Fazit
In einem Gedicht von Hilde Domin heißt es: „Man muss weggehen können und doch sein wie ein Baum, als bliebe die Wurzel im Boden …". Für die Bibel ist Gott der entscheidende Grund und Halt, der den Menschen trägt, wo immer er hingeht. Er ist dabei, wenn wir aufbrechen, und er stärkt uns, wenn uns unterwegs der Mut verlässt oder die Kräfte ausgehen. Wer bewusst reist und sich nicht gänzlich von der hoch entwickelten modernen Tourismusindustrie einlullen lässt, der kann auch heute ähnlich wie in biblischer Zeit beim Reisen Gottes Nähe und Segen neu erfahren.
In biblischer Zeit war Reisen kein pures Vergnügen, sondern strapaziös und gefährlich. Man reiste zu Fuß, bei längeren Wegabschnitten auch mit Esel, Pferd oder Kamel. Nur wer begütert war, konnte sich - wie der ägyptische Hofbeamte in Apg 8,28 - einen Wagen leisten, der meist von zwei Pferden gezogenen war. Die durchschnittliche Tagesstrecke betrug ungefähr 20 bis 30 Kilometer. Das Straßennetz wurde erst in hellenistischer und römischer Zeit ausgebaut und mit Pferdewechselstationen, Herbergen und Kneipen ausgestattet, die jedoch wegen mangelhafter Sauberkeit und geringem Komfort in keinem guten Ruf standen. Viele Reisende bevorzugten deshalb eine Übernachtung bei Freunden und Bekannten und Gastfreundschaft war großgeschrieben (vgl. Hebr 13,2). Berühmte Hauptverbindungsstraßen waren die Via Maris, die vom Euphrat bis nach Ägypten führte, sowie die Via Egnatia zwischen Adria und Byzanz, die Paulus auf seinen Missionsreisen mehrfach benutzte. Besonders riskant waren die Reisen per Schiff. Wegen der Wetterverhältnisse waren sie grundsätzlich nur zwischen April und Oktober möglich und - da ganz vom jeweiligen Wind abhängig - zeitlich schwer kalkulierbar. Die meisten Reisenden waren Händler, Soldaten oder Bedienstete des öffentlichen Postverkehrs, die aus beruflichen Gründen die Strapazen des Reisens auf sich nehmen mussten. Reisen ausschließlich zur Erholung oder aus rein touristischem Interesse, die heute einen Großteil der Reisen ausmachen, waren damals wegen der Gefahren und Unbequemlichkeiten noch wenig verbreitet.
Weshalb sich Menschen in der Bibel auf den Weg machen
In der Bibel ist überraschend oft vom Reisen die Rede. Nicht nur die herausragenden Gestalten wie Abraham, Mose, Jesus oder Paulus, sondern viele Männer und Frauen machen sich immer wieder auf den Weg. Die Gründe sind dabei vielfältig und von ganz unterschiedlicher Art. So reist z.B. der Knecht Abrahams nach Mesopotamien, um nach einer Braut für Isaak Ausschau zu halten (Gen 24,10ff.). Die Moabiterin Rut begleitet aus Freundschaft und Solidarität ihre Schwiegermutter zurück nach Bethlehem, während die Freunde Ijobs anreisen, um Ijob zu trösten (Ijob 2,11f.). Im Buch Tobit, das fast schon eine Art Reiseroman darstellt, geht es um die Regelung einer Geldangelegenheit, aber auch um die Geschichte einer Liebe und um Gottvertrauen. Im Neuen Testament eilt Maria, die Mutter Jesu, über die Berge, um sich von ihrer Base Elisabeth Rat zu holen, wogegen die Weisen, die aus dem Osten kommen, auf der Suche nach der Wahrheit sind. Eine besondere Rolle spielen im Neuen Testament natürlich die Wanderungen Jesu durch Galiläa und nach Jerusalem sowie die Missionsreisen der frühen Christen über Kleinasien und Griechenland bis nach Rom. All diese Beispiele zeigen, wie stark das Wegund Reisemotiv die ganze Bibel durchdringt. Es wird an ihnen deutlich, dass sich biblisch-christlicher Glaube nicht im stillen Kämmerlein vollzieht, sondern Menschen immer wieder in Bewegung setzt und „Beine macht". In der Selbstbezeichnung der frühen Christen als „neuer Weg" (Apg 9,2; 19,9; 22,4) wird diese Weg- Struktur des christlichen Glaubens eindrucksvoll unterstrichen.
