Fazit
Die Feier dessen, was uns fehlt, macht den Glanz von Weihnachten und zugleich unseres Lebens und Glaubens aus: Der Gott aus der Ferne schafft Nähe mit seiner unerhörten Botschaft. Sie ist sichtbar im Kind in der Krippe. Die Hirten erfahren diese Spannung und leben darin auf. Wie sollten wir der an Weihnachten offenbar gewordenen unbedingten Liebe Gottes auch glauben, wenn wir sie nicht in dem Mensch gewordenen Gottessohn erfahren könnten? Wie sollten wir unsere eigene Gebrochenheit je annehmen, wenn wir nicht umfangen wären von der weihnachtlichen Botschaft? Wie sollten wir je auf den Weg der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit gehen, wenn nicht die Krippe der Kontrapunkt der Hoffnung zu den großen Gefährdungen der Menschheit, die in Ungerechtigkeit, Hass und Terror ihren Ausdruck finden, wäre?
Das „Hodie - heute" durchzieht die Feier von Weihnachten. In den Eröffnungsversen der verschiedenen Eucharistiefeiern am Heiligen Abend, in der Nacht, in der Morgenfrühe und am Tag begegnet es wie auch in den Rufen vor den Tagesevangelien so: „Heute sollt ihr es erfahren…"; „Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt."; „Heute ist uns der Retter geboren."; „Ein Licht strahlt heute über uns auf."; „Ein großes Licht ist heute auf Erden erschienen." Damit wird verdichtet, was - über die Feier hinaus - das „Heute Gottes" in der Wirklichkeit des Hier und Jetzt zutiefst ausmacht. Die feiernde Gemeinde wird in die Aktualisierung des Gefeierten hineingeholt, sie ist einbezogen. Was gefeiert wird, geht sie unbedingt an, hier und heute. So sollen die Menschen aus dieser Feier gewandelt weitergehen. In Spannung zum „Heute" steht das andere Motiv des „Jahr für Jahr", das eher an einen Kreis denken lässt, der immer wieder an denselben Punkt geführt wird. Zwei Zeitanschauungen durchdringen sich hier, Kreisförmigkeit und Linearität. Vielleicht lassen sie sich verbinden im Bild des rollenden Rades, das seine Mitte hat und behält - und doch in Bewegung ist und eine Richtung hat, ohne seine Mitte zu verlieren. Die Zeit hat einen Dreh- und Angelpunkt und ist mit einer Richtung versehen. Sie nimmt das Heute auf und ist im Weg mit seinem Ziel, „bis wir im Himmel den unverhüllten Glanz deiner Herrlichkeit schauen" (Tagesgebet in der Heiligen Nacht).
Die ersten Adressaten der Weihnachtsbotschaft
Was stand denn am Anfang von Weihnachten? Wer waren die ersten Adressaten der Weihnachtsbotschaft? Wie war es mit ihnen, und was lässt sich an ihnen für uns entdecken? Eine Antwort auf diese Fragen könnte uns weiterhelfen, Weihnachten in den Alltag hineinzunehmen, ja dieses Hochfest alltäglich zu feiern.
Die ersten, die die Weihnachtsbotschaft gehört haben, waren die Hirten. Von ihnen heißt es: „In jener Gegend lagerten Hirten auf freiem Feld und hielten Nachtwache bei ihrer Herde" (Lk 2,8). Wie oft haben wir das gehört! Es ist ja eine eigene Situation für die Hirten. Diese Nacht ist von Verlorenheit geprägt für die kleine Gruppe von Menschen - im Angesicht des unendlichen Universums. Sie sind ganz auf sich allein gestellt. Ob diese Situation geeignet ist, die Hirten bereit, empfänglich, ja hörsam zu machen, ob Neues kommt?
