Fazit
Ich bin davon überzeugt, dass der Weltjugendtag es vielen jungen Menschen ermöglicht, Glaube und Kirche neu zu entdecken, weil Kirche Gesicht bekommt und als weltweites Netz des Glaubens und der Hoffnung erfahren wird. Das personale Angebot bleibt für die Zukunftsfähigkeit von Glaube und Kirche entscheidend.
Seit Jahren begleitet mich ein kleiner Text, der mich immer neu herausfordert in der Begegnung mit jungen Menschen. Es sind Zeilen von Thomas Brasch mit der Überschrift „Lied" aus einer Sammlung von Texten mit dem bezeichnenden Titel „KARGO - 32. Versuch, auf einem sinkenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen":
„Was ich habe, das will ich nicht verlieren,
aber
wo ich bin, da will ich nicht bleiben,
aber
die ich liebe, will ich nicht verlassen,
aber
die ich kenne, will ich nicht mehr sehen,
aber
wo ich lebe, da will ich nicht sterben,
aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin."
Auch wenn diese Gedanken einige Jahrzehnte alt sind, stellen sie doch sehr aktuell das Lebensgefühl junger Leute dar in deren Suche nach einem Ort, einer Bleibe, einer Identität, die immer noch einmal anders ist als die berechnete. So ego-taktisch junge Leute heute ihren Weg planen mögen, oder so orientierungslos oder perspektivlos - ort-los - viele ihrer Altersgenossen durch die Maschen der Gesellschaft zu fallen drohen: die Sehnsucht nach einem ,ganz anderen' Ort bleibt, ausgedrückt in tausend verschiedenen Formen der Suche, so verschieden, wie junge Leute es nun einmal sind.
Wie sollte es auch anders sein, wenn die Jugendphase heute von zwölf bis 30 Jahre angenommen wird. Hinzu kommt, dass bei der gegenwärtigen demographischen Entwicklung Jugend „Mangelware" wird, „Jungsein" aber umso mehr ein Ideal bis ins (immer höhere) Alter bleibt. Jugend ist schon lange nicht mehr einfach eine Übergangsphase zwischen Kindsein und Erwachsensein. Sie ist eine eigenständige und vielgestaltige Größe unserer Gesellschaft, die mit Recht ihren eigenen Raum beansprucht, Raum, der der großen Sehnsucht nach persönlicher Freiheit genauso entspricht wie der Sehnsucht nach Zugehörigkeit, nach Gemeinschaft, nach einem WIR, das so schwer zu leben ist, wie die Verse von Thomas Brasch deutlich machen. Je mehr Beziehungen, Bindungen und Familien zerbrechlicher werden, desto mehr wächst eine Sehnsucht nach verlässlichen, echten, „ganz anderen" Erfahrungen von Lebensräumen, wobei Familie immer noch (und immer wieder) hoch im Kurs steht, so unterschiedlich ,Familie' auch verstanden wird.
Leerraum wird größer
Sehnsucht nach Lebensraum wird auch dadurch verstärkt, dass der „Raum", die Schere zwischen den Angeboten auf dem Markt der Möglichkeiten und dem Nichtmehr- Erreichen dieser Möglichkeiten für einen großen Teil der Jugend größer wird. Gefährliche soziale Spannungen entstehen, die den Leerraum zwischen Angebot und Erreichbarem - sagen wir ruhig: zwischen reich und arm -, zwischen Habenwollen / Habenmüssen und Habenkönnen explosiv machen.
