Hinter die Bilder schauenKino als Kathedrale

So wie die Kinderzimmer voller Heiligtümer sind, die unsere tiefe Sehnsucht in nicht religiösen Symbolen ausdrücken, so findet sich in vielen Filmen eine religiöse Spur, die in der Pastoral freigelegt werden kann. In einer mystagogischen Praxis können wir hinter die Bilder schauen und die Tiefendimension unseres Lebens erkennen. Jene befreiende Dimension der Selbstwerdung und der Solidarität, die auch in der Lebensschule Jesu aufscheint.

Fazit

Kunst kann ein Eingangstor zur Religion sein. In vielen Filmen lässt sich die Tiefendimension unseres Lebens finden, die sich im Staunen, in der verwandelnden Kraft der Liebe, im Widerstand und im ganzheitlichen Angerührtsein findet. In einer mystagogischen Haltung können wir hinter die Bilder schauen und die religiöse Spur freilegen, auch dank dem Aufzeigen von verbindenden Motiven in der Bibel.

Ein Glücksfall: Mit fünfzehn Jahren habe ich in einem katholischen Internat der Christlichen Schulbrüder in Neuchâtel nicht nur einen befreienden Religionsunterricht erlebt, sondern auch eine Einführung in Filmkunde, die im Religionsunterricht integriert war. Ist dies einer der wesentlichen Gründe, warum ich bis heute leidenschaftlich gerne ins Kino gehe? Da habe ich gelernt, hinter die Bilder zu schauen und die Sehnsucht nach dem Religiösen nicht nur in bekannten religiösen Symbolen zu suchen, sondern auch verschlüsselt in existenziellen Themen. Die Mystikerin Madeleine Delbrêl (1904-1964) nennt „die Kunst als eine Form von Religion". Ich stimme ihr zu. Die Kunst kann ein Eingangstor zur Tiefendimension des Lebens sein, wie ich sie dann auch später im Theologiestudium in der inspirierenden Mystagogie von Karl Rahner entdeckt habe. Er erinnert uns an die Hoffnung, dass Gott als tiefes Geheimnis in jedem Menschen lebt. Wir müssen den Menschen Gott nicht bringen, sondern seine Gegenwart freilegen. Unsere Aufgabe besteht darin, einander aufzuzeigen, wie und wo wir mit dem Geheimnischarakter des Lebens in Berührung kommen und wie wir es suchen, hinterfragen und feiern können. In vielen Filmen finde ich einen Zugang zum Geschenkcharakter unseres Daseins und ohne jemanden vereinnahmen zu wollen, versuche ich, ihn religiös zu deuten. 

Gesucht: langweilige Filme 

Ich schaue mir am liebsten jene Filme an, in denen mir Zeit gelassen wird, um die Bilder wirklich anschauen zu können, damit ich hinter die Bilder sehen kann. Darum liebe ich langsame, langweilige (!) Filme, in denen mir eine lange Weile eröffnet wird, damit ich vom Unbegreiflichen ergriffen bin und auch meine Seele tief angerührt werden kann. Ich gehe leidenschaftlich gerne ins Kino, weil mir auch da mystische Erfahrungen geschenkt werden, unvergesslich-unbeschreibbare Momente, in denen ich voll da bin und ganz weg. Darum habe ich mir fast alle Filme von Ingmar Bergman, Jane Campion, Frederico Fellini, Werner Herzog, Jim Jarmusch, Aki Kaurismäki, Krzysztof Kieslowski, Pier Paolo Pasolini, Claude Sautet, Volker Schlöndorff, Andrej Tarkowski, Margarethe von Trotta, François Truffaut und Wim Wenders angeschaut. Ich entdecke eine religiöse Spur in diesen Filmen, weil ich aus dem Vertrauen lebe, dass Gottes Geist weht, wo er/sie will und dass sein heilender Atem unaufhaltsam wirkt. Der erfreuliche Erfolg vieler Dokumentarfilme, die wieder den Weg in die Kinos gefunden haben, erzählt von der Sehnsucht unserer Seele nach Wiederholung, nach stillen Bildern, die uns das Wesentliche im Leben aufzeigen. Unsere Seele holt sich immer wieder, was sie wirklich braucht zum Leben, was sinnstiftend und nährend ist. Denn ein spiritueller Mensch ist für mich jemand, der immer wieder wahrnimmt, was ist, um darin die göttliche Spur zu erkennen. Diese spirituelle Schule der Achtsamkeit und der Wahrnehmung kann dank vieler Filme in der pastoralen Arbeit eine gute Brücke sein, um das eigene Leben vertiefen zu können und um das Religiöse, die Rück-Verbindung zu entdecken. Anhand der folgenden vier spirituellen Grundhaltungen möchte ich diesen mystagogischen Zugang zum Film konkretisieren: 

