Ein neuer Blickwinkel, um Erde und Himmel zusammenzuhaltenWeihnachtlich leben

Tiefe und alte Verlegenheiten verbinden sich mit dem Weihnachtsfest. Einerseits wird die Geburt Jesu Christi in der Weise gedeutet, dass im irdischen Erscheinen Gottes die Verklärung der Welt gesehen wird. Mit der Menschwerdung Gottes ist demnach schon der Sieg über Leid und Tod gegeben. Andererseits werden Kreuz und Krippe, die fremde Herberge und der Stall dagegen gesetzt. Die Geburt des Herrn ist der Anfang seines Kreuzweges. Beide Weisen haben ihren wahren Kern und ihre Gefahr: Die Verklärung der Menschwerdung kann den Menschen Jesus und seine Menschlichkeit verzehren, so dass ein liebliches, idyllisches Fest übrig bleibt. Die Beschränkung auf Krippe und Kreuz lässt fragen, warum dieser Weg Jesu die Welt aus den Angeln heben soll. Bei der Suche nach dem rechten Anfang, über Weihnachten und weihnachtliches Leben zu sprechen, ist der Beginn die Heilige Schrift. Denn erst die Boten Gottes eröffnen uns die erneuerte Wirklichkeit.

Ich hatte das Gefühl: Alles ist gut. Die Welt nimmt ihren Lauf. Die Sonne scheint weiter. Ich fühle mich geerdet.“ So fasst eine Teilnehmerin am weltweiten Kunst- Projekt „Silent Sky Project“ ihre Erfahrungen zusammen. Die Performance des niederländischen Künstlers Rob Sweere, die auch am Flughafen Münster-Osnabrück im Juni 2012 stattfand, will einen neuen Blickwinkel eröffnen: den Blick in den Himmel. Dabei zeigt sich: Der Himmel ist größer als der Flecken Erde, auf dem man liegt. Er wölbt sich auch über Landesgrenzen und Grundstücke hinweg. Wenn Menschen auf dem Erdboden liegend gemeinsam in den Himmel schauen, erfahren sie im Schauen und Schweigen neu ihren Zusammenhalt unter dem Himmel und fühlen sich intensiv geerdet. So wird der Blick in den Himmel ein Herzensprojekt, ein Lebensprojekt. 

Wie könnten wir denn auch den Himmel sehen, wenn wir nicht den Erdboden be-stehen könnten? Wie könnten wir dann leben? Wir bedürfen eines festen Bodens als Grundlage. Sonst hätten wir keinen Stand und es gäbe keinen Weg. Was macht die Verlässlichkeit eines Bodens aus? Neben der Festigkeit braucht es die Einbindung des Standortes in ein System von Hinweisen und Wegen. Andernfalls entstünde Ratlosigkeit, woher der Weg denn kommt und wohin er führt. Ein fester Stand eröffnet die Möglichkeit, in die Ferne und in den Himmel zu schauen. Der feste Stand auf dem Boden mit dem Blick in den Himmel lässt die Spannung von Erde und Himmel gewahr werden. Jeder hat so viel Himmel über sich, wie Erde unter den eigenen Füßen. Damit ist die Spannung des Lebens aufgebaut. 

Wie können wir das Leben zwischen Erde und Himmel bestehen? Die gründlichste und entscheidende Antwort auf diese Frage gibt uns das Weihnachtsfest: Gott wird Mensch! Gott kommt zur Welt! Das ist unbegreiflich. Gott ist so frei und geht dorthin, wo wir sind. Er offenbart sich in ganz unvermuteter und geradezu gegensätzlicher Gestalt: das Kind in der Krippe - der Retter, Christus, der Herr! Es ist die Botschaft, die allein der Engel sagen kann. Denn man sieht es dem Ereignis nicht an, dass es dem ganzen Volk eine ungewöhnliche Freude bereiten soll. 

Unwiderrufliche Verbindung von Himmel und Erde 

Zugleich bedeutet diese himmlische Botschaft, dass sie nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist. Mit ihr ist die Erde mit dem Himmel verbunden: Ehre Gott - Friede den Menschen! Eine uns verschlossene Welt ist geöffnet, eine Brücke ist zwischen Himmel und Erde geschlagen, die wir von uns aus nicht bauen könnten. Dabei bleibt der Himmel der Himmel und die Erde bleibt die Erde. Doch sie sind unwiderruflich verbunden. 

