Fazit
Durch Gottes Menschwerdung in Jesus Christus hat sich das geschöpfliche Dasein verändert, weil Gottes ewige Selbstaussage an den Menschen in dieser Zeit erschienen ist. Gottes Wesen als Liebe ist offenbar geworden. Zum Hören auf das Wort als dem Gewahrwerden dieser Botschaft gesellt sich die andere Weise, den „Wortcharakter" von unerwarteten Ereignissen, von Zwischenfällen, zu vernehmen und sich von ihm ansprechen zu lassen. Dazu bedarf es des entschiedenen Innehaltens.
Carolin, die immer Einfälle hat und in jede Erstkommunionvorbereitung Bewegung bringt, fragte im Advent, als wir den Adventskranz betrachteten und seine Bedeutung bedachten: „Hat Gott Einfälle?" Ich war überrascht und sprachlos. Ist Gott nicht der in sich selbst Unveränderliche? Wäre er durch neue „Einfälle" nicht veränderlich? Worauf könnten wir sonst bauen? Ich dachte nach. In mir kamen biblische Spuren zum Vorschein: „Als tiefes Schweigen das All umfing und die Nacht bis zur Mitte gelangt war, da sprang dein allmächtiges Wort vom Himmel …" (Weish 18,14-15). Ist nicht solch eine Überraschung Hinweis auf einen göttlichen Einfall? Wie oft wird in der Bibel mit dem (längst nicht immer übersetzten) Ruf „Siehe" Aufmerksamkeit erregt! Da wird dann jeweils etwas präsentiert, was zuvor noch nicht erkannt war, oder es wird angesagt, was kommen wird. So kündigt der Engel etwa Maria an: „ …und siehe, du wirst empfangen im Mutterleib" (Lk 1,31). Ein Engel sagt zu den Hirten auf dem Feld: „Fürchtet euch nicht! Denn siehe, ich verkündige euch große Freude … Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr" (Lk 2,10-11). Das Neue wird verkündigt, damit die Angesprochenen sich einbezogen wissen, sie sollen aufmerken und sich auf den Weg machen, um das Neue mit allen Sinnen erfahren zu können. Nach kurzem Bedenken antwortete ich: „Ja, Carolin, Gott hat Einfälle. Und er lässt sie uns entdecken." Das ist der Grund, warum wir aufatmen dürfen, weshalb wir hoffen können und Weihnachten feiern.
In Annäherungen von Gott sprechen
Wie kommt es dazu, dass wir von Gottes Einfällen sprechen können? Was haben sie mit unserer Hoffnung zu tun? Die christliche Antwort schließt immer ein, dass unser menschliches Erkennen den Raum dessen, was unserer menschlichen Vorstellung zugänglich ist, letztlich nicht überschreiten kann. Doch ist das nicht das Ganze. Es gibt eine andere Bewegung. „Der Wunsch, die Sehnsucht, erkannt zu werden, führt in eine andere Welt." So sagt es der Dichter Heinrich Böll (zitiert nach: Karl-Josef Kuschel, Weil wir uns auf dieser Erde nicht ganz zu Hause fühlen, München 1985, S. 66). Diese Sehnsucht ist auch darauf ausgerichtet, sich selbst auf einen ganz Anderen beziehen zu können. Diese doppelte Bewegung von „erkannt werden" und „erkennen können" schließt die schwierige Erkenntnis ein, dass wir Gott auch dann noch in den Bestimmungen von Zeit und Raum, von Dauer und Anwesenheit denken, wenn die eigenen Vorstellungen und Gedankenwege sich von anderen Anschauungen abgrenzen. Wir können immer nur in Annäherungen von Gott sprechen, denn Gott ist „undenkbar". Das ermutigt freilich, sich ihm - im Wissen darum - immer neu zu nähern - mit den Fragen, die das gegenwärtige Leben aufwirft, die auch Kinder in urtümlicher Vorstellung in sich haben, etwa: Hat Gott Einfälle?