Staunen als mystische Grundhaltung 

Dorothee Sölle nennt zu Recht das Staunen als erste mystische Grundhaltung. Dieses überwältigte Staunen durchbricht das oberflächliche Funktionieren und lässt uns erfahren, dass wir viel mehr sind als unsere Leistung. Die Filme „Die Geschichte vom weinenden Kamel" und „Die Höhle des gelben Hundes" der mongolischen Regisseurin Byambasuren Davaa, die in München lebt, ermöglichen eine wunderbare Hinführung zu einem alltäglichen Staunen, das zu einem einfachen Lebensstil bestärkt. Der eindrückliche Dokumentarfilm „Rivers and Tide" von Thomas Riedelsheimer eignet sich ausgezeichnet für eine spirituelle Wegweisung zum Staunen. Riedelsheimer porträtiert den Land-Art-Künstler Andy Goldsworthy, der „nur" aus all dem, was in der Natur herumliegt, Kunstwerke entstehen lässt. „Es gibt eine Welt, die über uns hinausweist", heißt seine Grundaussage, die ihn mit Gelassenheit annehmen lässt, dass seine Naturkunstwerke je nach Wetterbedingung nur kurze Zeit sichtbar sind. Eine staunende Dankbarkeit über die Wunder der Schöpfung, wie sie in vielen Psalmen aufscheint, findet sich auch in vielen Natur- und Tierfilmen, die immer mehr Menschen in ihren Bann ziehen. Filme wie „Mikrokosmos - Das Volk der Gräser", „Nomanden der Lüfte - Das Geheimnis der Zugvögel", „Die Reise der Pinguine" und auch der neue Film „Der Fuchs und das Mädchen" von Luc Jacquet können die Kunst des Staunens in uns erwecken. Ein Staunen, das uns zur Dankbarkeit und zu einer ökologischen Achtsamkeit führen will, wie sie auch in den Worten Jesu über die Vögel des Himmels in der Bergpredigt zu finden sind. Diese Filme sind empfehlenswert, auch wenn kritisch erinnert werden muss, dass die unberechenbare Härte der Natur, die zu einem entsetzten Staunen führen kann, manchmal zu wenig hervorgehoben wird. 

Zur Liebe verwandelt 

Unser Urwunsch nach Angenommensein, danach, geliebt zu werden und lieben zu können, ist natürlich ein zentrales Thema in vielen Filmgeschichten. Dem polnischen Regisseur Krzysztof Kieslowski gelingt es eindrücklich, dieses existenzielle Lebensthema in einem transzendentalen Stil zu zeigen. Seine Bildsprache, sein Spiel mit Licht und Schatten, mit den Farben und mit der Musik weist über die Bilder hinaus, in eine Ebene, die Türen zum Ewigen öffnet. Seine Trilogie „Blau-Weiß-Rot", seine zehn Filme zum Dekalog und sein wunderbarer Film „Die zwei Leben der Veronika" mit seiner erotischen Lebenskunst sind jetzt neu als DVD auch in deutscher Sprache erhältlich. In seinem Zehn-Gebote-Zyklus erzählt er Geschichten von Menschen, die in einer großen Wohnsiedlung mit Tausenden von Fenstern wohnen. Sein Dekalog ist keine Moralpredigt, sondern eine geniale Einladung, das Leben mit all seinen Facetten zur Sprache zu bringen. Seine Erzählweise lädt zur Identifikation ein, um sich in den Erfahrungen der Liebe, des Scheiterns, der Verwundbarkeit und des Verzeihens wiederfinden zu können. 

„Ich glaube, dass das Leben eines jeden Menschen bemerkenswert ist; es hat seine Dramen und seine Geheimnisse", schreibt Kieslowski zu seinen Dekalog-Aktualisierungen. Jeder Film beginnt mit dem Eindruck, dass die Hauptperson zufällig ausgewählt wurde und eine unter vielen ist. Die Hauptfiguren tauchen auch in den anderen neun Filmen wieder auf, damit das Verbindende aufgezeigt werden kann. „Alle Filme, die ich mache, sprechen von der Notwendigkeit sich zu öffnen, vom Bedürfnis zur Kommunikation auf einem tieferen Niveau, damit das Verbot aufgehoben wird, schwach sein zu dürfen", sagt Krzysztof Kieslowski kurz vor seinem Tod in einem Interview zu seinem gesamten Werk. Mich erinnern seine Worte an die vielen Heilungsgeschichten in den Evangelien, in denen Jesus die Menschen zu sich selbst, zu ihrem authentischen Dasein befreit. Die Filme von Kieslowski wie auch die Filme von Ingmar Bergman bieten vielfältige Zugänge zu biblischen Motiven, die existenziell vertieft werden können. 

