Und die Chancen der PfarrgemeinderäteDer mühsame Weg der Kirche

Unsere Kirche lernt gegenwärtig viel und sie lernt es schmerzlich. Sie lernt, ihre Botschaft jenseits der Macht früherer Zeiten zu vertreten. Seit der Spätantike hatte die Kirche die Macht über alles, was für Menschen wichtig ist: über das Wissen, über die Gesellschaft und über die Moral. In dieser Reihenfolge hat sie ihre Macht auch verloren: mit Galilei jene über die Wissenschaften, in den bürgerlichen Revolutionen die Macht über die Gesellschaft und jetzt, in den Missbrauchsskandalen, verliert sie endgültig die Macht über die Moral. Das trifft unsere Kirche. Denn sie hat sich lange von ihrer machtvollen Institutionalität her verstanden. Mit ihr hat sie ja tatsächlich stolz den Stürmen der Zeit getrotzt.

Gegenwärtig aber muss die Kirche damit umgehen, dass mit ihr umgegangen wird und dass auch ihre stolze Institutionalität dies nicht verhindert. Im Gegenteil. Schon länger gilt: Religion organisiert sich immer weniger in kirchlichen Formen, also in Konzepten von Mitgliedschaft, Gefolgschaft und Dauer, sondern vom Einzelnen und seinen Bedürfnissen her. Moderne Gesellschaften stellen eine umfassende Lizenz zu religiöser Selbstbestimmung aus und seit einiger Zeit wird diese Lizenz auch von Katholiken und Katholikinnen selbstverständlich in Anspruch genommen. 

Die Kirche ist unter den Zustimmungsvorbehalt ihrer eigenen Mitglieder geraten. Sie wurde von einer religiösen Schicksalsgemeinschaft zu einem von mehreren Anbietern auf dem Markt von Religion, Ritualität und Lebenssinn. Das gilt auch innerhalb der Kirche. Diese Marktsituation setzt unsere Kirche unter massiven Transformationsstress. Vor allem muss sie ein Konzept finden, auf dem Markt zu agieren, ohne ihm zu verfallen. Sie darf das Problematische des Marktes nicht einfach akzeptieren, etwa sein reduziertes Menschenbild oder seine Orientierung ausschließlich am Erfolg, sie darf aber auch den Segen des Marktes, die Freiheit, nicht fürchten. 

Der Weg weg von der Macht ist schmerzlich, aber er ist eine große Chance. Er ist eine Chance für das Evangelium und damit für die Kirche. Das Problem mit der Macht ist ja, dass man mit ihr so leicht blind wird für die Wirklichkeit. Man sah nicht, was sich im Fernrohr Galileis zeigte, man sah nicht, dass die Menschenrechte ein Ort sind, um die Offenbarung Gottes zu begreifen und die Freiheit ein Geschenk Gottes ist, und man sieht bisweilen immer noch nicht, dass in dieser Gesellschaft nicht nur Werteverfall stattfindet, sondern auch ein neuer Werteaufbau, auch und gerade im Bereich des Verhältnisses der Geschlechter. Die Würde und Integrität des Partners, der Partnerin steht heute im Mittelpunkt, früher wahrlich nicht immer. 

Unsere Kirche befindet sich auf dem schwierigen Weg von der Macht zur Autorität, von einer Logik des Verurteilens der Anderen zu einer Logik des universalen Heilswillens Gottes, vom erhaben-überlegenen Gestus gegenüber der Welt zu einer Haltung der Solidarität, des Zuhörens und Lernens. Wir stecken da mitten drinnen und wie immer, wenn man in solchen Umbaukrisen steckt, sind viele ziemlich nervös und aufgeregt. Das ist anstrengend, aber normal. 

Konzil oder Untergang

In diesen Zeiten gilt: Entweder wir orientieren uns wirklich am letzten Konzil, oder wir haben keine Chance. Ich bin zutiefst überzeugt, es gilt: Konzil oder Untergang. Die Kirche wird sich auf das pastorale Programm des Konzils besinnen oder sie wird zumindest in Gesellschaften wie den unsrigen ihren gesellschaftlichen Abstiegsprozess und Exkulturationsprozess beschleunigt fortsetzen und, wichtiger noch, ihm keinen pastoralen und religiösen Authentizitätsgewinn entgegensetzen können. 

