Chancen und GefährdungenEhe leben in Zeiten des Umbruchs

Es ist unbestritten ein schwieriges und „unsicheres" Unternehmen, in diesen Zeiten Ehe und Familie zu leben. Sicher ist nur eines: der Wandel, die Veränderung, die Diskontinuität. Solche Entwicklungen hat es schon immer gegeben, aber sie vollzogen sich früher - über Generationen hinweg - kaum wahrnehmbar in geordnetem, überschaubarem Rahmen. Heute geschieht das alles innerhalb eines Menschenlebens: die Beschleunigung der Entwicklung und die Radikalität der Veränderungen. Die Umwälzungen und Umbrüche gehen im Wortsinn an die Wurzeln der Ehe und treffen den Lebensnerv der Eheleute. Kommen die Menschen noch mit in der Schnelllebigkeit unserer Zeit? „Und die Seele geht immer noch zu Fuß!", behauptet ein arabisches Sprichwort.

Fazit

Bei aller verwirrenden Vielfalt in der Beziehungslandschaft unserer Zeit ziehen sich doch wie ein roter Faden die hohen, oft überhöhten Erwartungen und Ansprüche der Menschen, ob jung oder alt, an die Qualität ihrer Liebesbeziehungen vor und in der Ehe. Ein entscheidender Schlüssel für ihr Gelingen liegt wohl in der Vereinbarkeit von Autonomie und Bindung, von Abgrenzung und Öffnung, von Selbstbestimmung und Solidarität, die in den verschiedenen Ehephasen immer wieder neu austariert werden muss. Denn die Ehe kennt „bewegte" Zeiten. Sie muss „in Bewegung" bleiben, damit sie die Eheleute auch nach Jahren und Jahrzehnten noch „bewegt". „Es ist unmöglich, sagt die Erfahrung. Es ist, was es ist, sagt die Liebe" (Erich Fried). 

Ein Mann wurde am Tage seiner goldenen Hochzeit gefragt, ob er niemals daran gedacht hätte, sich irgendwann einmal scheiden zu lassen. Nein, war seine Antwort, warum auch, er habe ja ganz verschiedene Ehen mit seiner Frau gelebt. 

Ehe ist gemeinsamer Lebensweg. Und dieser Weg geht heute über eine unvorstellbar lange und oft gefährdete Lebensstrecke. Die Lebenserwartung hat sich in den letzten Jahrzehnten permanent erhöht - und mit ihr haben sich auch, im wahrsten Sinne des Wortes, die Erwartungen an das Leben (unter anderem in Ehe und Familie) erhöht, mitunter auch völlig „überhöht". Anders als frühere Generationen können Frauen und Männer ihr Zusammenleben nach eigenen Vorstellungen und Absprachen gestalten. Niemand schreibt ihnen mehr vor, wie sie Ehe und Familie zu leben haben. Das macht das Leben vielfältiger, reichhaltiger und wertvoller, zugleich aber auch komplizierter, anfälliger und verletzlicher. Wer freigesetzt ist, wird dem Risiko der Freiheit ausgesetzt! Was einst vorgegeben und strikt zu befolgen war, das müssen die Ehe- und Familienleute heute miteinander verhandeln, abwägen, entscheiden und gemeinsam verantworten. Anstelle früherer Selbstverständlichkeiten ist heute die Selbstzuständigkeit der Paare getreten. Eine ständige Herausforderung, für nicht wenige eine völlige Überforderung! 

„Mehrere Ehen" in der Ehe

Fast ausnahmslos kann heute eine ganze Ehegeneration erstmals bis ins hohe Alter miteinander leben. Allein die dritte Ehephase, nach der Familienzeit, umfasst gut ein Drittel der Lebenszeit. Die lange Ehedauer fordert zu stetiger Erneuerung der Beziehung heraus. Wie die Eheleute selbst sich ständig verändern, so ändert sich auch ihre Ehe, will sie „anders" gelebt werden in den jeweiligen Ehe- und Familienphasen. Eheleute leben heute tatsächlich „mehrere Ehen" in den langen Jahren ihres gemeinsamen Lebens. Die amerikanische Anthropologin Margret Mead sagte einmal über ihre drei Ehen, jede sei auf ihre Weise ganz verschieden und jeweils einmalig gewesen: „Die erste Ehe beruhte auf Romantik, die zweite auf dem Wunsch nach Familie, die dritte auf Kameradschaft." 