Widerstand wagen 

„Widerstand und Ergebung" heißt die zentrale spirituelle Gratwanderung, die sich bei Ijob, bei Prophetinnen und Propheten, in mystischen Biografien und auch bei Dietrich Bonhoeffer finden lässt. Die Verwurzelung in einen Gott des Lebens, der aufruft, das „Leben zu wählen" (Dtn 30,19) fordert heraus, mit anderen gewaltfrei Widerstand zu wagen für Frieden in Gerechtigkeit und für die Bewahrung der Schöpfung. Erfreulicherweise findet sich diese ethische Ausdrucksweise einer mystischen Lebensgestaltung in vielen neueren Filmen. „Rosenstraße" heißt das Werk von Margarethe von Trotta, in dem im Winter 1943 Hunderte von christlichen Frauen in der Rosenstraße in Berlin stehen, um die Deportation ihrer jüdischen Ehemänner zu verhindern. Solidarität wird erfahrbar und am siebten Tag geschieht ein Wunder in dieser verdunkelten Zeit. Diese Widerstandskraft, die zu einem religiösen Weg gehört, findet sich auch in „Sophie Scholl. Die letzten Tage" von Marc Rothemund, in „Der Pianist" von Roman Polanski und besonders eindrücklich in „Der neunte Tag" von Volker Schlöndorff. Der luxemburgische Priester Henri Kremer erhält überraschend neun Tage Hafturlaub, um mit der SS zu kooperieren und um seinen Bischof zur Kooperation mit den Nazis zu bewegen. Sein Gewissensentscheid wird auch durch hervorragende Schauspieler hautnah erlebbar. All diese Filme eignen sich in der Jugend- und Erwachsenenbildungsarbeit als spannende Hinführungen zu ethischen Grenzthemen. 

Bewegender Glaube 

„Als mein Sohn Dimitri starb, haben alle geweint. Und ich? Ich stand auf und tanzte ... nur das Tanzen hat meinen Schmerz betäubt und wenn ich glücklich bin, ist es dasselbe", sagt der Grieche Alexis Sorbas im gleichnamigen Film von Michael Cacoyannis. Die Spur zu einem ganzheitlichen Glauben, den wir Menschen als Leib-Geist-Seele-Einheit erfahren können, findet sich in all den Filmen, in denen die Musik und der Tanz eine wichtige Rolle spielen. 

Seien es die beiden Filme von Norman Jewison „Anatevka - der Fiedler auf dem Dach" mit der bewegenden Geschichte des jüdischen Milchmanns Tevje und „Jesus Christ Superstar" mit seinen wunderbaren Songs oder der Musikfilm „Die Möwe Jonathan" von Hall Bartlett oder noch die Filmdokumentation „Rhythm is it!" von Thomas Grube und Enrique Sanchez Lansch rund um die Tanzperformance von 250 Kids und Teenagern zusammen mit den Berliner Philharmonikern, überall werde ich ermutigt, die Ego-Ebene zu verlassen, Kontrolle aufzugeben, um mich dem Fluss des Lebens und der Liebe anzuvertrauen. Musikfilme können spirituell-suchende Menschen entdecken lassen, dass auch sie Erfahrungen kennen, in denen Raum und Zeit wie aufgehoben erscheinen, wie sie in der mystischen Tradition jeder Religion beschrieben werden. Im englischen Erstlingsfilm „Billy Elliot" von Stephan Daldry wird dies in tiefsinniger Einfachheit auf den Punkt gebracht. Als der junge Billy nach dem Vortanzen im Royal Ballett gefragt wird, was er denn beim Tanzen fühle, sagt er nach zögerndem Stammeln: „Am Anfang fühle ich mich noch ganz steif und unbeholfen. Wenn ich dann einfach anfange und tanze, dann vergesse ich mich immer mehr, und es ist, wie wenn ich verschwinden würde. Es ist, wie wenn ein Feuer meinen ganzen Körper durchdringt. Ich bin voll da und ganz weg." 

 

Obwohl ich über hundert Bücher zur Mystik gelesen habe, so beinhalten für mich diese Worte eine der schönsten Umschreibungen einer mystischen Lebensgestaltung: sich selber wahrnehmen, um sich vergessen zu können im Aufgehobensein in einem größeren Ganzen, in Gottes Geborgenheit. Filme können uns erinnern, dass wir solche Tiefenerfahrungen mitten im Schönen und Schweren unseres Lebens kennen, die erzählen von der Kraft der Ewigkeit. 

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

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