Das Programm des Konzils ist eindeutig: helfende Pastoral vor aburteilender Moral, Kampf für die von Gott verliehenen Menschenrechte vor Kampf für die ererbten Kirchenrechte, Glaube an den universalen Heilswillen Gottes statt Ausschluss der Andersgläubigen. Krisenzeiten - und wir sind in einer echten Krise - stellen Grundsatzfragen. Die Grundsatzfrage heute lautet: Wozu ist Kirche da? Das letzte Konzil hat darauf fulminante Antworten gegeben. Es sagt: Die Kirche ist „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit" (Lumen Gentium 1), ist das „allumfassende Sakrament des Heiles, welches das Geheimnis der Liebe Gottes zu den Menschen zugleich offenbart und verwirklicht" (Gaudium et spes 45). Und wenn das keine pastorale Lyrik sein soll, dann ist es ein Prüfstein und ein Kriterium für unser Handeln. 

Das Evangelium dieser Welt zu erschließen, indem es von den Menschen dieser Welt her entdeckt wird, dieses Entdeckungsgeschehen ist das Kerngeschäft der Kirche. Dazu ist Kirche da. Es geht darum, möglichst viele Orte zu schaffen, wo es nur eine Chance gibt, dass dies gelingt. Alle in der Kirche sind dazu da - und nur dazu. 

Worauf kommt es also an?

Auf eine Kultur der Aufmerksamkeit kommt es an. Aufmerksamkeit ist die pastorale Grundtugend überhaupt. Sie ist eine Haltung des Sich-verstören-Lassens durch die Wirklichkeit, Aufmerksamkeit, das heißt Sensibilität für die Kulturen der Gegenwart, das heißt auch Fremdheit zu akzeptieren, sich nicht nur im Eigenen zu bewegen, das heißt Perspektivenwechsel, Wagnis, Hingabe und Demut. Aufmerksamkeit heißt sich auf die Welt einlassen, wie Jesus sich auf die Welt eingelassen hat. Auf Christus schauen heißt eben auch, mit seinem Blick auf die Welt zu schauen. Aufmerksamkeit setzt das Ende einer erhabenen Perspektive auf die Welt voraus. Und sie bedeutet, neue Kommunikationskulturen in unserer Kirche zu fördern, Kulturen jenseits der Vermachtungstradition früherer Zeiten.

Welche Lebensformen finden heute (noch) Platz, Gehör und Stimme in einer katholischen Pfarre? Wie muss, wie darf man leben, um hier willkommen zu sein? Und was darf man vom eigenen Leben veröffentlichen? Gelenkte Kommunikation beraubt einen der Wahrheit des Anderen. Worauf kommt es an? Auf die Auseinandersetzung mit den Zeichen der Zeit. 

Die „Zeichen der Zeit" sind nicht irgendwelche Gegenwartsphänomene, sondern es sind jene neuen Realitäten, denen die Kirche nicht ausweichen darf, will sie das Evangelium heute verkünden. So sagt es das Konzil. Es sind Phänomene, die zuerst irritieren, weil man noch nicht genau weiß, was sie bedeuten, an denen sich aber das Evangelium in seinem Sinn und seiner Bedeutung bewähren muss. 

Die Gegenwart ist voller solcher Phänomene, die neue Fragen an uns stellen: - Was bedeutet die offenkundige Zerbrechlichkeit der Finanzsysteme und die ökonomische Globalisierung? - Was bedeutet die multireligiöse Gesellschaft, in die wir nicht erst kommen, in der wir bereits sind? - Und was bedeutet es, dass Frauen Männer nicht mehr länger umkreisen wie Planeten die sie bescheinenden Sonnen, sondern das Recht auf ein „eigenes Leben" bekommen haben, endlich und Gott sei Dank? All diese „Zeichen der Zeit" stellen Fragen in jedes Menschen Leben, Fragen, die wir noch kaum verstanden, geschweige denn beantwortet haben und denen wir nicht in die Wiederholung alter Antworten auf alte Fragen ausweichen können. Kirche braucht Gegenwartskenntnis, nicht um sich einfach anzupassen, sondern um ihre Aufgabe zu erfüllen: diese Gegenwart mit den Augen Jesu zu sehen und so zu sich zu befreien. 