Mehr denn je ist die Ehe eine (lange) Reise in ein unbekanntes Land, mehr denn je ist sie heute Wagnis und „Hochrisikolebensform" (Paul M. Zulehner). Wer heiratet, ist nicht mehr zeitlebens versorgt, hat nicht mehr endgültig ausgesorgt. Vielmehr müssen sich die Eheleute um ihre Ehe selbst „sorgen". Ehe als „Lebensversicherung" hat endgültig ausgedient; Ehe heute bedarf gelegentlich der „Liebesversicherung": „Du bist mir nach wie vor liebenswert!" - (auch nach 5, 10, 20 oder 30 Jahren). 

Denn Liebe ist nicht, Liebe wird! Sie entwickelt sich, sie kann wachsen und sich vermehren; sie kann aber auch verkümmern und zerbrechen. Sie schafft, wenn es gut geht, immer wieder Raum für Aufbrüche und Neuanfänge. Nur wer sich immer wieder aufmacht, bleibt auf dem Weg. Nur wer sich immer wieder „aufmacht", bleibt offen für neue Entwicklungen. „Nichts fordert so viel Wandel wie lebendige Treue", hat der englische Kardinal Newman schon vor hundert Jahren in weiser Voraussicht gesagt. 

Drum prüfe ewig, wer sich bindet 

Die Zeiten sind wohl endgültig vorbei, da alles gut überschaubar, klar geregelt und wohl geordnet erschien. Im Strom des Lebens ist alles im Fluss - so auch die Liebes- und Eheläufe der einzelnen Paare. Die langen Ausbildungszeiten, die oft ungesicherten Arbeitsmöglichkeiten und die vielfältigen Erfahrungen des Scheiterns ehelicher Beziehungen bis in die eigene Familie lassen viele junge Leute die endgültige Entscheidung für eine mögliche Ehe immer weiter hinausschieben. Je größer die biografische Wahlfreiheit und je anfordernder die gesellschaftliche Mobilität und Flexibilität, desto größer die Unsicherheit vor einer langfristigen und unwiderruflichen Festlegung im Lebenslauf. Da lässt man das Leben lieber „laufen" ... und wartet ab, vielleicht weil man noch Anderes, Besseres erwartet? Eine Entscheidung für ist immer auch eine Entscheidung gegen andere Möglichkeiten ... gegen andere Lebensformen, gegenüber anderen (möglichen) Lebenspartnern/ innen. 

So begeben sich immer mehr junge Paare zunächst einmal in eine „Warteschleife". Sie ziehen zusammen, leben vorehelich miteinander, zögern den Entschluss einer endgültigen Bindung noch hinaus. Jedoch: Für die meisten ist es eine ganz wichtige Zeit des Prüfens und des Vergewisserns! Weil die Gewissheit von der Tragfähigkeit und Beständigkeit menschlicher und damit auch ehelicher Beziehungen zusehends schwindet. Und weil die Zukunft vielen ungewisser und ungesicherter denn je erscheint. Wessen wir uns nicht mehr gewiss sind, dessen müssen wir uns erst vergewissern! Viele Paare müssen erst einen weiten Weg durch die vielfältige „Beziehungslandschaft" zurücklegen, bis sie eine gewisse persönliche Sicherheit und ein stabiles Umfeld für die Gründung ihrer Ehe (und Familie) gefunden haben. 

Aber ewig prüfen geht nicht (gut). Man muss im Leben darauf achten, wann für einen (oder für zwei) das entscheidende Wort fällig ist. 

„Rush hour" in den mittleren Jahren 

Ehe und Familie sind nicht mehr die, sondern nur noch eine Lebensoption. Sie stehen in Konkurrenz zu anderen durchaus vielversprechenden Lebensentwürfen. Gerade die mittleren Jahre - die Lebensjahre zwischen 30 und 45 etwa - sind eine der kritischsten Phasen im Lebenslauf von Paaren. Dann wollen mehr oder weniger alle großen Lebensprojekte gleichzeitig, und zwar innerhalb einer relativ knappen Zeitspanne, verwirklicht werden: 

  • der Abschluss einer Ausbildung beziehungsweise Umschulung
  • die berufliche Existenzsicherung von Mann und Frau
  • die Ablösung von der materiellen Abhängigkeit der Herkunftsfamilien
  • der Aufbau eines Freundes- und Verkehrskreises in der neuen Heimat
  • die Einrichtung einer eigenen (gemeinsamen) Wohnung
  • der Erwerb von Eigentum
  • die endgültige Bindung in einer Partnerschaft beziehungsweise in einer Ehe
  • das Engagement im politischen, sozialen, schulischen, sportlichen oder kirchlichen Ehrenamt
  • ... und dann steht auch noch die Gründung einer Familie an ...?