Der neue Blickwinkel von Weihnachten verweist uns darauf, Erde und Himmel in unserem Leben zusammenzuhalten. Dieses weihnachtliche Uranliegen betrifft unser eigenes Leben. Um es wach zu halten, bedarf es einer „schmutzigen“ Spiritualität (Rolf-Walter Becker), einer geerdeten Spiritualität, die sich einlässt auf die konkreten Lebensbedingungen. Sie lässt sich keinen störungsfreien Platz vorbereiten, vielmehr kommt sie da an, wo man gerade hingestellt wird und unter den Bedingungen, die an diesem Ort vorgefunden werden. Denn auch Jesus selbst wurde an keinen störungsfreien Platz gestellt. Er erfährt von der Krippe bis zum Kreuz die Schikanen und die hinterhältigen Fallen der Menschen. Er leidet an der Härte der Menschen, auch am eigenen Ringen um seinen Weg wie an den Krankheiten seiner Mitmenschen und an der Verachtung, die verschiedene Menschengruppen seiner Zeit hinnehmen müssen. Die „schmutzige“ Spiritualität ist die Basis dafür, weihnachtlich zu leben. Sie nimmt Maß an dem, der in diese Welt gekommen ist, an Gott, der Mensch geworden ist. Entschieden wehrt sie den möglichen Abkürzungen, entweder nicht das Leben auf dem Erdboden zu bestehen oder bestehen zu wollen und nur auf den Himmel zu achten, oder nicht den Himmel zu beachten und nur auf der Erde zu stehen. Wie könnte sich also eine weihnachtliche Spiritualität zeigen, die Himmel und Erde zusammenhält? 

Gott und Mensch zusammenbringen 

Bei der Suche nach biblischen Anhaltspunkten finden sich Töne, die aufs erste Hören irritieren, weil sie offensichtlich nicht zusammenklingen. Bei näherer Betrachtung zeigen sie jedoch den neuen Blickwinkel. 

Im Prolog des Johannesevangeliums (Joh 1, 1-18) tritt ganz unvermittelt Johannes der Täufer auf. Das Evangelium beginnt feierlich, es wählt einen Vorspann, der hohe theologische Bedeutung hat, weil er die Gottheit Christi betont. Mitten darin begegnet mit Johannes dem Täufer eine konkrete historische Person. In der hymnischen Sprache läuft alles auf Jesus zu, er ist der Inbegriff von Licht und Leben für den Menschen. Er ist der menschgewordene Gott, der vom Vater erhöht und verherrlicht wird. In ihm zeigt sich, dass alles dem Plan Gottes entspricht und in ihm verwurzelt ist und so alles seinen unverwechselbaren Ort im Leben hat. In diese große Linie der ganzen Schöpfung wird die kleine Linie „Johannes der Täufer“ (Joh 1,6) eingezogen. Denn der Glaube der Christen beruht auf konkreten historischen Gestalten wie dem Täufer und Jesus von Nazareth selbst. Johannes hat seinen Ort in der Wüste, er lebt in Kargheit, er redet derb. Er ist eine herausragende Person, die uns zeigt: Wenn es das Damals und Dort nicht gegeben hätte, gäbe es auch das Hier und Heute des Glaubens nicht, in dem der Inbegriff von Licht und Leben für uns Menschen, Christus Jesus, erfahrbar werden könnte. Johannes der Täufer fordert als konkreter Mensch mit seiner ganz konkreten Geschichte heraus, sich immer neu zu dem Gott hinzukehren, der sich seinerseits zu konkreten Menschen und Situationen hinwendet, der die Welt trägt und vollendet und in dem sich also Himmel und Erde begegnen. Die Spannung von göttlicher Wahrheit und konkretem menschlichen Leben wird an Johannes sichtbar und fordert uns heraus, sie zusammenzuhalten. 