Worauf kommt es an? Auf die Solidarität mit den Existenzproblemen der Menschen heute. Das Konzil hat eine fundamentale alte Wahrheit wieder in den Vordergrund gerückt: Die Botschaft ist nicht für die Kirche da, sondern die Kirche für ihre Botschaft. Kirche hat dienenden Charakter, ihrer Botschaft gegenüber und allen Menschen gegenüber, denn das fordert gerade ihre Botschaft von ihr. „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi" (Gaudium et spes 1), so der zu Recht berühmte Eröffnungssatz der zweiten Kirchenkonstitution. Da ist von keinen Einschränkungen die Rede. Und es gibt eine klare Option für die Armen. 

Worauf kommt es an? Auf den Mut, das Evangelium der Gegenwart auszusetzen. Eine Kirche, die sich nicht aussetzt, die in der Sicherheit scheinbar unverletzbarer Räume und Gewissheiten bleibt, wird ihrer Aufgabe nicht gerecht. Eine Kirche, die meint, sie könne ängstlich und verschreckt im kleinen Rettungsboot die Stürme der Gegenwart überstehen und müsse nicht dem Ruf Jesu folgen und aussteigen und sich aufs Meer des Wagnisses, der Hingabe begeben, wird ihrer Aufgabe nicht gerecht. 

Sich aussetzen bedeutet: das Außen des Lebens ins Innen der Kirche holen und die Botschaft des Evangeliums dem Risiko des Außen aussetzen. Das macht übrigens wirklich Freude, wenn man spürt, dass man nicht untergeht. Und man geht nicht unter, wenn Menschen spüren, dass wir in Solidarität und Liebe kommen. Worauf kommt es an? Auf das Vertrauen in Gott und seine Gnade! Kirchliche Praxis, die ihrem Glauben folgt, hat zwei Elemente: die Freiheit, die unser Gott will und uns lässt, übrigens selbst ihm gegenüber, und die von Jesus radikal vollzogene Identifikation von Gottes- und Nächstenliebe. 

Es gibt für die Kirche keinen anderen Weg mehr. Das wird gegenwärtig klar. Deswegen muss man der säkularen Gesellschaft dankbar sein für das, was gegenwärtig passiert. Sie zwingt uns in die Nachfolge Jesu, sie zwingt uns in eine demütige Pastoral der Hingabe. Es ist der „kleine Weg" der Thérèse von Lisieux, es ist der experimentelle Weg der Madeleine Delbrêl, es ist der marianische Weg der Mutter der Barmherzigkeit. 

Und was bedeutet das für die Pfarrgemeinderäte? 

Es bedeutet: sie haben nicht das Gewohnte zu verwalten, sondern Neues zu gestalten. Und das ist auch jetzt schon möglich. Sicher: die aktuellen kirchenrechtlichen Rahmenbedingungen sind dazu alles andere als ideal. Aber auch in ihrem Rahmen ist viel mehr möglich, als geschieht. In Zeiten raschen Wandels hilft es nicht, einfach weiterzumachen wie bisher. Sie haben Neues zu wagen, und zwar das Neue, das ihnen und anderen hilft, das Evangelium heute zu entdecken - und das ihnen und anderen hilft, heutiges Leben vom Evangelium her zu befreien. Sie haben das Recht, ja die Pflicht dazu. 

Sie sind nicht die untergeordneten Helfer des Pfarrers, sondern begnadete Mitglieder des Volkes Gottes. Sie haben in ihm Verantwortung übernommen. Sie sind ein Geschenk des Volkes Gottes an die Kirche. Ihr „Apostolat (...) ist Teilnahme an der Heilssendung der Kirche selbst". Zu diesem Apostolat werden sie, wie das Konzil sagt, „vom Herrn selbst durch Taufe und Firmung bestellt". Sie haben auf ihre Weise „Anteil am priesterlichen, prophetischen und königlichen Amte Christi". Und sie arbeiten in der Freiheit und Freiwilligkeit, jenseits der alten Zonen religiöser Macht. 

Was hat da der Pfarrgemeinderat zu tun? 

Dies hat Konsequenzen für den Pfarrgemeinderat. Erstens: Der Pfarrgemeinderat soll ein Ort der Sensibilität für die soziale und kulturelle Realität vor Ort sein, für die Zeichen der Zeit, für das Leben der Menschen heute. 

