Kommunikative Glaubensmilieus sind jene Lern- und Lebensräume des Glaubens, in denen Menschen die persönliche Bedeutung des Glaubens für ihr Leben ausdrücklich ins Gespräch bringen; also z. B. durch das Mitteilen von eigenen Lebens- und Glaubensgeschichten; durch das wechselseitige Deuten besonderer Ereignisse unseres Lebens und unseres Alltags im Licht des Glaubens; durch gemeinsames Singen, Beten, „Bibel- Teilen" und Gottesdienstfeiern; durch geistliche Initiativen wie „Exerzitien im Alltag" oder Glaubenskurse, die bei den persönlichen Erfahrungen und Fragen der Einzelnen ansetzen; auch durch das damit oft verbundene gemeinsame Begehen von Festen und das gastfreundliche Teilen von Speis und Trank; oder auch durch die vom Glauben motivierte und inspirierte Sorge um ein gemeinsames soziales oder politisches Projekt; schließlich durch gemeinsames Pilgern zu großen oder kleinen heiligen Orten des Glaubens usw.
Was all diese „Glaubenszellen", die es innerhalb wie außerhalb der „neuen Geistlichen Gemeinschaften" gibt (diese spielen dabei so etwas wie eine inspirierende Vorreiterrolle), von den Kleinen Christlichen Gemeinschaften unterscheidet, kommt am treffendsten in dem Begriff zum Ausdruck, den Bischof Joachim Wanke aus Erfurt für sie gefunden hat: Er nennt sie die „Selbsthilfegruppen im Glauben". Es sind Gruppen, in denen sich von überall her solche Menschen sammeln, die über den Rahmen ihres normalen Gemeindelebens hinaus nach einer existentiellen Vertiefung im Glauben suchen; und dies nicht nur punktuell, sondern auf Dauer oder zumindest doch für einen längeren Zeitraum. Solche Gruppen sind für sie lebensnotwendige „spirituelle Tankstellen" (Christian Hennecke), die ihr religiöses Leben vor dem Austrocknen bewahren.
Was ist das ekklesiologisch Besondere dieser Glaubenskreise? Es liegt - nach der französischen Religionssoziologin Danièle Hervieu-Léger - u. a. in der neuen Weise, wie sich hier Menschen im Kontext von Kirche ihres Glaubens vergewissern,wie sie darin Bestärkung und Bestätigung erfahren (frz.: „validation" im Glauben); unterscheidet sich diese Art und Weise doch sehr deutlich von den beiden traditionellen Formen kirchlich-gemeindlicher Glaubensvergewisserung. Da gibt es zum einen die institutionelle Vergewisserung (validation institutionelle); sie geschieht v. a. durch regelmäßige Teilnahme an den sakramental-rituellen Vollzügen der Kirche, durch die lebenspraktische Zustimmung zu ihren Traditionen und Normen und durch den Kontakt zu ihren hauptamtlichen Repräsentanten. Diese Form der Glaubensvergewisserung nimmt jedoch rapide ab. Sie wird auf Dauer kaum mehr die dominante sein.
Zum anderen ist uns auch die sogenannte gemeindliche Vergewisserung (validation communautaire) vertraut, die sich durch eine längere Zugehörigkeit zu einer oder mehreren gemeindlichen bzw. verbandlichen Gruppierungen ganz selbstverständlich ergibt (z. B. für die Mitglieder im Kirchenchor, in den Jugendgruppen, in Familienkreisen, im Seniorenclub etc.). Die mit einer solchen Zugehörigkeit einhergehende Übernahme bestimmter religiöser Überzeugungen und Lebensstile bildet - meist ohne allzu großen individuellen oder gemeinsamen Aufwand an Reflexion - das Fundament der Vergewisserung im Glauben. Aber auch sie ist stark im Schwinden begriffen.
Demgegenüber formiert sich nun seit einigen Jahrzehnten in den sog. „Selbsthilfegruppen im Glauben" mehr und mehr eine davon sehr verschiedene, für katholische Gläubige des traditionellen Stils weithin ungewohnte Weise solcher Glaubensvergewisserung: nämlich die wechselseitige Vergewisserung (validation mutuelle): Der eigene Glaube wird Thema eines geistlichen Austauschs. Man spricht miteinander über den persönlichen Glauben und bezeugt ihn einander. Das erfordert natürlich einen viel größeren Einsatz an persönlicher Glaubensreflexion und zugleich an Bereitschaft, sich in diesem Bereich anderen zu öffnen und mitzuteilen.