Weihnachtlich leben bedeutet wegen der Erdung auch: mit Störungen leben. Wiederum im Prolog des Johannesevangeliums lässt sich eine weitere Spannung entdecken: „Das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst“ (Joh 1,5). Später heißt es, dass die Menschen das Licht nicht erkannt haben. Es bleibt offen, wer die sind, die das Licht und das Wort nicht angenommen haben (vgl. Joh 1,10). Vielleicht lässt das Evangelium die Antwort bewusst offen, damit alle, die diese Worte hören, sich selbst fragen, ob nicht sie selber zur Finsternis gehören, die das Licht nicht zulassen kann. Oder noch pointierter: Ob nicht sie selbst zu seinem „Eigentum“ gehören, die dieses Licht gar nicht haben wollen (vgl. Joh 1,11). 

Diese Linie wird im Evangelium weiter aufgenommen, wenn Jesu Wirksamkeit in Galiläa, Samaria und Jerusalem sowie sein Tod und seine Auferweckung in einer zusammenhängenden Gestalt entfaltet werden. Im Glauben an Jesus Christus als Messias und Gottessohn, den endzeitlichen Heilbringer und Offenbarer Gottes, gewinnt der Mensch „das Leben“. Doch wird dieser Glaube über viele Stationen hin errungen, bis er die Gestalt erreicht, die mit Maria von Magdala ihn als Auferweckten „dastehen“ sieht in der Nähe des Grabes, dem Inbegriff der bloßen Erde (vgl. Joh 20,14). Licht und Finsternis sind nicht nur im Leben Einzelner gegenwärtig und in Konkurrenz, sie sind es auch in der globalen Situa- tion, wie die vielen Kriege und verdeckten Auseinandersetzungen erweisen. Es gibt so viele Situationen, in denen Licht nicht erkennbar wird und nicht vorkommt. 

Eine weitere Differenz tritt weihnachtlich entgegen: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“ (Joh 1,14). Hier ist das Ereignis genannt, auf das sich alles andere bezieht: die Wirklichkeit, in der das göttliche „Im Anfang“ sich als irdisch-geschichtliche Tatsache in einem konkreten Menschen namens Jesus zeigt. Es ist alles andere als eine harmlose Aussage. Kaum ein größerer Gegensatz als der zwischen Gott und Mensch lässt sich vorstellen. Doch ist das Entscheidende: Dieser Gott, der Ewige, der Erhabene, der Unfassbare, der Gott der Geschichte - er ist konkret und uns nahe geworden. In Jesus Christus wird er geschichtlich fassbar, angreifbar. In seinem „Fleisch“ wird die „Herrlichkeit Gottes“ in seiner von Menschen erfahrbaren Wirkweise geschaut (vgl. Joh 1,14). Jesus ist so eine biographische Auslegung des einzigen Gottes, und zwar des schöpferisch wirkmächtigen und barmherzig rettenden Gottes, den das Alte Testament bezeugt. Er hat „Gott ausgelegt“ (Joh 1,18). Wir stehen vor einem Gott, der in seiner Solidarität mit dieser verletzlichen Welt und mit uns verletzlichen Menschen selbst verletzlich geworden ist. Sein Abstieg geht so weit, dass er unter uns sein „Zelt aufgeschlagen“ hat (Joh 1,14). Das meint sein Geerdetsein. Im Zelt schläft man nicht auf weichen Kissen. Freilich deutet das Zelt auch auf eine begrenzte Zeit hin. Die leibhafte Präsenz des Wortes Gottes in der Welt schließt mit den Erscheinungen des Auferstandenen und bedarf seitdem der Zeugen, die davon künden. 

Der Prolog des Johannesevangeliums will Gott und Menschen in ihrer scheinbar unüberbrückbaren Gegensätzlichkeit zusammenbringen. Die Weise dieses Zusammenbringens ist die „Liebe“, die in denen ankommt, die sich auf das Wagnis einlassen, Erde und Himmel zusammenzuhalten - auf dieser Erde, auf der Jesus Christus gelebt hat und in seiner Spur. Diese Liebe kennt viele Ausprägungen. Wie können sie ins Leben getragen werden? 