Äußere und innere Wege, die zu gehen sind
Vom dänischen Religionsphilosoph Sören Kierkegaard ist der Ausspruch überliefert: „Verliere nie die Lust am Gehen! … Ich habe mir meine besten Gedanken ergangen, und ich kenne keinen noch so schweren Kummer, den man nicht weggehen kann". Kierkegaard benennt hier Erfahrungen, die viele Menschen beim Gehen machen. Gehen, Wandern und Reisen sind nicht nur äußerliche Vorgänge, sondern mit der äußeren Fortbewegung geht ein inneres Aufbrechen einher, wodurch Fixierungen und Blockaden im Menschen aufgelöst und neue Lebensenergien wachgerufen werden können. Die Bibel weiß um diese Mehrdimensionalität des Gehens und Reisens. So bezeichnet „Weg" nach biblischem Sprachgebrauch nicht nur den konkreten Weg, der von Ort zu Ort und von Land zu Land führt, sondern „Weg" meint zugleich den Lebensweg und Lebenswandel eines Menschen und den Weg, den Gott mit den Menschen geht. „Du führst mich hinaus ins Weite", bekennt der Psalmist in Ps 18,20 und bittet gleichzeitig um den rechten Weg, der das Leben gelingen lässt und nicht wie die Wege der Frevler ins Verderben führt (vgl. Ps 1,6; Ps 86,11). Eine solche Mehrdimensionalität kennzeichnet auch viele der biblischen Weggeschichten. In ihnen geht es ebenfalls nicht nur um äußere Wegstrecken, die zurückgelegt werden, sondern in den äußeren Wegen spiegelt sich der innere Weg der Menschen. So laden diese Geschichten dazu ein, die Komplexität des Reisens wahrzunehmen und in den langen Wegen, die Israel, Jakob, Jona oder Tobias im Tobitbuch zu gehen haben, die verschlungenen Wege des eigenen Lebens zu entdecken.
Der Moment des „Aufbruchs"
Fragt man genauer nach dem existentiellen und religiösen Gehalt der biblischen Weggeschichten, so kommt bereits dem Moment des „Aufbruchs" besondere Bedeutung zu.
Wie keine andere biblische Gestalt ist Abraham zum Symbol und Sinnbild dieses Aufbruchs geworden. Der bekannte Ruf an Abraham: „Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde" (Gen 12,1), steht wie ein Vorzeichen vor der Geschichte Israels und benennt die entscheidenden Komponenten dieses Aufbruchs. Es geht um die Bereitschaft, Heimat und Zuhause zu verlassen und um einer neuen Zukunft willen den Fuß ins Unbekannte und Offene zu setzen. In der Bibelhandschrift „Wiener Genesis" aus dem 6. Jahrhundert ist das Herausfordernde dieses Aufbruchs in einem eindrucksvollen Bild veranschaulicht: Während die linke Bildhälfte Abraham zeigt, wie er sich noch wohlbehütet und geborgen auf einem behaglichen Bett zur Ruhe gelegt hat, ist Abraham auf der rechten Bildhälfte bereits vor sein Haus getreten, um - mit geschürztem Gewand - in einen leer vor ihm liegenden, weiten Raum aufzubrechen. Aufbrechen, das macht dieses Bild sehr deutlich, heißt loslassen, Sicherheiten aufgeben, aber auch auf ganz neue Weise frei zu sein. Wenn auch nicht jeder Aufbruch und Reisebeginn ähnlich tief greifende Konsequenzen wie bei Abraham hat, so kommen Reisende bis heute nicht daran vorbei, diesen Schritt vom Sicheren hin zum Ungesicherten und Unbekannten zu wagen. Viele scheuen genau vor diesem Schritt zurück. Sie sind nicht bereit, Grenzen zu überschreiten, um ein Mehr an Leben zu gewinnen. Nach der Darstellung der Bibel war Abraham bereits 75 Jahre alt, als er dem Ruf zum Aufbruch folgte. Die Aufforderung, aufzubrechen und Neues zu wagen, gilt somit biblisch gesehen nicht nur den Jüngeren, sondern ist Auftrag und Herausforderung bis ins hohe Alter.
