie das Kind in der Krippe einfach da ist. Diese innere Freiheit ist die Voraussetzung gelingender Seelsorge. Viele Seelsorger scheitern daran, dass sie sich selbst ständig unter Druck setzen und sich beweisen müssen.
Unsere Reaktion auf das Geheimnis der Gottesgeburt im eigenen Herzen wird uns von Maria vorgelebt. Von ihr heißt es: „Maria aber bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen und dachte darüber nach.“ (Lk 2,19) Im Griechischen steht hier: „synterein und symballein“. Maria sieht das, was geschehen ist, zusammen mit den Worten, die ihr die Hirten über dieses Geschehen gesagt haben. Und sie fügt alles in ihrem Herzen zusammen, was sie sieht und hört und spürt. Das ist ein schönes Bild für die Seelsorge: Wir sehen die Menschen, die wir begleiten. Sie sind oft genug wie die Hirten, eher unscheinbar, manchmal schwierig und grob. Und zugleich hören wir, was Gott von diesen Menschen sagt, dass sie Gottes geliebte Söhne und Töchter sind. Und wir versuchen, die Worte und die Bilder zusammen zu sehen und in diesem Menschen ein einmaliges Bild Gottes zu sehen. Wir schauen mit Augen, die den Glanz Gottes, die Schönheit Gottes in diesem konkreten Menschen sehen. Das wird unsere Seelsorge verwandeln. Wir stehen nicht unter Druck, den andern überzeugen oder einen Weg führen zu müssen. Der erste Schritt der Seelsorge ist, dem andern seine eigene Schönheit widerzuspiegeln, damit er in ihr Gottes Glanz erkennt. Dann wird er von alleine dazu gedrängt, seiner eigenen Schönheit gerecht zu werden.
Der Weg Jesu als Bild gelingender Menschwerdung
Lukas schildert uns den Weg Jesu als exemplarischen Weg auch für uns. Wie Jesus müssen wir durch manche Drangsale gehen, um in das Reich Gottes einzugehen. (Apg 14,22) Unser Leben wird durchkreuzt. Doch das Kreuz will uns nicht zerbrechen, sondern aufbrechen für Gottes Herrlichkeit, für das einmalige Bild, das Gott sich von jedem von uns gemacht hat. Lukas schildert Jesus als den wahrhaft gerechten Menschen. Das wird deutlich an seinem Verhalten den Sündern und Kranken gegenüber. Für alle offenbar aber wird es am Kreuz. Da bekennt der Hauptmann: „Das war wirklich ein gerechter Mensch.“ (Lk 23,48) Jesus ist der wahrhaft gerechte Mensch, der das Bild des griechischen Humanismus verwirklicht. Platon hatte das Idealbild des gerechten Menschen den Intrigen der damaligen Welt gegenübergestellt. In seiner Politeia beschreibt er, wie es einem wahrhaft gerechten Menschen in dieser ungerechten Welt gehen würde. Und er meint, man würde ihn aus der Stadt heraustreiben, ihn blenden und schließlich ans Kreuz hängen. Der Hauptmann erkennt in dem am Kreuz hängenden Jesus diesen wahrhaft gerechten Menschen, nach dem sich die Griechen schon 400 Jahre gesehnt hatten. Jesus zeigt uns also in seiner Person, wie Leben gelingt. Wenn wir ihm nachfolgen und wie er unsere innere Würde durchhalten, ohne uns verbiegen zu lassen, dann sind wir wahrhaft gerecht, dann leben wir richtig.
Lukas beschreibt den Weg Jesu wie ein griechisches Schauspiel. Das Schauspiel führt nach Aristoteles zur „Katharsis“, zur Reinigung der Emotionen. Sigmund Freud hat das Ziel jeder Psychoanalyse Katharsis genannt. Wer sich auf das Schauspiel Jesu einlässt und es betrachtet, der erfährt in seiner Seele Reinigung der Emotionen und letztlich Heilung. Das wird deutlich beim Ende dieses Schauspiels am Kreuz: „Alle, die zu diesem Schauspiel herbeigeströmt waren und sahen, was sich ereignet hatte, schlugen sich an die Brust und gingen betroffen weg.“ (Lk 23,48) Wer das Schauspiel des Lebens und Sterbens Jesu anschaut, der wird dadurch verwandelt. Er kommt mit seinem Herzen und darin mit seinem göttlichen Kern in Berührung. Indem er das Bild Jesu am Kreuz in sich einbildet, wird er gerecht. Er kommt mit dem in seinem Herzen in Berührung, was gerecht und richtig ist. Er muss nicht wie bei Paulus von Gott gerechtfertigt werden. Er kommt durch das Schauen auf Jesu mit dem gerechten Kern, mit dem göttlichen Kern in sich in Berührung. Und so wird er verwandelt zu den Menschen gehen. Er wird die Menschen nicht ständig auf ihre Sünde hinweisen, wie wir es oft genug in der Seelsorge getan haben. Seelsorge heißt für den, der von Jesus verwandelt worden ist, vielmehr, die Menschen in Berührung zu bringen mit ihrem göttlichen Kern, mit dem Gerechten und Schönen in sich.
Der Weg gelingender Menschwerdung
Jesus zeigt uns in seinen Gleichnissen, wie Menschwerdung gelingt. Ich möchte mich auf zwei kleine Gleichnisse im 14. Kapitel des Lukasevangeliums beschränken, um den Weg gelingender Menschwerdung aufzuzeigen.