In der langen Geschichte der Christenheit ist es wohl so, dass der Blick auf Gott auch den Blick auf uns Menschen selbst mitbestimmt, und umgekehrt auch: In der Art, wie wir Menschen uns selbst verstehen, ist ein Echo zu vernehmen, wie wir Gott verstehen, in welchem Einklang oder gar Missklang wir mit ihm leben. Gerade wenn Menschen sich selbst als in Schuldzusammenhänge verstrickt und in Zerrissenheiten lebend erfahren haben, fühlten sie sich nicht selten von Gott verlassen oder nicht erwählt oder gar verworfen. Eigene Erfahrungen und Empfindungen werfen dann nicht selten düstere, dunkle Schatten auf das Gottesbild. In der gesamten Heiligen Schrift begegnet Gott jedoch als Liebe, als Huld, als Vergebung, als Erbarmen, als erfinderisch Leitender. Was wäre das auch für eine Liebe, die an der Unfähigkeit von Menschen am Ende wäre und sie vom Heil ausschließen würde?
Gottes Einfall eröffnet einen neuen Weg
Wohl erst im Horizont dieses Einfalls Gottes, in Jesus Christus wirksam seine Entschiedenheit zur Rettung der ganzen Welt kundzutun, kann ein Mensch sich in Freiheit für diesen Gott entscheiden. Erst die Annahme dieser Gnade setzt eine Bewegung in Gang. Diese Gnade „fällt" Gott immer neu ein, und er lässt sie „einfallen", damit wir aufmerken und in einen Horizont geführt werden, der uns weiter sehen lässt, als wir von uns aus sehen. Die christliche Theologie hat einerseits immer an der Unveränderlichkeit Gottes festgehalten und zugleich andererseits von Gottes „Werden" gesprochen. Weihnachten kündet von seinem dialogischen „Werden am Anderen" (Karl Rahner). Wie sollten wir seiner Liebe glauben, wenn sie uns nicht in einem Menschen erfahrbar geworden wäre! Gott hat sich nach der Botschaft des Glaubens selbst dazu bestimmt, ein Wesen zu sein, das geschöpfliche Freiheit gewährt, das auf das freie Ja des Menschen zu seiner menschgewordenen Liebe in Jesus Christus wartet. Indem er seine Zustimmung zu dieser Selbstbestimmung nie zurücknimmt, erweist er sich zugleich als der, der nachsorgend fürsorgend alles zum Guten wenden kann. Er teilt sich als der Unveränderliche dadurch mit, dass dem Menschen in seiner jeweiligen Zeit und in seinem Raum prinzipiell ein Weg sichtbar werden soll und wird, auf dem er Zugang zu Gott in der Spannung von Erkanntwerden und Erkennenkönnen erhält. Gottes „Einfall" bewirkt, dass wir Menschen unsere zwiespältigen und vieldeutigen Erfahrungen in einer solchen Einheit zusammenzuschauen vermögen, dass sie als Weg von Gott her, zu Gott und mit Gott verstehbar werden. Wo immer das geschieht, ist Gottes „Einfall" wirksam, und er wirbt um des Menschen Entdeckung und freie Zustimmung. In diesem Zusammenspiel von göttlichem Einfall und menschlichem Aufmerken ist jenes Geschehen angesiedelt, das die Bibel „Umkehr" nennt, „Heilung auf neuem Weg":
„Aber die Heilung geschieht auf neuem Weg
denn niemals kann Eingang
dasselbe wie Ausgang sein
wo Abschied und Wiederkunft
geschieden sind
durch die unheilbare Wunde des Lebens ..."
(Fahrt ins Staublose. Die Gedichte der Nelly Sachs, Frankfurt 1961, S. 363)
Gottes Einfall verändert alles, vor allem für das Verstehen unseres Lebens. Weihnachten als Gottes Einfall: Er wird Mensch für die Menschen. Da sollen wir nicht darüber hinweggehen, sondern innehalten, den Atem anhalten. Denn es ist Zeitenwende, Lebenswende. Wie wenn die Stunde zwölf geschlagen hat mitten in der Nacht, und der neue Tag ist noch nicht da. Gott hat unser Los geteilt. Er ist einer von uns geworden. Gott steckt in unserer Haut, in unserem Fleisch und Blut. Er ist nicht in eine virtuelle Welt gekommen, nicht in eine Traumwelt, sondern dorthin, wo wir sind. Kann man darüber hinweggehen? Kann da das Herz kalt bleiben? „Aber es gibt keine Flucht vor der unmittelbaren Gotteserfahrung, die in das Herz fällt wie ein greller Blitz und die mit einem Male alles Schreckliche und Schöne der Schöpfung offenbart" (Marie Luise Kaschnitz, Gesammelte Werke Bd. 7, Frankfurt 1989, S. 37)
Zwischenfälle sind Echo von Gottes Einfällen
Vielleicht gibt es eine gewisse Routine im Glauben. Wo man hört (und verkündigt), vielleicht über Jahrzehnte hin. Wie ist es dann mit dem „Wahr"-nehmen von Gottes Einfall? Vielleicht gibt er Echo von sich in den Zwischenfällen unserer Tage. Davon sprechen wir oft. Zwischenfälle kann man als lästige Störungen empfinden. Oder als willkommene Unterbrechungen, die Überraschungen bereiten. Vielleicht hängt es auch von der Art des Zwischenfalls ab. Ich bin überzeugt, dass in den Zwischenfällen zum Vorschein kommt, was im Alltäglichen an Nichtalltäglichem noch verborgen ist. Gott bedient sich der Zwischenfälle, uns den Weg zu sich sichtbar werden zu lassen.
