Ein möglicher Weg aus der BedrängnisDie Vielfalt der Charismen im Volk Gottes zulassen und fördern

Die gegenwärtige Situation der deutschsprachigen Kirche ist von einer Glaubwürdigkeitskrise der Charismen in der Hierarchie geprägt. Aber bekanntlich stecken in Krisen auch Chancen, die ergriffen werden können. Eine liegt darin, die tatsächlich vorhandenen Charismen im Volk Gottes zu entdecken, sie zu fördern und ihnen Entfaltungsmöglichkeiten zu ermöglichen, um einer glaubwürdigen und vielförmigen Verkündung des Reiches Gottes willen.

Am 13. März 2013 wurde der Jesuit Jorge Mario Bergoglio zum Papst gewählt. Es besteht kein Zweifel, dieser Papst hat Charisma. Die Menschen sind begeistert und beeindruckt von seinen Worten, Gesten und Zeichen. Dieser Papst kommuniziert anders als sein Vorgänger mit der Welt und knüpft schon eher an den ebenfalls charismatischen Papst Johannes Paul II. an. Papst Franziskus bezieht Stellung auf der Flüchtlingsinsel Lampedusa, steht in einem ausführlichen Interview Rede und Antwort und macht klar, dass Barmherzigkeit sein pastorales Paradigma ist. Die Reaktionen innerhalb und außerhalb der Kirche machen eines deutlich: dieser Papst beeindruckt. Aber es gibt gleichzeitig eine Glaubwürdigkeitskrise in der katholischen Kirche. Diese führt zu einer Art Anti-Charisma, dem Verlust von Anerkennung als einer authentisch christlichen Glaubensgemeinschaft. Besonders deutlich zeigt sich dies momentan im Bistum Limburg. Vor allem durch das Bauprojekt der bischöflichen Residenz, eines Fluges in der ersten Klasse und irritierender Kommunikation hat Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst massiv dazu beigetragen, dass die kirchliche Hierarchie an Charisma verloren hat. Ähnliches gilt auch für andere kirchliche Orte, wo traditionell Charismen vermutet wurden, wie in den Ordensgemeinschaften. Diese sind kaum wegen charismatischer Personen im Gespräch, sondern eher wegen Verfehlungen an Schutzbefohlenen. Und selbst der Bereich der Liturgie, ein Ort, an dem Charismen sichtbar werden, verliert an Charme. Zwischen Glaubwürdigkeitskrise und Respekt, Charisma und Anti-Charisma muss ein Weg gefunden werden. Ich schlage vor, die Charismen als positive, kreative und mitunter provozierende Ressource im Volk Gottes anzuerkennen und mit ihrer Hilfe eine Pastoral zu entwickeln, die mit der Macht des Hl. Geistes rechnet und die zugleich Anschlüsse in die Lebenswelten der Menschen ermöglicht. 