Durch diese Weise der Vergewisserung im Glauben erhält das gesamtkulturelle Phänomen der Individualisierung von Überzeugungen und Lebensstilen allmählich auch eine sehr beachtenswerte innerkirchliche Sozialform oder es entstehen sogar neue „Milieus". Darin dürfte wohl auch die hohe Attraktivität solcher Gruppen für jene Menschen liegen, die nicht den traditionellen, gleichsam „naturwüchsigen" Sozia- lisationsprozess in Gemeinden oder Verbänden durchlaufen haben, eben für „Pilger und Konvertiten". Für sie bieten die neuen Gemeinschaftsformen eher den Weg einer existentiellen Initiation in den Glauben, der der jeweiligen Glaubensbiographie entspricht und zugleich eine bewusste Option für den Glauben der Kirche herausfordert.
Das ekklesiologisch Unterscheidende
Gegenüber dieser kurz skizzierten Sozialform von Kirche gehen die Kleinen Christlichen Gemeinschaften noch einige kräftige Schritte weiter, und zwar in Richtung einer neuen „Ekklesiogenese" (Kirchewerden). Denn im Unterschied zu den genannten Selbsthilfegruppen im Glauben wollen sie bewusst keine kirchlichen „Wahlgemeinschaften" sein, also keine speziellen Personalgemeinden, sondern „Berufungs-Gemeinschaften" im Sinn einer Kirche vor Ort, also Kirche im Nah- und Wohnbereich der Menschen. Spezifisch für diese Art, Kirche zu sein, ist die unlösbare Verbindung von Sammlung um das Wort Gottes und Sendung zu all den Menschen, die im Umfeld dieser sich sammelnden „Hauskirche" leben; eine Sendung, die sich gerade im großen Feld der Alltagsdiakonie bewährt. Denen, die eine solche Kleine Christliche Gemeinschaft initiieren oder mittragen, geht es also nicht primär um geistliche Nahrung für den Einzelnen oder um eine tiefere Gemeinschaftserfahrung gegenüber jener in den normalen Gemeinden, sondern v. a. um eine neue Vision von Kirche als erfahrbare Communio. Sie wollen die Ansätze des Konzils weiterdenken und weiterführen. Es ist die Vision einer „Kirche in der Nachbarschaft" - ganz wörtlich verstanden.
Diese Vision wird in einem neueren Grundsatztext zum pastoralen Modell der Kleinen Christlichen Gemeinschaften in Deutschland so beschrieben: „Die Kleinen Christlichen Gemeinschaften sind Orte, wo Christinnen und Christen danach suchen, wie sie verbindliche Gemeinschaft, biblisch fundierte Spiritualität und diakonisches Engagement leben können. Darüber hinaus sind sie gekennzeichnet durch eine wachsende Auskunftsfähigkeit im Glauben, einen partnerschaftlichen Leitungsstil und die Suche nach einem Einklang von Glaube und Leben".
Zweifellos haben solche Gemeinschaften vieles gemeinsam auch mit den neuen Geistlichen Bewegungen; was sie jedoch auch von ihnen deutlich unterscheidet, ist genau diese Betonung der Territorialität von Kirche: Während die geistlichen Bewegungen und Gemeinschaften spirituell intensive Personalgemeinden sind, wollen die Kleinen Christlichen Gemeinschaften an dem Ort, wo ihre Mitglieder wohnen und leben, sich in einer neuen Form von Kirche sammeln und für die Menschen eben dort dasein, ob sie zur Kleinen Christlichen Gemeinschaft gehören oder nicht.
Genau in diesem Punkt sehe ich die große Herausforderung der Kleinen Christlichen Gemeinschaften für die deutsche Kirche, die momentan in einem tiefgreifenden und die Gemüter allerorten bewegenden Umstrukturierungsprozess von Gemeinden und Pfarreien steht. Diese Prozesse zielen ja zunächst einmal auf größere pastorale Räume ab (von lockeren Pfarrverbänden über verbindliche Pfarreiengemeinschaften bis hin zu Fusionen von Pfarreien). Aber dabei droht - so fürchten es jedenfalls viele Priester, pastorale Mitarbeiter und Gläubige - gerade der lokale Nahbereich unter die Räder zu kommen. Im Blick auf diese Problematik fokussiere ich das mir gestellte Thema auf die Frage: Hat das Projekt der Kleinen Christlichen Gemeinschaften in diesem großflächigen Veränderungsprozess überhaupt eine Chance? Hat es darin einen zukunftsträchtigen Platz? Ist heute wirklich ein Kairos gegeben, dieses Projekt mit allem Elan voranzutreiben, oder werden die kleinen, hoffnungsvollen Ansätze doch bald im Keim erstickt sein oder auf eine ferne Zukunft verschoben? Gerade im Blick auf die Kleinen Christlichen Gemeinschaften, wie sie in den Ländern der südlichen Hemisphäre in den letzten Jahrzehnten aufgeblüht sind, hört man bei uns doch recht häufig ein resignatives „Das geht bei uns so nicht".