Auf den Kopf gestelltes Leben - ein Zwischenfall
Wenn selbstverständliche Abläufe plötzlich unterbrochen werden, kann sich ein Freiraum zum Nach-denken auftun. Da gibt es Erlebnisse, die uns aufstören. Sie können herauslocken aus dem mitunter dumpfen Einverständnis in das, was üblicherweise der Fall ist. Doch sie zeigen auch, was darunter schlummert und auch normalerweise „der Fall" ist. Zwischenfälle werden oft als Zufälle angesehen. Sie haben jedoch eine besondere Würde, die oft mit einer noch nicht erkannten Herausforderung verbunden ist. Denn sie zeigen, dass der Alltag nicht nur Alltag ist. Hintergründig birgt er das Leben. Er ist der Ort, von dem aus meine ganz persönliche Lebensgeschichte sich entwickeln soll.
Ich erinnere mich an ein unverheiratetes Paar, das sein Kind taufen lassen wollte. In mehreren Gemeinden waren sie mit unterschiedlichen Gründen abgewiesen worden, weil es für die Taufe keinen eigenen Termin geben konnte, weil sie nicht verheiratet waren und so weiter. Allein die Bereitschaft, mit ihnen zu überlegen, öffnete ihnen den Mund, und sie erzählten: Bis zum Tag der Geburt war die Schwangerschaft bestens verlaufen. Doch bei der Geburt, die Mutter war 38 Jahre alt, gab es plötzlich Komplikationen mit dem Kind. Die Atmung setzte aus, und es brauchte dringend Hilfe. Drei Wochen erlebte die Mutter, wie sie in der Klinik mitleidig angeschaut wurde, als ob ihr gesagt würde: Dein Kind ist dem Tod geweiht. Sie konnte dem Kind die Milch bringen, doch vor lauter Schläuchen konnte sie es nicht stillen, und es gab keinen Hautkontakt. Eines Tages befreite sie das Kind von Schläuchen, legte das Kind an die Brust und, so war ihr Empfinden, das Kind schmiegte sich an die Haut und ganz langsam begann es zu trinken. Das Kind lebte - und stabilisierte sich. War im EEG im Kopf zuvor nur ein dunkles Loch zu sehen, so war nach und nach alles normal. Hingebungsvoll haben Mutter und Vater das Kind gepflegt. Beide haben hoch bezahlte Berufe, beide haben ihr Berufsengagement jeweils auf die Hälfte reduziert, damit immer jemand bei dem Kind sein kann. Alles war für sie auf den Kopf gestellt. Sie haben das Kind angenommen, haben die neuen Verhältnisse angenommen. Das Kind hat ihnen einen neuen Weg gezeigt, auch miteinander. Sie setzen die Schwergewichte des Lebens jetzt anders. Was für ein „Einfall" in ihr Leben, und was für ein Weg seit diesem Zwischenfall! Taufe geschieht auf den Tod und die Auferweckung Jesus Christi!
Zwischenfälle können bestürzt machen, weil sie umstürzend sein können. Sie rütteln an etwas, was unumstößlich scheint und bringen es durcheinander. Und dann kommt es doch häufig unvermutet ins Lot. Das kann befreiend sein, das kann schwer sein. Je nachdem. Dass unser Leben ins Lot kommt, daran können wir mittun. Leistung und Planung sind bei weitem nicht alles, was zum Gelingen des Lebens beiträgt. Entscheidend ist, ob wir Sehnsucht, Schmerz wie auch die Freude, aus der heraus wir leben, zulassen und ihnen folgen wie einer Wünschelrute. Denn sie schlägt kräftig aus, wo das Wasser wahren Lebens zu finden ist.