Für Frauen wie Männer sind die mittleren Lebensjahre eine Zeit unglaublicher Anforderungen, mitunter auch maßloser Überforderungen. Der Familiensoziologe Hans Bertram spricht von einer „Parallelitätsfalle": Nicht mehr nacheinander, sondern nebeneinander ist das alles zu bewältigen. Es herrscht „rush-hour" in dieser Lebensphase. Alles „staut" sich, auch und gerade in den Ehen und Familien. Was bleibt im Zeit- und Kräftebudget noch übrig für die Beziehung zu Partnern und Kindern? 

In dieser Zeit sind die Ehe- und Familienleute kaum ansprechbar für noch so attraktive Angebote der Gemeinde oder kirchlicher Einrichtungen. 

Phase der Enttäuschung 

Das offensichtliche Ungleichgewicht zwischen öffentlichen Beanspruchungen und privaten Erfordernissen wird auf Dauer zu Enttäuschungen und Verbitterungen führen. Wenn dann auch noch aus dem einst „emanzipierten" (Ehe-) Paar mit einer partnerschaftlichen Arbeitsteilung in Haushalt und Beruf unversehens ein Elternpaar mit klassischer, ja geradezu traditioneller Rollen- und Aufgabenverteilung wird, dann drohen die Lebensbiografien von Frauen und Männern mit der Zeit immer weiter auseinander zu driften. „Bei meinem Mann läuft alles ganz normal weiter, was Beruf und Freizeit betrifft; bei mir jedoch ändert sich das ganze Leben", klagen nicht wenige junge Mütter. 

Was sie einst bei ihren Eltern empört ablehnten, wiederholt sich nun in ihrer eigenen Ehe und Familie: „die Traditionalisierung der Beziehung". Viele Ehen zerbrechen daran. Die meisten Trennungen und Scheidungen erfolgen zu diesem Zeitpunkt, zwischen dem fünften und dem siebten Ehejahr. Und gut zwei Drittel werden von den Frauen angestrengt! 

Solche Phasen der Enttäuschung stehen an allen kritischen Lebensübergängen einer Ehe. Meist führen sie in eine tiefe Krise. Krise bedeutet im ursprünglichen Wortsinn: Wendepunkt, Scheidepunkt. Das Leben ändert sich, verläuft anders als bisher. Oft auch ganz anders, als insgeheim erhofft, erwünscht, erträumt. Die „neue" Lebenswirklichkeit raubt so manche Illusionen. Aber sie befreit auch von etlichen Täuschungen. Krise als „entscheidender Wendepunkt" kann auch heilsam sein. „Die Liebe ist wie das Leben selbst, kein bequemer und ruhiger Zustand, sondern ein großes, wunderbares Abenteuer" (Gabriel Marcel). 

Wieder zu zweit ... und dann ganz allein? 

Situation an einem beliebigen Sonntag: Die Kinder sind aus dem Haus. Das Nest leer, die Zimmer verwaist, die Plätze am Tisch unbesetzt, das ganze Haus scheint still zu stehen. Eine ganz neue Situation hat begonnen: Das Leben wieder zu zweit - ... ganz allein"?! 

Eine weitere kritische Übergangsphase! Wieder eine Zeit der Umorientierung im Alltag und der Neuausrichtung in der Beziehung! Für die einen Ehepaare bricht mit dem Auszug der Kinder eine Welt zusammen; für die anderen bedeutet er den Aufbruch in eine Welt voller neuer Möglichkeiten. 

Wer (seine Kinder) loslassen kann, hat Kopf und Hände frei für neue Pläne, neue Perspektiven, neue Lebensqualitäten. Wer loslassen kann, kann gelassen die Zukunft angehen und das „neugewonnene" Leben in vollen Zügen genießen. Zu zweit, aber auch allein - je nach Interessenlage! 

Noch immer gibt es bei der älteren Generation vielfach die irrige Vorstellung, in einer „guten" Ehe müssten die Eheleute alles gemeinsam machen. Aber kann das „gut" gehen, rund um die Uhr Ehe leben? Nun, da berufliche und familiäre Verpflichtungen als bisherige „Eigenräume" entfallen, müssen immer wieder neue „Zwischenräume" gemeinsamer und je eigener Aktivitäten gestaltet werden. Es braucht die Zweisamkeit wie die Einsamkeit! Es braucht mehr denn je die Balance zwischen Nähe und Distanz, Gemeinsinn und Eigensinn, Zuwendung und Abgrenzung, Beziehung und Entziehung. 