Chancen „Kleiner Christlicher Gemeinschaften"
Wenn wir uns dieser Entwicklung des kirchlichen und gemeindlichen Lebens hier in ganz Mitteleuropa ehrlich stellen und sie weder verdrängen noch schönreden wollen, bleibt uns wohl nichts anderes übrig als das bisherige Modell der „Pfarrgemeinde" als Basisgröße von Kirche zu relativieren und „Kirche vor Ort" dual oder polar zu denken und zu gestalten. D. h.: auf der einen Seite kommen wir nicht umhin, auch vor Ort größere Einheiten zu bilden, um so die Menschen, die nach Seelsorge (in welcher Form auch immer) suchen, unabhängig vom Grad ihrer persönlichen Bindung an die Pfarrei (also z. B. die „treuen Kirchenfernen") auch in der Fläche noch einigermaßen pastoral zu erreichen. Großräu- mig konzipierte Seelsorge bildet die Basis für eine „Pastoral der Weite" oder „Pastoral mit Breitenwirkung". Ekklesiologisch betrachtet kann hier Kirche als Sakrament des universalen Heilswillens Gottes deutlicher als bislang erfahrbar werden - eben durch die Eröffnung größerer Spielräume für neue Projekte und Initiativen, die durchaus allen bisher relativ selbständigen Gemeinden vor Ort zugute kommen können.
Damit kommt die andere Seite der geforderten Polarität im Konzept einer „Kirche vor Ort" ins Spiel, nämlich die Kunst, vor lauter großräumigem Konzipieren nicht den gemeindlichen Nahbereich aus den Augen zu verlieren. Wir dürfen nicht all das wieder aufgeben, was die nachkonziliare Umgestaltung von Pfarreien zu „Pfarrgemeinden" an gemeinschaftlichem kirchlichem Leben gebracht hat. In diesem Punkt können wir auch in Deutschland nicht nur einiges von den radikalen Umstrukturierungen der französischen Diözese Poitiers lernen, sondern gerade auch von den Kleinen Christlichen Gemeinschaften in den Kirchen der südlichen Kontinente. Wie dort könnte auch bei uns in die pastorale Leerstelle, die durch den Wegfall von ständig präsenten Priestern oder pastoralen Mitarbeitern entsteht, so etwas wie eine „von unten", also von den Gläubigen vor Ort getragene „Pastoral der Dichte" oder „Pastoral mit Tiefenwirkung" einrücken.
Der ekklesiologische Sinngehalt dieser Kirche vor Ort könnte darin liegen, dass Kirche hier noch am ehesten als „Familie Gottes" (familia Dei) erfahren werden kann (vgl. LG 6 und die große römische Afrika-Synode von 1994, für deren Ekklesiologie der Begriff der „Familie Gottes" ganz zentral gewesen ist). Es geht um die neue Familie Jesu, die er um des Reiches Gottes willen um sich als lebendig erfahrbare Mitte sammelt; deren ekklesiologisches Sammlungsmerkmal ist also das Hören auf das Wort Gottes. Genau das hat die Kirche in Afrika und in anderen südlichen Kontinenten mit ihren Kleinen Christlichen Gemeinschaften aufgegriffen: Das miteinander in der Heiligen Schrift gelesene oder erzählte, existentiell aufgenommene, einander bezeugte und ins diakonische Handeln im Alltag umgesetzte Wort Gottes - das bildet die sammelnde und sendende Mitte der Kleinen Christlichen Gemeinschaften.