Beten mit offenen Augen als erste Weise des Zusammenbringens 

Eine Weise ist die, die schon der Beginn des Advents intoniert, um weihnachtlich leben zu können: Die Liturgie nimmt die Spannung auf und lässt sich auf sie ein, indem schon der Eröffnungsvers zum 1. Advent als Zielpunkt JHWH, den einen Gott, für alle, die in Erdennot sind, wählt: „Zu dir, JHWH, erhebe ich meine Seele. Mein Gott, dir vertraue ich“ (Ps 25,1). Als ein Armer Gottes helfendes Dasein auf der Erde zu erfahren, darauf zielt dieser Bittruf. Die gebrochene Existenz möchte sich mit der Lebensgabe Gottes verbinden, der Beter will seine Existenz Gott übereignen und zu einem Zeugen dieses Gottes und der Zusammengehörigkeit von Himmel und Erde werden. Denn der Gottesname JHWH - „Ich will bei euch da sein als welcher ich bei euch da sein will“ (Ex 3,14), der hier ausdrücklich angerufen wird, hält ja fest, dass Gott aus freier Zuwendung mit Israel zu tun haben will. Seine Zusage schließt in der Deutung diese Aspekte ein: „Wo es auch sei, wann es auch sei, wie es auch sei, wem es auch sei, wozu es auch sei - Du triffst auf mich als dein befreiendes Gegenüber, das dich retten will.“ Gottes Zusage und sein Nahekommen umschließen die Unbegrenztheit, die Unverfügbarkeit, die Zuverlässigkeit, die Ausschließlichkeit und die unbegreifliche Überlegenheit über alle menschlichen Bedingungen und Ziele hinaus. Sie beginnt jedoch mit der Zusage, an jedem Ort da zu sein. Die Grammatik des Gottesnamens sperrt sich gegen eine genaue Übersetzung und Identifizierung. Der Name Gottes ist offenbart, nicht nur um von ihm zu reden, sondern grundlegend, um zu ihm zu reden. So erweist es der Umgang mit dem Gottesnamen im Judentum. Wohl offenbart Gott sich durch die Risse der Sprache hindurch in seiner umfassenden Gegenwart und in seinem In-der-Welt-Sein. Er passt in keinen Namen. Er offenbart sich in seiner Freiheit, da zu sein als der, der er ist. Auf diesen Gott sich neu auszurichten und mit den Spannungen dieser Welt zusammenzuhalten, dahin leitet der Advent von vornherein. 

In der Suche, den neuen Blickwinkel im gelebten Leben wirksam werden zu lassen, öffnet die Kirche in der Woche vor Weihnachten einen sorgsam gestalteten Sinnraum, - gestaltet durch die sieben O-Antiphonen. Dieser Raum will erfüllt und belebt werden. Der leuchtende Eingang dieses Sinnraumes ist die Anrufung der „Weisheit“ in der ersten O-Antiphon. Sie wird angefleht, doch die äußersten Gegensätze zusammenzubringen. Diese Bitte ist so offen, dass sowohl Himmel und Erde als auch viele andere Gegensätze gemeint sein können. Die Weisheit soll die Wege zur Verbindung der Unterschiede „disponieren“, sie vorbereiten und bahnen. Damit werden die Situationen der Bedrängnis und Gottferne eingespielt, die in den O-Antiphonen erschlossen werden und der Verbindung mit Heilvollem bedürfen: Konstellationen der Versklavung, wo jemand Spielball von Mächtigen ist, die Finsternis der Todverfallenheit, Ungerechtigkeit, die bedrohliche Endlichkeit des Lebens, hilflose Ohnmacht. Zugleich wird der geradezu sehnsüchtig herbeigebetet, der Gott und Mensch, Himmel und Erde, Not und Hilfe zusammenbringen, ja einen kann zu einem neuen Leben, der Israel und die Völker vereinigt: der Adonai, der Spross aus Isais Wurzel, der Schlüssel Davids, der Morgenstern, der König aller Völker, der Immanuel - der Gott mit uns. 

Der „innere Ort“ zwischen Himmel und Erde ist das Gebet zu dem, der jede Bitte um seine Gegenwart und Nähe erhört (vgl. Lk 11,13). Die innere Ausrichtung auf den einen Gott, der Mensch geworden ist, führt an den Ort der rechten Welt- und Himmelanschauung, „dahin, wo man die Welt und die Menschen in ihr mit dem Blick des Vaters ‚im Himmel‘ und des zu ihm betenden Gottes- und Menschensohnes würdigt“ und an „den Ort, wo sich Himmel und Erde berühren, von wo aus Gottes Segen in die Welt kommen und neu lebendig machen will, was ihr in der Schöpfung gegeben ist“ (Jürgen Werbick). 

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

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