Ein tröstlicher Zwischenfall
Mit einem jungen Mann, dem es nicht gut ging, war ich auf einem Spaziergang. Der Pegel seines Lebensmutes war ziemlich tief gesunken. Stoßweise erzählte er von dem, was sich um ihn herum und vor ihm wie eine unübersteigbare Wand auftürmte und ihn einzuschließen drohte. Sein Kopf hing nach unten, sein Blick richtete sich auf seine Füße. Lange gingen wir schweigend. Ich war ratlos, wie ich mit ihm sprechen sollte. Und dann kommt ein Zwischenfall, den ich wohl nicht vergessen werde: Auf einer geraden, langen Lindenallee löst sich plötzlich ein vielleicht vierjähriges Mädchen von seinen Eltern, die auf der Bank sitzen. Es kommt ein paar Schritte auf uns zu, bleibt stehen und sagt zu meinem Begleiter: „Sieh mal, die Sonne scheint." Seine Ärmchen weisen unsere Blicke über den schattigen Weg hinaus in eine sonnenüberflutete Wiese, so als wollte sie mit dieser Geste sagen. „Ja, seht ihr denn nicht, was das Entscheidende ist? Es gibt nicht nur die Gründe, den Kopf hängen zu lassen!" Was kein Gespräch, kein Mitgehen so hätte in Gang setzen können, das entwickelte sich von diesem Zwischen-Fall an in meinem Begleiter: das Wahrnehmen dessen, was auf die helle Seite des Lebens gehört. Ein kleines Kind, wohl ganz geborgen bei seinen Eltern, bringt Erwachsene auf die Spur des Lebens, zeigt ihnen unbewusst, wo sie ihr Leben halbieren und nur die dunkle Seite gelten lassen. Ein Zwischenfall, der den Weg ganz unerwartet zu einem tröstlichen Weg werden ließ, - Trost, der einfach da ist, ohne Bestellung, ohne Anstrengung, ans Licht gehoben durch einen Zwischenfall. Es gibt eine alte Worterklärung zum lateinischen Wort für Trost, consolatio. Sie besagt, dass die mittlere Silbe von „sol" = Sonne stamme. Trost, trösten wäre dann „Besonnung". Trösten hat etwas mit der Sonne, mit dem Licht der Sonne zu tun. Diese Symbolik ist mit der ersten Geburt Jesu und seiner letzten Geburt im Tod seit je tief verbunden.
In Zwischenfällen auf Gottes Einfälle achten lernen
Wo wir erzählen können, liegen Erfahrungen verborgen. Nicht immer sind es lichte Erfahrungen. Für manche Dunkelheiten, für manche Schmerzen wird es so sein, dass sie einen Weg andeuten, wenn sie wahrgenommen werden. Doch nicht immer ist es so. Denn Gott will nach dem Glaubenszeugnis nicht unsere Schmerzen und Dunkelheiten, er will einen Weg zum Leben für jede und jeden. Dafür lässt er mitunter Anstößiges zu. Auch Jesus ist anstößig, war und ist vielen ein Stein im Weg, den sie beiseite räumen. Und doch: Gerade wo er anstößig wird, weist er vielleicht auf einen unerwarteten Weg.
Zwischenfälle können aus dem geregelten Ablauf herausreißen und machen nachdenklich. Sie können ungehobene Schätze ans Licht heben. Da ist längst etwas da, doch überlagert und bislang unbekannt. Das will befreit werden. Wo es ans Licht kommt, verändert es das Leben. Ein Wunder, wo es geschieht, dass Enge geweitet, Gebundenheit an Schweres gelockert wird. Wenn wir tief drinnen Beruhigung erfahren, wenn der Lebensmut steigt, wenn die Sehnsucht stark wird und der Wunsch, dass alles sich verändert - dann beginnt die Welt sich zu verändern. Die Ahnung wird wach: Gott ist dabei - und die Richtung der Veränderung hat mit ihm zu tun. Denn mitten im Alltag spielt Gott seine Melodie für uns, in die einzuschwingen er uns einlädt. Das sind die wunderbaren Zwischenfälle, die wenig Lärm machen. Hätten wir den siebten Sinn der Aufmerksamen für die Zwischenfälle, hätten wir den Mut, innezuhalten und Unterbrechungen zuzulassen, wir wären Gottes Einfällen sehr nahe. Ob wir uns das, was uns am kostbarsten ist, auch etwas „kosten" lassen - an Zeit und Raum?