Ich erinnere mich gut … es war irgendwann um Weihnachten herum. Ich hatte mich am Nachmittag mit meinem geistlichen Begleiter getroffen und mitten in unser Gespräch stellte er mir die Frage: Weihnachten, Krippe, Geburt, Stall - wer oder was wären Sie denn in diesem Jahr? Maria, Josef, einer der Hirten, einer der Könige? Oder vielleicht der Stall, der Stern, der Esel?
Die Frage hat mich seitdem nicht mehr losgelassen - und ich stelle sie mir immer wieder an Weihnachten neu. Wer bin ich dieses Jahr? Mit wem kann ich mich besonders gut identifizieren? Ist mir Josef besonders nahe, der so fürsorglich Maria und das Kind schützt und die Laterne hält? Bin ich einer der Hirten, die draußen in der Nacht Wache halten? Oder bin ich der Engel, der anderen die frohe Botschaft verkündet? Gut - es gibt auch Jahre, in denen ich mich eher wie der Esel fühle oder der Stall, der sich gar nicht vorstellen kann, dass in ihm Gott zur Welt kommen will … darf ja auch mal sein.
Ja, die Weihnachtsgeschichte ist und bleibt gleich … und wir hören jedes Jahr die gleiche Geschichte. Spannend daran ist, wo und wie ich mich aktuell in diesem Jahr neu in dieser Geschichte „positioniere" - und das sagt eher etwas über mich aus, nicht über diese Geschichte.
Ein Pfarrer sagte einmal leicht stöhnend: „Schon wieder das Gleichnis vom Barmherzigen Vater! Da weiß man ja schon gar nicht mehr, was man dazu predigen soll!" - man kann dann nichts mehr dazu predigen, wenn man sich selbst nicht „bewegt", wenn man selbst und die Geschichte gleich geblieben sind. Und da die Geschichten über zweitausend Jahre gleich geblieben sind, muss man sich schon selbst bewegen, um etwas Neues in der Geschichte zu entdecken. Henri Nouwen hat das meisterhaft an genau dieser Erzählung vom Barmherzigen Vater getan und darüber ein wunderschönes Buch geschrieben - als junger Mann identifizierte er sich mit dem jüngeren Sohn, der aufbricht und das Leben sucht. In der Lebensmitte fragt er sich, ob er nicht vielleicht doch der ältere Sohn gewesen ist, der seine Pflicht getan hat und sich nicht traute, ein Fest zu feiern. Und dann kommt in ihm die Frage auf, ob er, auf sein Lebensende zugehend, nicht vielleicht doch der Vater ist, der beide Söhne liebt und in seinem Haus willkommen heißt.
Die Einladung der alten Texte
Auch die Weihnachtsgeschichte wird erst dann richtig zu leuchten beginnen, wenn wir unseren Platz darin suchen - und ihn hoffentlich finden. Und das quer durch alle Aussageabsichten und theologischen Überlegungen hindurch, manchmal sogar über sie hinweg - nicht weil sie nicht wichtig wären, sondern weil sie es uns manchmal schwer machen, uns in diese uralten, menschlichen Erfahrungen regelrecht „hineinzuschwingen", aus Schwerpunktthema 6 denen heraus Menschen damals diese Geschichten erzählt und weitergegeben haben.
Klar, wir wissen es alle - Lukas solidarisiert sich mit den Armen und zu-kurz-Gekommenen, deswegen Maria, das Magnificat, die Hirten, der Stall. Matthäus will den Messias- Gedanken hervorheben, deswegen die Abstammung über Josef und die drei Weisen aus dem Morgenland. Und Ochs und Esel kommen von Jesaja - und ob die „Herden", die die Hirten hüteten, wirklich Schafe waren, darüber kann man ja auch noch mal trefflich streiten.
Ganz egal … an den meisten Krippen sind irgendwann Ochs und Esel, Schafe und Hirten und die Heiligen Drei Könige friedlich miteinander vereint - und sie scheinen sich eigentlich auch ganz gut zu vertragen. Und vielleicht spricht diese Form der praktizierten Volksfrömmigkeit eine Wahrheit in einer Tiefe an, die sich allen wissenschaftlichen und exegetischen Forschungen entzieht. Ihre Absichten sind bestimmt wichtig und hehr - aber manchmal werde ich das Gefühl nicht los, ob sie nicht eventuell doch dazu benutzt werden, sich die eigentliche Botschaft „vom Hals zu halten".
Aber wirklich leuchten wird die Weihnachtsgeschichte nur dann, wenn wir jedes Jahr neu unseren Platz darin suchen - und ihn hoffentlich finden.