Da ist das kleine Gleichnis vom Turmbau: „Wenn einer von euch einen Turm bauen will, setzt er sich dann nicht zuerst hin und rechnet, ob seine Mittel für das ganze Vorhaben ausreichen? Sonst könnte es geschehen, dass er das Fundament gelegt hat, dann aber den Bau nicht fertigstellen kann. Und alle, die es sehen, würden ihn verspotten und sagen: Der da hat einen Bau begonnen und konnte ihn nicht zu Ende führen.“ (Lk 14,28-30) Damit unser Leben gelingt, müssen wir uns erst einmal hinsetzen und genau anschauen, was Gott uns an Gaben und Möglichkeiten geschenkt hat. Die Steine, die uns zur Verfügung stehen, um unseren Turm zu bauen, sind unsere Lebensgeschichte, unsere Stärken und Schwächen, unsere guten Erfahrungen und unsere Wunden. Alles gehört zu den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen. Wir dürfen weder unser Maß überschreiten, noch zu klein von uns denken. Vor allem sollten wir unseren Turm nicht mit anderen Türmen vergleichen. Wir sollen unseren Turm bauen, der uns entspricht. Das Leben gelingt nur, wenn ich mein eigenes Leben lebe, anstatt mich in ein vorgefertigtes Bild zu pressen. Die Griechen verstehen dieses Gleichnis sofort. Es erinnert sie an die Sage des Prokrustes, der die Wanderer in sein Bett legte und die Kleinen langzog, bis sie starben, während er den Langen die Glieder abhackte, bis sie ins Bett passten.
Das zweite Gleichnis sagt, wie wir mit unseren inneren Feinden umgehen sollen. Die inneren Feinde, das sind für die Griechen die Leidenschaften, die Affekte und Triebe. Je mehr wir gegen die inneren Feinde wüten, desto weniger werden wir fähig, wirklich zu leben: „Wenn ein König gegen einen anderen in den Krieg zieht, setzt er sich dann nicht zuerst hin und überlegt, ob er sich mit seinen zehntausend Mann dem entgegenstellen kann, der mit zwanzigtausend gegen ihn anrückt? Kann er es nicht, dann schickt er eine Gesandtschaft, solange der andere noch weit weg ist, und bittet um Frieden.“ (Lk 14,31f.) Anstatt gegen unsere Leidenschaften zu kämpfen, sollen wir mit ihnen ein Gespräch beginnen. In ihnen steckt ja nicht nur der Feind, sondern auch ein Freund, der unserem Leben neue Kraft geben möchte. Wenn wir mit dem, was unseren eigenen Vorstellungen vom Leben entgegensteht, Verhandlungen führen, werden wir merken, dass alles, was in uns auftaucht, einen Sinn hat. Wenn eine Leidenschaft sich in uns breitmacht, dann zeigt es immer, dass wir noch nicht das Bild gelebt haben, das Gott uns zugedacht hat. Vielmehr haben wir uns in ein Bild gepresst, von dem wir meinten, es würde Gott entsprechen. Aber vielleicht hat dieses Bild eher unseren eigenen Ehrgeiz befriedigen wollen, anstatt den Willen Gottes zu erfüllen. Jesus fordert uns also auf, auch mit den inneren Feinden Frieden zu schließen. Sonst würden wir alle unsere Energie nur in Grabenkämpfen aufreiben. Jesus hat mit diesem Gleichnis vorweggenommen, was C. G. Jung das Gespräch mit den eigenen Schattenseiten nennt. Oft begegnet uns im Traum der eigene Schatten als ein Feind, der uns verfolgt. Wenn wir mit ihm sprechen, entpuppt er sich oft als hilfreich. Er möchte uns auf etwas aufmerksam machen, was wir übersehen haben. Er möchte uns eine Waffe in die Hand geben, die wir vergessen hatten. Dieses Bild sollten wir immer vor Augen haben, wenn wir andere in der Seelsorge begleiten.
Die Integration von anima und animus
Für C. G. Jung gibt es keine gelingende Menschwerdung ohne die Integration der männlichen und weiblichen Seelenteile, die er mit animus und anima bezeichnet. Im Lukasevangelium begegnet uns nicht nur Jesus als der integrierte Mann, der in sich anima und animus miteinander verbunden hat. Lukas beschreibt auch unsere Gotteserfahrung immer von der männlichen und weiblichen Seite aus. Lukas liebt es, nach einer Männergeschichte immer auch eine Frauengeschichte zu erzählen. Das beginnt in der Geburtsgeschichte Jesu. Nach der Verkündigung des Engels an den Mann Zacharias hören wir von der Verkündigung an die Frau Maria. Dann erzählt uns Lukas eine wunderbare Frauengeschichte, die Begegnung der beiden schwangeren Frauen Maria und Elisabeth. Als nach der Geburt Maria und Joseph in den Tempel kommen, um das Kind darzustellen, begegnen sie dem greisen Simeon und der Witwe Hanna. Beide nehmen das Kind in die Arme und sprechen zu und über das Kind. Wer Jesus wirklich ist, das verstehen wir erst, wenn wir ihn mit den Augen eines Mannes und zugleich mit den Augen einer Frau betrachten.
Nur der Seelsorger und die Seelsorgerin, die in sich anima und animus integriert haben, werden in der Seelsorge Männer und Frauen ansprechen und berühren können. Die Menschen spüren bei den Seelsorgern, ob sie integrierte Menschen sind oder ob sie ihre nicht integrierten Seelenanteile auf die Männer und Frauen projizieren.
Anregungen zur Verwandlung der Seelsorge
Es sind nur ein paar Anregungen, wie Menschwerdung Gottes in uns geschehen und wie sie unsere Seelsorge verwandeln könnte. Die Gedanken wollen Sie anregen, das Lukasevangelium selber unter diesem Aspekt der Menschwerdung Gottes in uns und einer verwandelten Seelsorge zu meditieren.