Von Philemon und Baucis 

Als Philemon und Baucis, das alte Ehepaar in Ovids „Metamorphosen", aus Dankbarkeit für die freundliche Aufnahme und Bewirtung bei Gottvater Zeus einen Wunsch frei haben, antwortet Philemon für beide: „Weil wir so viele Jahre in Liebe und Frieden verlebt haben, ist unser größter Wunsch, auch zusammen zu sterben. Nie möchte ich am Grab von Baucis stehen, und auch sie möchte mich nicht bestatten müssen." Später, nach ihrem gemeinsamen Tod, werden beide von Gottvater Zeus in eine Eiche und eine Linde verwandelt und bleiben so „lebendig" beieinander. 

Ein Wahrzeichen der Träume und Hoffnungen vieler alt gewordener Eheleute: die Eiche und die Linde, die über den Tod „zusammen stehen". Das (gemeinsame) Altwerden in der letzten Ehephase bringt die Eheleute ganz unmittelbar in die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit und Begrenztheit ihres Lebens. Die Sorge um Krankheit und Gebrechlichkeit, um Hinfälligkeit und Hilflosigkeit, um menschenwürdiges Sterben und einen „guten" Tod bestimmt mehr und mehr ihr Leben. Fragen kommen auf, Unsicherheiten und Zweifel stellen sich ein. Auch im Glauben! Auf die Frage, was das Leben vor und nach dem Tod letztlich ausmacht, kommen viele Menschen erst im Alter (wieder) zurück. Auch Christen stellen sich diese Fragen; auch für Christen bleibt manches unbeantwortet. Aber sie haben begründete Hoffnung auf „Antwort", nicht zuletzt auf die Frage aller Fragen. 

Von den „Kurzgeschichten des Glaubens" 

Noch bis in unsere Zeiten wurde sie gefordert: die „wegbegleitende (Ehe-)Pastoral". Dabei war sie schon längst allein zeitlich eine glatte Überforderung, heute umso mehr angesichts gewaltiger Umbrüche in den Gemeinden mit immer größeren Lebensräumen und immer weniger Personal und Finanzen. Aber auch die Glaubensbiografien der Menschen lassen sie kaum mehr zu. 

Es gibt sie immer weniger, die ungebrochenen „Glaubens- und Kirchenromane", wie sie noch so manche aus der älteren Generation geschrieben haben. Heute schreiben die Menschen, um im Bild zu bleiben, eher „Kurzgeschichten des Glaubens". Und das vor allem an markanten Wegstationen und Wechselfällen ihres Lebens. 

Solche Lebenswenden sind „Einbruchstellen des Unbestimmbaren" (N. Luhmann). Hier spüren Menschen, Paare, Familien, dass nicht alles im Leben - selbst bei bester Lebens- und Familienplanung - im letzten planbar, bestimmbar, machbar ist. Bei Schwangerschaft und Geburt, bei Hochzeit und Ehejubiläen, bei Krankheit und Gebrechlichkeit, bei Sterben und Tod erfahren sie ganz unmittelbar die Grenzen des Machbaren, das Fragmentarische und Unvollendete ihres Lebens. 

In diesen und ähnlichen Lebenssituationen wenden sich immer noch relativ viele Menschen (wieder) an die Kirche in der Hoffnung, dass Gott um die „Bruchstücke" ihres Lebens weiß und sie einst zusammenfügen wird. In den Feiern der Sakramente, aber auch in den Segensfeiern und anderen liturgischen Vollzügen begegnen Menschen den „ausgestreckten Händen Gottes", die ihnen offen und einladend entgegenkommen (und in die sie sich später auch getrost einmal fallen lassen können). Entsprechend offen, einladend und gastfreundlich sollten unsere Gemeinden und kirchlichen Einrichtungen sein für die oft suchenden, fragenden, mitunter auch rat- und hilflosen Menschen, Paare und Familien. Wer immer sie sind, wo immer sie auch stehen - sie müssen uns jederzeit willkommen sein. An den Scheidewegen menschlicher Lebens- und Liebesläufe sind Orientierung und Wegweisung notwendiger denn je. Selbst eine „nur" punktuell ansetzende Pastoral wird Spuren im Leben der Menschen hinterlassen und die Erinnerung an die ausgestreckten Hände Gottes wach halten. Gottes Name - JAHWE - ist Programm: Sein Interesse gilt dem Gelingen menschlicher Beziehungen, nicht zuletzt in kritischen Lebenssituationen.

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

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