Das Wunder der Heiligen Nacht
Es ist dunkel, als es geschieht. Die Hirten sitzen am Feuer und hüten die Herden, drei weise Männer im fernen Osten beobachten die Sterne. In einem kleinen Stall das funzlige Licht einer Laterne. Nichts deutet auf etwas Außergewöhnliches hin. Eine Nacht, wie sie Menschen seit Jahrtausenden erleben. Die meisten schlafen, einige wachen, andere suchen und forschen.
Und mitten in dieser Nacht geschieht es, mitten in dieser so gewöhnlichen Nacht. Ein Stern leuchtet auf, ein Engel kommt. Ein Stern für die, die suchen, ein Engel für die, die wachen. Und sie brechen auf und gehen los. Sie trauen dem ganz Anderen, dem nicht Alltäglichen. Sie wagen den Aufbruch - trauen ihren Träumen.
Es ist Nacht, als es geschieht. Und auch daran hat sich in zweitausend Jahren wenig geändert. Die Nacht hat ihr eigenes Geheimnis. Vielleicht braucht es das Geheimnis dieser dunklen Stunden, die Stille, die auf das Wesentliche verweist, die Nacht, die alles Bunte und Grelle und Laute wegnimmt. Vielleicht braucht es diese Stunden, in denen die Sehnsucht wachsen kann, in denen man den Pulsschlag der Erde hören kann, ein Teil dieser Erde ist und wird.
Ja, sie sind nicht immer leicht, diese Stunden. Wenn nichts mehr ablenkt, bin ich nur noch auf mich selbst verwiesen. Wenn ich mit nichts mehr beschäftigt bin, muss ich mich mir selbst stellen. Es sind die Stunden, in denen das Leise in mir hörbar wird, das Verborgene sichtbar. Aber es sind auch die Stunden der Sehnsucht und der Träume. Es sind Stunden, in denen das Leben wachsen kann.
Zugegeben - viele Menschen mögen das nicht. Sie haben sich eingerichtet, haben sich abgefunden. Und so verjagen Glühbirnen und Neonröhren das milde Licht der Sterne und des Mondes, Fernsehen und Radio übertönen die leisen Stimmen in mir, ich mache die Nacht zum Tag - damit meine Träume und meine Sehnsucht mich bloß nicht unruhig machen.
Und auch da sind wir in bester Gesellschaft. Die Einwohner von Bethlehem haben das Wunder der Heiligen Nacht glatt verschlafen.
Übrigens: Dieses Wunder ist nicht nur für die Nacht vom 24. auf den 25. Dezember reserviert - es kann in jeder Nacht geschehen, die wir zulassen. Und diese Nacht kann manchmal auch am helllichten Tag sein. Es ist die „Nacht" des Lauschens und Hörens, des nach „innen Schauens". Es ist die Nacht des Wartens und Suchens, es ist die „Nacht meiner Sehnsucht". Es ist die Nacht derer, die wachen, und derer, die suchen.
Und im Dunkel erstrahlt ein helles Licht
Und dann geht plötzlich mitten in diesem Dunkel ein Licht auf - da strahlt ein Stern, da höre ich eine Stimme, da werde ich berührt. Das mag ein Gedanke sein, der mir plötzlich kommt, eine Idee, ein Text, vielleicht ein Lied. Unscharf vielleicht, undeutlich noch - und doch: es ist da. Und es geht nicht mehr weg. Es nistet sich ein, so wie ein kleines Samenkorn, das in die Erde gelegt wird. Und dann fängt es an, Wurzeln zu schlagen, kleine Fäden, die sich ins Erdreich hinein tasten, kräftiger werden.
Etwas kommt zur Welt, wird neu lebendig - und ich mache mich auf den Weg, um das Neue, das Andere zu suchen und zu finden. Ich wage den Aufbruch, ich gehe los.