Fakten dazu liegen reichlich auf dem Tisch: Jeder vierte Hauptschüler im Alter von 15 Jahren kann nur sehr begrenzt schreiben, lesen und rechnen (vgl. Rheinische Post, 27. Oktober 2004). Nach Einschätzung von Ausbildungsbetrieben sind rund 20 Prozent der Jugendlichen aufgrund mangelnder schulischer Leistung „nicht ausbildungsfähig" - ein schreckliches Wort für einen beängstigenden Befund. Jeder fünfte Jugendliche in Deutschland verlässt die Schule ohne Abschluss oder bricht die Ausbildung ab. Schließlich bleibt jeder siebte Jugendliche gänzlich ohne Ausbildung (vgl. DBK, Kommission für Erziehung und Schule, Den Schüler stark machen,Werkstattgespräch am 2. Juni 2004 in der Kath. Akademie Hamburg). Nach neuesten Angaben des Statistischen Bundesamtes sank der Anteil der erwerbstätigen jungen Menschen im Alter von 15 bis 29 Jahren von April 1991 bis Mai 2003 in Deutschland drastisch von 63 Prozent auf 48 Prozent. Ein wichtiger Grund für diese Entwicklung: fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten (vgl. Stimme der Familie, H. 7- 8/2004, S. 14). Hinzu kommt, dass Kinder aus sozial schwachen Familien deutlich schlechtere Chancen haben als Gleichaltrige aus gut situierten Verhältnissen (vgl. Shell-Studie/PISAStudie). Man kann schon nachdenklich werden angesichts der Millionen und Milliarden Euro, die bereitwillig in die Bildungselite investiert werden, während „durch Hartz IV Kinder und Jugendliche in einer Größenordnung von Hunderttausenden in die Sozialhilfe und damit in die Armut gedrängt werden", so der Leiter des Jugendpastoralinstituts in Benediktbeuern, Winfried Voggeser (in seiner Besprechung des Heftes „Kindheit und Armut" der Zeitschrift Unsere Jugend / 2004, H. 7+8, erschienen im Jugendpastoral Literaturdienst 5 / 2004, S. 6).
Teilhaben lassen am eigenen Leben
Das Labyrinth jugendlicher Erfahrungen heute braucht einen „roten Faden" (Ariadnefaden). Zwar erspart der niemandem das Labyrinth, auch nicht die Auseinander- setzung und den Kampf mit dem „Minotaurus" widerständiger Situationen, aber solch ein Faden kann ermutigen im Ringen um den richtigen Weg inmitten der Gefahr, sich heillos zu verirren.
„Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin." - Bleiben will ich, wo ich nicht allein gelassen bin mit meinen Grundfragen: Wie gelingt mein Leben - wie werde ich selbstfähig? Wie gelingen meine Beziehungen - wie werde ich beziehungsfähig? Wie gelingt meine Zukunft - wie werde ich zukunftsfähig? Welchen Sinn hat das alles, wie hängt das alles zusammen, gibt es einen Halt oder gar einen Gott - wie werde ich sinnfähig / gottfähig? - Eine Bleibe finden werden junge Leute nur dort, wo diese Grundfragen ernst genommen werden, einen Widerhall finden und vielleicht sogar eine Antwort.
Dieser Widerhall gelingt nicht in toten Räumen, die Gemeinden sich auf jugendliches Drängen hin abringen lassen oder die sie notgedrungen freigeben, um die Jugend von der Straße zu bekommen. Er gelingt nicht, wenn nur über Jugendliche geredet und verhandelt wird, aber nicht mit ihnen. Dieser Widerhall gelingt nur, wenn den jungen Leuten menschlicher Raum gegeben wird: Raum zum Suchen und Fragen, zum Ausprobieren und Herausfordern, Raum zur Erfahrung von Zuwendung und Grenzen, Raum aus menschlicher Nähe. Nähe, die nicht desinteressiert ist und nicht vereinnahmt, die den jungen Menschen um seiner selbst willen annimmt und bejaht. „Personales Angebot" nennen wir das seit über 30 Jahren. Angebot von Menschen, die personale Nähe wagen, die in Kirche und Gemeinde den Grundsatz des Paulus leben: Ich wollte euch nicht nur am Evangelium Gottes teilhaben lassen, sondern an meinem eigenen Leben (vgl. 1 Thess 2,8). Wo Kirche sich nicht in Gesichtern, in lebendigen, glaubwürdigen nüchtern-leidenschaftlichen Christen zeigt, wird es schwer sein, jungen Menschen eine Bleibe zu bieten.