Charismen stehen für Vielheit, die dem einen Geist entspringt 

In 1 Kor 12,4 lesen wir: „Es gibt verschiedene Gnadengaben, aber nur den einen Geist.“ Und einige Verse weiter (1 Kor 12,11) wird hervorgehoben, dass die Charismen aus eben diesem einen Geist hervorgehen. Dieser eine Geist ist Ursprung und Basis. Darauf hinzuweisen ist wichtig, denn so wird deutlich, das die Charismen nicht isoliert wirken und betrachtet werden können, sondern in ihrer gemeinsamen Zuordnung zum einen Geist zu verstehen sind. Zugleich ist damit der Überheblichkeit und Selbstüberschätzung einiger Charismen ein Riegel vorgeschoben. Schon Paulus macht darauf aufmerksam, dass die Profilierung einzelner Gnadengaben auf Kosten anderer unzulässig ist. Denn diese säht Zwietracht und Neid und steht zugleich für Anmaßung und Arroganz. Eine kreative und reziproke Bezogenheit der verschiedenen Charismen ist dann unmöglich, aber genau dies ist das Ziel. Mit Bezug auf Paulus wird noch ein weiterer Punkt im Kontext des Charismeneinsatzes deutlich, dieser muss objektiv, allgemein nachvollziehbar und überprüfbar sein und eindeutig in den Dienst des Reiches Gottes gestellt werden. Dies ist notwendig, damit der Einsatz von Charismen nicht im Mysterienkult endet. Es ist der eine Geist, auf den Paulus so nachdrücklich hinweist, der sich jedem Versuch des Auseinanderdriftens und der Hierarchisierung der Gnadengaben in den Weg stellt. Die vielen Gaben des Geistes sind aufeinander zu beziehen und in den Modus wechselseitiger Ermächtigung und Anerkennung zu führen und nicht in Formate unheilvoller Konkurrenz, die nicht das Viele mit dem Einen verbindet, sondern in die Spaltung führt. Eine charismenorientierte Pastoral sollte das immer vor Augen haben und zugleich an dem Habitus arbeiten, Unterschiede anzuerkennen und einfallsreich zu nutzen. Damit das aber möglich ist, bedarf es des Austausches in Bezug auf Talente, Aufgaben und Kompetenzen der handelnden Personen in der Pastoral. Dass Charismen auch Auswirkungen auf das Miteinander haben, ist vor allem darin begründet, dass ihr Ursprung nicht Macht, sondern Autorität ist und sie somit automa automatisch die Kraft haben, Machtkonstellationen zu relativieren. Oder anderes formuliert: Eine charismatische Person muss nicht auf ihrer Macht beharren, weil sie von anderen in ihrem Tun autorisiert wird. Ihr gelingt es, die Befähigung sinnvoll und bedeutsam einzusetzen, und ihre Autorität begründet sich aus ihrer Kompetenz und Authentizität. 

Der notwendige Glaube an das eigene Charisma

Die erhaltene Gabe des Geistes ist nicht nur etwas, das einer Person gehört, sondern sie ist zugleich Auftrag. Es gilt, aus der Gabe des Geistes etwas zu machen. Sie ist im Sinne des einen Geistes einzusetzen und in den Dienst des Reiches Gottes zu stellen. Wie sich dieser gestalten kann und formen muss, hängt dabei von den Gegebenheiten vor Ort ab. Um der Evangelisierungsaufgabe in individualisierten, pluralisierten und globalisierten Zeiten nachkommen zu können, ist es sinnvoll und notwendig, auf die vielen und verschiedenen Charismen innerhalb der Kirche zu setzen. Dies wird in Zeiten, wo die bekannten Sozialformate der Kirche deutlich unter Druck geraten, zunehmend wichtiger. Es bedarf glaubwürdiger und ansprechender Anschlüsse in die Lebenswelten der Menschen. Durch einen charismenorientierten Einsatz von Personen besteht die Hoffnung, dass diese gelingen können. Jedoch sollten diese Versuche in Netzwerke eingebunden sein. Dann können Präsenz und Profil mit Entlastung einhergehen. Es müssen nicht mehr alle alles machen, sondern das Engagement kann in Bezug auf die jeweiligen Fähigkeiten und Entwicklungspotentiale eingebracht werden. Eine solche Vorgehensweise bietet den großen Vorteil, dass Überforderung gemindert und da für ein mehr an Zufriedenheit und Kreativität möglich wird. In einem so gestalteten Kontext wird es möglich, die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter/-innen entsprechend ihrer Charismen einzusetzen und dabei zu berücksichtigen, was sie können, ausprobieren oder lernen wollen. Dies ist jedoch nur in einem Umfeld möglich, dass von wechselseitigem Respekt geprägt ist und in dem grundsätzlich mit der Kompetenz anderer Personen gerechnet wird. Mehr noch, man geht von ihrem Können aus, unterbindet besserwisserische Attitüden und lässt Raum für das Potenzial, das schon da ist und zur Entfaltung kommen will. Von einem solchen Personaleinsatz würden alle erheblich profitieren können, denn so können ganz unterschiedliche Dinge getan werden. Wer sich auf eine solche Vorgehens- und Arbeitsweise einlässt, überwindet eingefahrene Muster und erschließt sich neue Wege. 