Zweitens: Der Pfarrgemeinderat hätte nicht so sehr gemeindeinternes Organisationsorgan zu sein, sondern Ort der Verbindung gerade zu den nicht-gemeindlichen Orten der Kirche. Kirche ist mehr als Gemeinde. Sie ist ein Netzwerk pastoraler Orte. Suchen Sie den Erfahrungsaustausch mit anderen pastoralen Orten der Kirche, die es gibt und an denen viel Gutes geschieht. Diese anderen pastoralen Orte wissen oft sehr viel, was denn das Evangelium in den vielen neuen Szenen der Gegenwart bedeutet. 

Drittens: Der Pfarrgemeinderat könnte Organisationsrahmen für eine ganze Menge kleinerer, durchaus zeitlich begrenzter Initiativen sein, die versuchen, dem Evangelium Gestalt zu verleihen, in unterschiedlichen Projekten und an unterschiedlichen Orten, so bunt wie das Leben heute halt ist und so vielfältig die Versuche sind, das Evangelium zu leben. Der Pfarrgemeinderat könnte auch selbst viel freier organisiert sein. Warum nicht mit dem Bischof alle paar Jahre neu ausmachen, wie konkret das Zusammenwirken des Volkes Gottes vor Ort organisiert wird? Da muss es nicht ein einziges Modell geben. 

Viertens: Der Pfarrgemeinderat könnte ein Ort sein, wo endlich die unfruchtbaren wechselseitigen Ressentiments innerhalb des Volkes Gottes sich in kreative Differenzen wandeln. Es gibt in unserer Kirche zwei ziemlich wirksame Statusunterschiede: jenen von Laien und Klerikern und jenen von Hauptamtlichen und sog. Ehrenamtlichen. Diese Differenzierungen haben Sinn und Bedeutung, allerdings nur dann, wenn sie in der Praxis für beide Seiten ein Gewinn sind und als solcher erfahren werden. Denn dafür gibt es diese Unterschiede. 

In Zeiten der Freiheit ist überhaupt nicht mehr so wichtig, wie man sich selber versteht, sondern wie die anderen einen erleben. Kreative, wechselseitig wertschätzende Verhältnisse zwischen diesen grundsätzlich gleichrangigen Teilen des einen Volkes Gottes zu gestalten, das wäre kirchlicher Auftrag. Das ist aber immer primär die Aufgabe der jeweils Gestaltungsmächtigeren, also der Hauptamtlichen und der Priester! Schaffen Sie also Orte gemeinsamer Reflexion und Entscheidung, an denen bestimmt wird, was am jeweiligen Ort mit den jeweiligen zur Verfügung stehenden Kräften und Mitteln Vorrang hat im pastoralen Handeln. Und, liebe Priester und Hauptamtliche: Nehmen Sie das Engagement der Mitglieder des Volkes Gottes als Geschenk Gottes an seine Kirche und als Innovationschance des eigenen Handelns dankbar wahr und auf! 

Und fünftens: Unter heutigen Bedingungen muss sich die Gemeinde permanent „neu erfinden". Sie muss immer wieder definieren: Was bedeutet das Evangelium hier und was das Hier und Heute für das Evangelium? Und: Wie müssen wir organisiert sein, um diese Aufgabe zu erfüllen? Dafür wird es nie wieder die eine und einzig richtige Antwort geben. Der Pfarrgemeinderat könnte zur Zukunftswerkstatt dafür werden, was Kirche vor Ort sein könnte und wie sie sich zu organisieren hat. Wir müssen endlich unseren Sozialformkonservativismus aufgeben und kreativ werden in dem, wie wir versuchen, dieses schöne und schwere, anstrengende und beglückende Evangelium zu leben. In Transformationszeiten muss man nach den Aufgaben fragen und sich danach organisieren, nicht umgekehrt erst nach der Sozialform fragen. 

Möglichkeitssinn 

Wir leben in Zeiten, die so neu sind, dass wir erst dabei sind zu begreifen, wie neu. In solchen Zeiten kommt es darauf an, auf das Volk Gottes zu vertrauen und auf seinen Möglichkeitssinn. Trauen wir dem Volk Gottes. Trauen wir ihm mehr zu. Experimentieren wir, wagen wir, freuen wir uns der Herausforderungen. Denn wir sind das von Gott berufene Volk, wir sind Zeichen und Werkzeug seiner Liebe zur Welt. Wir brauchen vor nichts und niemandem Angst zu haben. 

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

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