Biblischer Widerhall
Die Schriften des Neuen Testaments halten eine Reihe von Paradigmen bereit, wie sich Lebensräume des Glaubens, kleine Biotope christlicher Erfahrung bilden können.
Der Dialog zwischen Jesus und den beiden Johannesjüngern im ersten Kapitel des Johannes-Evangeliums, den der Papst den „Beginn eines großen Abenteuers" nennt, ist so ein „Modell" (Joh 1,35-39):Was sucht ihr?, fragt Jesus die beiden. Er setzt bei ihrer Suche an! Prompt antworten sie - typisch für junge Leute - mit einer Gegenfrage: Wo wohnst du? Wo ist deine „Bleibe"? Woraus lebst du selbst? Was suchst du selbst denn eigentlich? Jesu Antwort ist die Einladung: Kommt und seht! - Sie gingen mit und blieben. Sicher nicht, weil Jesus eine beeindruckende Wohnung gehabt hätte, sondern weil er bei den Menschen zu Hause war und spürbar auch bei einem Größeren, den er seinen Vater, ja „Papa" nannte.
Das Emmaus-Erzählung im Lukasevangelium enthält ebenso wichtige Schritte auf dem Weg hin zu einer Bleibe (Lk 24,13-35): Christus geht mit den Enttäuschten, Ratlosen, „Entfernten", er interessiert sich (= ist dazwischen), fragt, wo der Schuh drückt, und lässt sich fragen, macht keinen Hehl aus dem eigenen Standpunkt (Authentizität) und lässt durch seine eigene Lebendigkeit Eis und Coolness schmelzen, so dass die Herzen zu brennen beginnen. Ja, die Jünger bitten ihn sogar: Bleib doch bei uns! Diese Einladung ist der entscheidende Schritt. Und Jesus bleibt, wenn auch völlig anders als erwartet: im Brotbrechen - aber eben doch in einem Urzeichen seines Lebensangebots, das den Jüngern nicht fremd ist. So werden sie zu einer Erzählgruppe, brechen selbst auf und erleben im Gehen und in der Begegnung mit den anderen die Wahrheit ihrer Erfahrung.
Oder Paulus. Er wagt sich, wie die Apostelgeschichte berichtet, auf die Agora, den Marktplatz in der bunten Stadt Athen, dorthin, wo die Menschen sind (Apg 17,22-34). Er schaut sich genau ihre Lebenskultur an, interessiert sich für ihr Leben und spricht sie auf dem Areopag, dem Kommunikationszentrum Athens, an. Er greift ihre Erfahrungen auf und verstärkt sie durch seine eigenen. Freilich muss er sich dann am entscheidenden Punkt, als es um Kreuz und Auferstehung geht, sagen lassen: Davon wollen wir ein anderes Mal hören. - Er hat in Athen zwar nur sehr geringen Erfolg in seinem Mühen, Menschen von einer allgemeinen Religiosität zu einem persönlichen Glauben zu begleiten. Aber er gibt nicht auf. Und die wenigen, die er gewinnt, sind mit Namen genannt und tragen künftig Gemeinde mit.
Nicht zuletzt lassen sich in der Leitgeschichte des bevorstehenden Weltjugendtags Erfahrungen junger Leute von heute wiederfinden (Mt 2,1-12): In den Drei Weisen begegnen wir Menschen mit sehr verschiedenen Erfahrungen, die verbunden sind durch einen gemeinsamen Orientierungspunkt, einen „Stern", der sie zusammenführte zu einer gemeinsamen Suche. Beim Weltjugendtag lassen sich junge Leute einladen und machen sich auf den Weg - zum Teil unter großen Strapazen -, die alle auf ihre Weise (bewusst oder unbewusst) von der Frage beseelt sind: Wo ist er denn, der, von dem so viele reden, dieser Christus, von dem die Kirche andauernd spricht? Wo ist er zu finden in der dramatischen Lage der Welt im Großen wie im Kleinen? Wo ist er, wenn Menschen leiden und verhungern, sich gegenseitig umbringen oder Naturkatastrophen zum Opfer fallen? Wo ist er trotz alledem zu finden? Wo und wie zeigt er sich?