Ja, manchmal peilen wir dann die falsche Adresse, den falschen Ort an. Wir suchen da, wo man erst mal suchen würde - so wie die drei weisen Männer. Klar, einen neugeborenen König sucht man am Königshof. Aber dort, wo man „es" auf den ersten Blick vermuten würde, da ist „es" nicht. „Es" ist nicht da, wo Geld und Macht ist, nicht auf der scheinbaren Sonnenseite des Lebens, nicht in dem, was uns von Werbung und Zeitschriften und Fernsehen als Leben verkauft wird. Die drei weisen Männer müssen weiterziehen. Und getrieben von ihrer Sehnsucht, ihrer Hoffnung, ihren Träumen, gehen sie weiter - und landen in einem Stall, bei den Ärmsten der Armen …
Die Hirten bei den Herden, wachend, ihren Dienst tuend. Tagelöhner wahrscheinlich, die von anderen, die so reich sind, dass sie Herden haben, dafür bezahlt werden, dass sie nachts darauf aufpassen. Man muss es gar nicht romantisch verklären - es ist kein leichter Job. Man wacht, wenn andere schlafen - man schläft, wenn andere wach sind, die beste Voraussetzung, um soziale Kontakte zu verlieren. Man behütet das Eigentum anderer - und hat selbst nichts, was zu bewachen wäre. Man wäre selbst gern reich - und muss doch zufrieden sein, wenn es zum Leben reicht. Und die Nacht ist kalt und rau - draußen auf dem freien Feld. Und genau zu denen, von denen keiner was will, die niemanden groß interessieren, kommt ein Engel, ein Bote Gottes. Und der will was, aber der will nichts von ihnen - der will etwas für sie. Der hat eine Frohe Botschaft, die in dieser Nacht zur Welt kommt, die Hand und Fuß bekommt.
Sie treffen sich dort, die Hirten und die Könige, bei dem kleinen Kind, von dem dieser Zauber ausgeht, bei dem Kind, das alles verwandelt. Und fast ist es schon egal, ob es wirklich ein Stall war, wo sich das ereignet hat (Lukas spricht immer nur von einer „Krippe") oder ein Haus in Bethlehem … und eigentlich ist es auch gar nicht so wichtig.
Wichtig ist, dass die Hoffnung zur Welt kommt - sich so klein macht, dass sie in unser Leben hineinpasst (denn eigentlich ist sie ja so unsagbar viel größer!!) - und dass damit etwas ganz Neues beginnt. Dass denen, die wach sind, ein Engel erscheint - und denen, die suchen, ein Stern leuchtet.
Und das, zugegeben, die meisten all das genau verschlafen. Auch das wird mir erst heute Abend klar: Niemand bekommt einen Auftrag, die schlafenden Einwohner Bethlehems aufzuwecken, da veranstalten keine Engel irgendein Trompetenkonzert, da wird kein Event daraus gemacht, und auch die Presse und das Fernsehen waren wohl nicht vor Ort. Die Geburt Jesu, die Geburt unserer Hoffnung, ist eindeutig keine Massenveranstaltung. Man hätte ja nun wirklich mehr draus machen können … aber das war wohl nicht gefragt. Das Geheimnis kann dort Wirklichkeit werden, wo Menschen suchen, fragen, hören. Wo Menschen in die Nacht hinein lauschen, wachen und suchen. Dann leuchtet ein Stern, dann berührt ein Engel …
"... heim in ihr Land" (Mt 2,12)
Sie kamen als Könige, sie kamen als Hirten - und sie kehren verwandelt zurück. Nach dieser Erfahrung ist nichts mehr so, wie es mal war.
Ja, sie mögen versucht haben, von dieser Erfahrung zu erzählen - wahrscheinlich eher stammelnd, stotternd. Sie waren die allerersten Zeugen … , die allerersten, die bis dahin nicht irgendwie persönlich involviert waren. Sie kamen als Fremde, und mag sein, sie gehen als Staunende, Verwirrte, Erfüllte, Überraschte, …
Sie kamen als Hirten - und gingen als Könige - weil dieses Kind ihnen ihre königliche Würde zurückgegeben hat, ihre Würde als Mensch.
Vielleicht auch: Sie kamen als Könige - und gingen als Hirten - weil das Kind ihnen bewusst gemacht hat, dass ihre Talente und Gaben etwas sind, was sie weiterzugeben haben. Reichtum ist nicht für mich selbst da - sondern ist mir dazu gegeben, dass ich es mit anderen teile.
Das ist das Geheimnis der heiligen Nacht. Sie verwandelt … sie macht Hirten zu Königen und Könige zu Hirten. Ich komme als Hirte und gehe als König. Und mag sein, dass ich als König komme - und als Hirte gehe. Und genau deshalb gehören alle miteinander dazu, Hirten und Könige - auch wenn Lukas und Matthäus eigentlich etwas ganz Verschiedenes ausdrücken wollen.
Und deshalb kann es gut sein, dass ich in diesem Jahr die Heiligen Drei Könige schon am Weihnachtsabend zu den Hirten und der Heiligen Familie dazu stelle ... auch wenn sie eigentlich erst ein paar Tage später „ankommen"…
Sie gehören dazu … jetzt schon …
PS: Ich bin sehr gespannt, ob die schlafenden Bewohner von Bethlehem es merken und uns fragen werden - siehe 1 Petr 3,15.