Für die Hirten gab es keine lange Vorbereitungszeit auf Weihnachten, wie wir das Fest kennen. Oder doch? Sie hielten „Nachtwache bei ihrer Herde". Alltäglicher Dienst. In manchen Berufen gibt es den Nachtdienst oder die Nachtwache. Manche, die davon betroffen sind, erzählen, wie die Sinne aufmerksamer werden können - die Augen, die Ohren. Mitunter gibt es die Ahnung, wann etwas geschieht, wann der Notruf ergeht. In der Nachtwache ist man ganz auf sich gestellt, ähnlich wie die Hirten. Man spürt wie einen ziehenden Schmerz, der Hilfe, des Beistandes, ja der Zugehörigkeit zu anderen leibhaftig zu bedürfen. Auch Eltern kennen das, wenn sie bei einem kranken Kind wachen. So gibt es ein Ausgespanntsein, in dem die Sehnsucht sich sammelt - auch nach Jahren der Nachtwache noch. Nebenbedürfnisse spielen kaum eine Rolle. Wie mag mitunter das Gefühl der Einsamkeit zehren, nicht unter dem eigenen Dach zu sein - und müde machen. Und doch: In solch einer Situation hat eine Botschaft Chancen!
Es heißt dazu: Die Hirten „lagern auf freiem Feld". Dieser Ort ist von Belang. Betlehem liegt vor den Toren der Stadt Jerusalem und am Rand der Wüste. Immer schon ist an diesem Ort etwas geschehen (vgl. Gen 35, 19; Rut 1-4; 1 Sam 16-20; 2 Sam 23, 13- 17; 2 Chr 11,6; Jer 42, 19; 2 Sam 7; Mi 5, 1). Wer auf freiem Feld ist, dazu noch zur Wüste hin, kann sich nicht abschotten. Die Hirten sind ausgesetzt, weit weg von ihrer schützenden Behausung. Sie leben nicht in heiler Welt. Sie sind außen vor - und als Wachende doch ganz bei sich. Es wird sich zeigen, ob diese Dürftigkeit der Nacht sie weckt für die Bedürftigkeit des Kindes.
Der Gott aus der Ferne schafft Nähe
Dadurch, dass die Hirten auf freiem Feld Nachtwache halten, ist geradezu die existentielle Voraussetzung geschaffen, dass von Gott her eine neue Botschaft wahrgenommen werden kann. Denn so ist es immer wieder in der Geschichte Gottes mit seinem Volk, in der Heilsgeschichte der Bibel: Gott kommt von draußen - und von draußen her schafft er, der Ferne, Nähe, umstürzende Nähe. Er verändert unser Leben, seit damals:
- So tut es Gott vom Sinai her. Er kommt von der Wüste zu Mose, der über die Steppe hinaus gegangen war, der sein Weidegebiet überschritten hat (vgl. Ex 3, 1). Damit wird der Alltag überschritten - wie in der Nachtwache. Gott lässt damals den Mose Außergewöhnliches sehen, den brennenden Dornbusch.
- Das Wort und die Weisung für das Gottesvolk entstehen von außen, als das Volk noch in der Wüste unterwegs ist. Sie erweisen sich dann als kraftvoll, wenn der Mensch verspürt, dass er sie nicht autonom von sich ableiten kann. In diesem seinem Wort schenkt und schafft Gott orientierendes Geleit und Nähe und verhindert die schlimmste Sklaverei: den Götzendienst, den selbstentworfenen Gott, der das Leben ungeläutert beherrschen kann.
- Der Gott vom Sinai verändert und bestimmt die im Tempel von Jerusalem praktizierte Religion grundlegend. Der im Zelt mit Israel mitgehende Gott wohnt zwar jetzt im Tempel, doch er lässt sich nicht dingfest machen (vgl. 1 Kön 8, 27-30).
- Die Schöpfung entsteht, weil Gott es will und er sie erschafft. Er ist ihr Gegenüber. Er ist auch ihr Prinzip und Fundament, und er ist ihr Anfang (vgl. Gen 1, 1).
- Maria erfährt durch den Engel Neues über sich. Sie hört etwas, was sie von sich aus gar nicht wissen kann. Was sie zu hören bekommt, ist atemberaubend. Vom Engel, dem Boten Gottes, wird sie angesprochen: „Sei gegrüßt, Begnadete, der Herr ist mit dir" (Lk 1,28). Hier wird ihr Leben auf den Kopf gestellt, weil sie dieses „Wissen" von sich nicht aus sich selbst haben kann. Es lässt sie „aufstehen" (Lk 1,39).