Und sie geraten an Leute in Jerusalem, der fest gefügten Stadt, die zwar Wissende sind, sich aber nicht bewegen, die zwar richtige Auskünfte geben, aber den Weg nicht selbst gehen, die sich freundlich und hilfsbereit geben, aber ganz andere Absichten verfolgen. Ob junge Leute unserer Tagen das nicht oft auch in Kirche oder Gesellschaft erleben: unbewegliche, unglaubwürdige, doppeldeutige, letztlich an ihrer Suche nicht wirklich interessierte Menschen? Gut, dass junge Leute mit ihrer ehrlichen und unbefangenen Art die auf den Thronen - auf welchen Thronen auch immer - zum Erschrecken bringen; gut, dass sie über die bösen Absichten den richtigen Weg wiederfinden; gut, dass sie fasziniert von dem, was sie dann vorfinden, in die Knie gehen und nicht mehr vor irgendwelchen Menschen, Beziehungen oder Dingen, die sie bisher vereinnahmten, besetzten, ja vielleicht sogar gefangen hielten. Sie bringen das Ihre ein (hier Gold, Weihrauch und Myrrhe) und schaffen es, auf einem anderen Weg in ihr Land zurückzugehen.
Wo Kirche ein Gesicht bekommt
Ich bin davon überzeugt, dass der Weltjugendtag es vielen jungen Menschen ermöglicht, Glaube und Kirche neu zu entdecken, weil Kirche Gesicht bekommt, weil die weltweite Suche so vieler deutlich wird, weil die Teilnehmer in kleinen Gruppen ebenso wie in den Großveranstaltungen etwas von Glaube und Kirche erfahren, das sie besser „bleiben" lässt.
Junge Leute, die bereits durch das Symbol des Weltjugendtags- Kreuzes tief bewegt worden sind, weil es mit dem Ursprung des Glaubens und mit der weiten Welt verbindet, werden auch durch die Vor- und Nacharbeit des Weltjugendtags verstärkt spüren, dass es doch Raum gibt für sie, dass Kirche tiefer und weiter ist, als der kleine Horizont vor Ort es oft vermuten lässt. Freilich wird das nur geschehen, wenn die bewährten Formen der Jugendpastoral in ihrer ganzen Bandbreite mit einbezogen werden und sich einbeziehen lassen, und wenn die neuen Erfahrungen aus diesem Ereignis in die künftige Arbeit integriert werden. Wir
Einladen, gewinnen, begleiten
Genau 30 Jahre nach dem Synodenbeschluss über die kirchliche Jugendarbeit und nach dem Schreiben Papst Pauls VI. über die Evangelisierung in der Welt von heute (Evangelii nuntiandi) ist die Rede von missionarischer Kirche ,hoffähiger' geworden als zu Zeiten, da Mission einzig mit falscher Vereinnahmung gleichgesetzt wurde. Einladende, gewinnende, begleitende, Raum gebende Kirche mit großer Tiefe in der Verwurzelung und großer Weite in der Offenheit, Kirche, die den Glauben vorschlägt (proposer) und als Lebensraum anbietet - auch für ,seltene Vögel' (vgl. das Gleichnis vom Senfkorn und vom Baum) -, ist auch für junge Leute zukunftsfähig.Wenn auch nicht so sehr mit großen Zahlen, so doch voller überschaubarer, lebendiger Zellen innerhalb größerer pastoraler Räume. Nur so wird eine „Großraumpastoral" die notwendige Verörtlichung des Glaubens und des Lebens erhalten: mit Orten, die es jungen Menschen ermöglichen zu „bleiben", wo sie noch nie gewesen sind.