Charismen brauchen Räume, in denen sie sich entfalten können 

Damit Bezüge in die Lebenswelten der Menschen gelingen können, mit denen sich die katholische Kirche in den letzten Jahren in den deutschsprachigen Kontexten immer schwerer zu tun scheint, ist es nicht damit getan, allein auf die Charismen der Mitglieder zu setzen. Diese brauchen zur Entfaltung ihrer Charismen entsprechende Autorisierung und den dazugehörigen Raum. Für beides ist es unerlässlich, dass in einem Modus der wechselseitigen Ermöglichung, Unterstützung, kritischen Begleitung und Wertschätzung gearbeitet wird. Dies gilt für die Arbeit der Hauptamtlichen wie der Ehrenamtlichen in der Pastoral gleichermaßen. Und noch etwas gehört unbedingt dazu: Mögliche Fehler sollten nicht übelgenommen werden. Ohne ein gutes Maß an Fehlerfreundlichkeit werden erfahrungsgemäß zukünftige Möglichkeiten von Beginn an eingeschränkt. Oder anderes formuliert: Wenn man Fehler nicht als Übel betrachtet, wird Zukunft zu etwas mit Handlungsspielraum und Perspektiven, die Basis für einen kreativen Prozess und nicht zu etwas, vor dem man sich fürchten muss. Insofern wird eine Pastoral, die auf Charismen baut, den Modus der Masterpläne verlassen und sich auf ganz unterschiedliche Experimente und Projekte einlassen. In solchen Kontex ten werden bekannte Muster und Routinen bewusst verlassen und die Zukunft zu einem Abenteuer der Hoffnung und Möglichkeiten. Man setzt nicht mehr auf das, was bekannt ist und gestern erfolgreich war, sondern rechnet mit Charismen, bietet ihnen Raum zur Entfaltung, heißt sie willkommen, fördert sie und lässt sich somit auch auf Risiken ein. 

Charismen brauchen Ziele, an denen sie sich messen können 

Wer in der Pastoral auf Charismen setzt, kommt nicht umhin Ziele zu formulieren, und diese werden sich unweigerlich über die Vorgaben des Jahreskreises hinausbewegen. Die Themen vor Ort werden im Zusammenhang einer charismenorientierten Pastoral zum Ausgangspunkt der Schwerpunktsetzungen. Diese sind geradezu erforderlich, damit gesehen werden kann, welche Gaben gebraucht werden. Und natürlich werden dementsprechend Profile geschärft. Ein solcher Zugang kann sicherstellen, dass Charismen entdeckt, gefördert und eingesetzt werden. So kommen alle Berufenen im Volk Gottes als Träger/-innen von Charismen in den Blick und diese entdecken Orte und Themen, an denen genau ihr Charisma gefragt ist. In diesem Bewusstsein wird ein lebendiger Beitrag zur Vergegenwärtigung des Evangeliums möglich, der die Routinen und bekannte Sozialformate übersteigen kann, am gemeinsamen Priestertum aller festhält und sich in den Dienst der Verkündigung des Reiches Gottes an unterschiedlichen Orten und in verschiedenen Formaten stellt. Zusammenfassend lassen sich fünf Aspekte für eine charismenorientierte Pastoral formulieren, die ermutigen, die erhaltene Gnadengabe nicht zu vernachlässigen (1 Tim 4,14): 1. Jede/r ist wichtig. 2. Charismen sind nicht nur Besitz, sondern auch Auftrag. 3. Was getan wird, hängt von dem ab, was gekonnt wird, Freude macht und welche Ziele man verfolgt. 4. Charismen brauchen wechselseitigen Respekt und die Vernetzung. 5. Institutionell sind Handlungsspielräume zur Charismenentfaltung bereitzustellen und fortlaufend neu zu entdecken. Auf dieser Basis kann es gelingen, dass die Frage nach der Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche positiv beantwortet wird. Das aktivierende, herausfordernde und belebende Potential der Charismen ist als Ressource im Volk Gottes vorhanden, es bedarf allerdings des Mutes, sich dieser Kraft zu überlassen. Wie das umgesetzt werden kann, sehen wir gerade bei Papst Franziskus und wir täten gut daran, ihm in dieser Weise zu folgen, jede/r mit dem ihr/ihm eigenen Charisma im Dienst des einen Geistes. 

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

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