- Schließlich, im Tod Jesu vor den Toren der Stadt (vgl. Hebr 13, 12- 14) kommt ins Bild, dass Gott unerwartet Neues beginnt, dass er noch aus dem Tod Leben schafft, dass er menschliche Vorstellung bei weitem übersteigt, dass er aus scheinbar unüberbrückbarer Ferne im Tod noch Nähe schafft, dass er eine unerwartete Brücke baut.
Und jetzt, auf freiem Feld, am Rande der Wüste, in der finstersten Nacht kommt Gott zu der kleinen Schar der Hirten. Hier schafft er Licht und Nähe. Jenes Licht, das die Finsternis der Welt zum Tag erhellt und ihre Rettung anbrechen lässt. Jene Nähe, die unbesiegbar sich den Menschen in ihrem Empfinden von Verlorenheit zusagt. Die scheinbar nebensächliche Notiz von den Umständen der Hirten bereitet vor, dass sich in dieser Nacht die Zeit unter dem Lichtstrahl der Offenbarung zu einem einzigen Augenblick zusammenzieht, in dem der ganzen Welt Heil zugesagt ist. Hier erweist sich „Gottes Treue … (als) … die Unbegreiflichkeit seiner alles durchdringenden Nähe" (Karl Rahner).
Feiern, was uns fehlt
Die Hirten werden dessen in Furcht und Staunen inne. Das Ausmaß der unerhörten Botschaft kennen sie nicht. Doch stillschweigend wissen sie, dass sie in dieser Begegnung mit etwas in Kontakt kommen, das nicht in ihnen selbst, nicht in ihren Möglichkeiten, ja nicht einmal in ihrer Sehnsucht aufgeht, sondern sie und all das Ihre weit übersteigt. Von ihnen gibt es entsprechend kein Wort zur Botschaft, keinen Kommentar, keine Frage, sondern einzig das, was aus dem Überwältigtsein folgen kann: „Kommt, wir gehen nach Betlehem, um das Ereignis zu sehen, das uns der Herr verkünden ließ" (Lk 2,15). Die Hirten zeigen: Weihnachten feiern heißt: feiern, was uns fehlt. Sie haben die Botschaft angenommen und sehen sie nicht; sie bleiben in der Spannung dessen, was ihnen unverbrüchlich zugesagt ist und was sie zugleich entbehren. Deswegen machen sie sich auf den Weg. Zutiefst wissen sie, dass sich das Gehörte brüchig zeigt, dass es ihnen aus den Händen gleitet, wenn sie es dingfest machen wollen: Geborgenheit, Friede, Liebe, Vertrauen, Glaube, Sinn. Wie unerhört muss die Botschaft sein, dass sie nicht den Eindruck haben, davon zu wenig zu erfahren, so dass sie am Ganzen Zweifel bekommen und müde werden.
Die Botschaft, die zu ihnen kommt, wird in Bildern als dichte Wahrheit vermittelt. Engel bringen die Botschaft vom neuen Leben, von außen kommen sie. Sie überbrücken die Ferne Gottes, die zur Nähe wird. „Glanz des Herrn" umstrahlt die Hirten. Sie sehen ihr Leben neu. Sie bekommen gezeigt, was noch niemand gesehen und gehört hat (vgl. 1 Kor 2, 9). Die Furcht, die die Hirten überfällt, ist Hinweis darauf, dass sie nichts erfunden oder genommen haben, sondern dass sie bereit sind, Neues zu empfangen von außen, von Gott her, und dass sie darauf mit ihrem Leben Antwort geben wollen. Ihre Sehnsucht gibt sich nicht mit weniger zufrieden als mit der Botschaft von Gott selbst. Dann erst wird die Botschaft verkündet, - die Kunde, durch die sie selbst Kundige werden: Nicht etwa der mächtige Kaiser in Rom, der ja als der eingeführt ist, der von allen Bewohnern Steuern eintreiben lässt (Lk 2,1), wird die Welt retten, sondern das in Betlehem geborene Kind in der Krippe, ist der Retter aller. Gott macht sich klein in einem Kind. „Nicht umschlossen werden vom Größten, sich umschließen lassen vom Kleinsten, das ist göttlich" (Joseph Ratzinger). Diesen Weg lassen sich die Hirten zeigen - und führen.