Ich kann mir vorstellen, dass diese Sammlung um das Wort Gottes und die davon ausgehende Sendung auch bei uns das profilgebende theologische Charakteristikum von Kirche im Nahbereich werden kann. Für dieses Projekt glaubende Menschen vor Ort zu begeistern - z. B. einige Familien im Umfeld von Kindergarten oder im Rahmen der Vorbereitung von Kindern und Jugendlichen auf die Taufe, auf Erstkommunion und Firmung, aber auch sonstige Gläubige, die auf der Suche nach einer tragenden und nährenden Gemeinschaft im Glauben sind - sie alle für diese vom Wort Gottes getragene Sammlung und Sendung zu gewinnen und sie zu schulen, solche „Ecclesiolae" zu bauen, das dürfte in Zukunft wohl eine entscheidende Aufgabe aller hauptamtlich in der Pastoral Tätigen sein.
Ein neuralgischer Punkt
Fast am Ende meiner Überlegungen komme ich auf einen neuralgischen Punkt dieses Themas zu sprechen, der mich aber trotzdem auch wieder zu einer verhaltenen Hoffnung und einer etwas gewagten Perspektive anregt. Mit dem Stichwort „Hauptamtliche" unserer Kirche (die durchweg eine gute Arbeit leisten!) berühre ich einen Punkt, der es m. E. so schwierig macht, dass sich die Kleinen Christlichen Gemeinschaften hier bei uns in größerem Stil ausbreiten. Worum geht es?
Nun, die kirchliche Mentalität der meisten Gläubigen hierzulande ist durch eine starke, jahrhundertealte und kirchlicherseits gepflegte Fixierung auf den Priester (Pfarrer) und inzwischen auch auf seine hauptamtlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen geprägt. Ihnen in der Pastoral zu helfen und ehrenamtlich mitzuarbeiten, dazu sind, Gott sei Dank, immer noch viele bereit. Aber eine eigene Kompetenz für den Aufbau der Kirche anzuerkennen (wie sie LG 32 allen Gläubigen zuspricht) und auch eine eigene Verantwortung dafür zu übernehmen, das trauen sich noch relativ wenige Gläubigen bei uns zu. Diese Mentalität aufzubrechen und einen Bewusstseinswandel etwa in Richtung auf die Kleinen Christlichen Gemeinschaften hin herbeizuführen, ist außerordentlich schwierig. Unsere Priester und die pastoralen Mitarbeiter sind ja großenteils selbst von diesem Bewusstsein geprägt und viele von ihnen kennen genauso wenig wie die meisten Gläubigen eine andere Sozialform von Kirche, also weder die Selbsthilfegruppen im Glauben noch die Kleinen Christlichen Gemeinschaften. Was ist da zu tun?
Wir sind hier auf längere Sicht auf einen verstärkten personellen Austausch mit den Christen in Asien, Afrika und Lateinamerika angewiesen. Darauf stützt sich meine „verhaltene Hoffnung". Ich könnte mir zwei Modelle vorstellen, die einander ergänzen:
Zum einen: Der Aussendung der europäischen Missionare und Missionarinnen in diese Kontinente im 19. und 20. Jahrhundert könnte im 21. Jahrhundert eine entsprechende in die umgekehrte Richtung zielende, durchaus auch zeitlich begrenzbare Aussendung von Christen aus diesen Kirchen (nicht bloß Priestern und Ordensleuten) antworten, und zwar von solchen Gläubigen, die in einer solchen Kleinen Christlichen Gemeinschaft leben; eben zum Zweck der Neuevangelisierung und „Neugründung" unserer Gemeinden im Geist der Kleinen Christlichen Gemeinschaften.
Zum anderen: Umgekehrt könnten zugleich immer mehr Christen aus Deutschland von unseren Bistümern und Pfarreien, von Orden und neuen geistlichen Gemeinschaften in diese Kirchen Afrikas, Asiens, Lateinamerikas und Ozeaniens ausgesandt werden, um sich dort eine Zeit lang kirchlich zu inkulturieren und aufgrund ihrer dort gemachten Kirchenerfahrungen hier bei uns die Herkulesarbeit des Aufbaus neuer kirchlicher Gemeinschaftsformen vor Ort auf sich zu nehmen.
Bei beiden Modellen könnten die neuen Geistlichen Bewegungen mit ihrer internationalen Verbreitung in Zukunft eine ähnliche Vorreiterrolle spielen, wie sie es vor einigen Jahrzehnten beim Entstehen der Selbsthilfegruppen im Glauben getan haben. Denn bei ihnen und in ihrem näheren Umfeld dort findet man wohl noch am ehesten (zumal bei den jungen Christen) ein hohes Bereitschaftspotential, sich um des Glaubens und der Kirche willen - körperlich wie geistlich - in Bewegung bringen zu lassen.