Das „Unterwegssein" als Ort von Gotteserfahrung
Neben dem Aufbruch hat in den biblischen Weg- und Reisegeschichten häufig auch die Phase des „Unterwegssein" besondere religiöse Relevanz. Es ist die Etappe zwischen Aufbruch und Ziel, wo der vertraute Boden bereits verlassen ist und sich der Reisende als Fremder neu zu orientieren hat. Auch diese Situation ist allen Reisenden bis heute bekannt. Es ist eine Situation der inneren Anspannung, aber auch erhöhter Sensibilität und Wahrnehmungsbereitschaft, da das Betreten von Neuland die Sinne schärft und die Wachsamkeit intensiviert. In der Bibel ist gerade diese Phase des Unterwegsseins ein klassischer Ort der Glaubens- und Gotteserfahrung. Wo Menschen äußerer Heimatlosigkeit und Fremde ausgesetzt sind, stellt sich ihnen umso eindringlicher die Frage nach dem, was wirklich trägt und Halt gibt in dieser Welt. „Glauben" bedeutet vom ursprünglichen hebräischen Wortsinn her „sich festmachen in Gott, fest verankert sein in Gott". Es meint eine Verankerung und Geborgenheit, die tiefer reicht als alle menschlichen Bindungen und Beziehungen und uns begleitet, wohin wir auch gehen. Die besondere religiöse Chance des Unterwegsseins leuchtet in zahlreichen biblischen Weggeschichten auf. Neben den Erfahrungen Israels oder des Propheten Elija in der Wüste ist der Traum Jakobs auf der Flucht vor seinem Bruder ein eindrucksvolles Beispiel. In diesem Traum erhält Jakob mitten in der Fremde die ermutigende Zusage: „Ich bin mit dir, ich behüte dich, wohin du auch gehst, und bringe dich zurück in dieses Land" (Gen 28,15). Im Neuen Testament gehen den Emmausjüngern unterwegs zwischen Jerusalem und Emmaus die Augen auf, so dass sie mit einem Mal die Nähe des Auferstandenen erkennen können.
Der Segen des Reisens
Bereits in Gen 12,1-3 ist der Aufbruch Abrahams unter die Verheißung des Segens gestellt. Fünfmal werden die Worte „Segen" und „segnen" angeführt. „Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. Ich will segnen, die dich segnen … Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen". Zunächst gilt der Segen Abraham selbst; dann wird er auch seiner Umgebung zugesprochen und zieht von da aus immer größere Kreise. Indem Abraham bereit ist, ins Unbekannte aufzubrechen und eine neue Zukunft zu wagen, werden heilsame Kräfte freigesetzt, die nicht nur ihm und seinem eigenen Leben, sondern auch vielen anderen zugute kommen. Vom Segen und Gesegnetwerden sprechen auch die vielen Wallfahrtspsalmen im Buch der Psalmen. Wer hinaufzieht zum Tempel des Herrn, wird „Segen empfangen vom Herrn und Heil von Gott, seinem Helfer" (Ps 24,5). Ähnlich heißt es in Ps 134,3: „Es segne dich der Herr vom Zion her, der Herr, der Himmel und Erde gemacht hat".Die Heiligkeit des Ortes geht also gleichsam auf den Reisenden über. Er nimmt teil an der Kraft und dem Segen des Ortes und kehrt bereichert und gestärkt nach Hause zurück. Dass Reisen der Seele gut tut und viele heilsame Kräfte freisetzt, ist eine uralte Erfahrung, die viele Reisende bis heute machen. Die Berührung mit Neuem weitet nicht nur den Horizont, sondern belebt auch das Herz und - wie die biblischen Weggeschichten zeigen - den Glauben.