Alle menschliche Vorstellung von Gott wird durch die Erfahrung von Weihnachten überholt, durch dieses Zeichen - das Kind in der Krippe. Gott, der Ferne, schafft hier Nähe. Und auch für dieses Kind war kein Platz in der Herberge dieser Welt (vgl. Lk 2,7; 9,57), es wird in einem Stall geboren. Im Grenzbereich zur Wüste, im Draußen, von wo Gott zu uns kommt. So rettet er. Der andere, der fremde und freie Gott, ja der abwesende Gott wird in dieser Nacht in der Welt auf neue Weise anwesend. Auf ihrem Weg erfahren die Hirten den Retter nicht. Erst in der Ankunft beim Kind erfahren sie seine Anwesenheit - im Anderssein zu ihren eigenen Vorstellungen. So werden sie zum Geheimnis Gottes hingeführt und „rühmen und preisen ihn für das, was sie gehört und gesehen hatten" (Lk 2,20).
Spuren zum andauernden Fest
Wie kommen denn die Hirten in Weihnachten hinein? Welche Brücke in das alltägliche Weihnachten können sie uns heute zeigen? Vielleicht können wir mit ihnen gehen und entdecken, was ihnen offenbar wird.
- Was sie gehört haben, leitet sie auf den Weg, in Gottes Bewegung der zuvorkommenden Güte einzutreten. Sie glauben seinem Leben begründenden Interesse am Menschen. Diese Botschaft, die sie nicht selber erfinden konnten, die sie in Furcht und Staunen versetzt, tragen die Hirten weiter zu den Eltern des Kindes. Sie eröffnen ihnen die Botschaft des sichtbaren Ereignisses. Eigenartig: Die gehört haben und dann erst sehen, gehen zu denen, die sehen und noch nicht gehört haben. Im Angesicht des Kindes bewahrheitet sich, was die einen hören und dann erst sehen, und was die anderen sehen und dann erst hören. Immer fehlt etwas. Wo es mit dem zusammenkommt, was die anderen erfahren, zeigt sich der Retter. Die Antwort ist das Gebet, indem sie Gott rühmen und preisen. So kehren sie als Andersgewordene zurück.
- Die Verschränkung von Nacht und aufstrahlendem Licht offenbart die abgründige Verlorenheit, wenn der Mensch nur auf sich allein gestellt ist. Insofern ist die einzelne menschliche Biographie immer von Gebrochenheit geprägt. In der Begegnung mit dem fremden Anderen, dem Licht, finde ich, meine Gebrochenheit eingeschlossen, zu mir selbst. Dann lässt sich diese Gebrochenheit eher tragen - und gestalten. Da durchdringen sich Biographie und Glaubensgeschichte. Diese Gestaltung wird im Gehen, im Aufbruch aus der Kraft des himmlischen Wortes ansichtig. Die menschliche Sehnsucht streckt sich weit aus. Die Botschaft von Gott übersteigt, erfüllt und kräftigt sie. Das Staunen darüber bedarf dann des konkreten Schrittes, des Dienstes. Wo kein Friede für Menschen auf Erden ist, wie mühsam auch immer errungen, da ist auch keine Ehre für Gott in der Höhe.
- In der Nacht sind die Hirten zum Glauben gekommen, im Licht der Nacht leben sie den Glauben, und zwar an dem Ort, an dem sie bisher gelebt haben. Denn dahin kehren sie zurück (vgl. Lk 2,20). In der Spur des Menschgewordenen brechen sie als Andersgewordene erneut auf. Sie haben sich gefunden, indem sie der Botschaft, die von außen gekommen ist, glauben - aus Hören und Sehen. Sie entsprechen der Botschaft. Auch so lässt sich die Entsprechungsformel deuten: „…denn alles war so gewesen, wie es ihnen gesagt worden war" (Lk 2,20). Die Krippe zeigt: Wir feiern, was uns fehlt: Gerechtigkeit, Zuwendung, Stärkung zum Leben. Auf diesen Weg, der seinen unverrückbaren Ausgangspunkt hat, fragt die Krippe die Hirten und uns, wissend, dass das Kind in der Krippe einmal der Gekreuzigte sein wird - um des neuen Himmels und der neuen Erde willen.