Gott wird selbst in der Kirche oft mehr verwaltet als verehrt - so jedenfalls der Eindruck von nicht wenigen Außenstehenden. Der göttliche und heilige Gott, der Geheimnisvolle und Unverfügbare scheint das Denken und Handeln vieler Mitmenschen nicht mehr zu prägen.
Es stimmt nachdenklich, dass es heute gerade die Künstler sind, die Gott, den Unaussprechbaren, wieder ins Bewusstsein zurückrufen wollen. Das Zitat aus der Überschrift stammt von dem österreichischen Maler Arnulf Rainer. Er wurde dadurch bekannt, dass er bekannte Bilder übermalt hatte. Darauf angesprochen sagte er: „Mit meinen Übermalungen will ich den Bildern das zurückgeben, was sie verloren haben - das Geheimnis. […] Aus der Lösung ein Rätsel zu machen […], das im Hintergrund die Worte Heimat, Daheim-Sein bei Gott buchstabiert.“
Jede Zeit muss sich der Aufgabe stellen, die Fragen nach Gott und Welt neu zu stellen und diese bei aller Bruchstückhaftigkeit zu beantworten. Das Heil in der Vergangenheit zu suchen und sich in alte, nicht mehr nachzuvollziehende Vorstellungen und Vokabeln zu flüchten, war noch nie eine Lösung, heute erst recht nicht. Die Folgen wären katastrophal. Der vor kurzem verstorbene Kunsthistoriker Wieland Schmied hatte anlässlich des Katholikentags 1990 in Berlin die Stimmung der Kunstschaffenden so formuliert: „Gott ist tot - in der Kirche. Die Kirchen scheinen gottverlassen. Darum lasst uns einen weiten Bogen um sie machen, um Gottes willen. Gott ist in der Kirche nicht mehr zu Hause. Darum lasst uns ihn dort suchen, wo wir ihn vielleicht noch finden können - in den Resten der uns verbliebenen Natur; im Dickicht der Städte in den Augen eines Menschen, der uns ansieht; in den Werken der Kunst.“
Harte, provozierende, prophetische Sätze!
Im Blick auf die letzten Jahrzehnte fällt auf, dass sich viele Komponisten und Musiker sehr engagiert und profiliert zu den „letzten Fragen“ geäußert haben. Damit stehen sie allerdings in einer langen Tradition. Sie verstanden und verstehen sich als Spurensucher nach dem Transzendenten. Ihre Zeugnisse sind an Raum und Zeit gebunden; sie vergehen, lassen sich nicht festhalten. Ihre Wirkung aber kann nachhaltig sein, aufbauend, aber auch zerstörend, sehnsuchtserfüllend, aber auch geisttötend. Der Musik ist es eigen, Mauern einzureißen, Brücken zu schlagen, die bedrückende Eindimensionalität aufzubrechen und schon einmal „einen Blick in den Himmel“ zu werfen.
Musik wie Gebet
In seiner Münsteraner Abschiedsvorlesung hatte der große Theologe Johann Baptist Metz über das Gebet gesprochen. Gleiches kann man auch von der Musik sagen. Ich setze deshalb hinter das Wort Gebet jeweils in Klammern das Wort Musik. „Die Sprache der Gebete (der Musik) ist viel umfassender als die Sprache des Glaubens, in ihr kann man auch sagen, dass man nicht glaubt. Sie ist die seltsamste und doch verbreitetste Sprache der Menschenkinder, eine Sprache, die keinen Namen hätte, wenn es das Wort Gebet (Musik) nicht gäbe. Sie ist die Sprache ohne Sprachverbote und zugleich die Sprache voll schmerzlicher Diskretion.“ Ob einer Musik solches gelingt, unter welchen Umständen sich dies ereignet, von welchen Bedingungen dies abhängt, das alles bleibt offen. Wie die Erfahrung zeigt, kann man die Wirkung von Tönen, Harmonien, Rhythmen usw. nur sehr begrenzt erzielen. Sie entzieht sich - wie die Gnade - menschlicher Planung. Aber gerade das macht sie so wertvoll und sichert ihr einen Platz jenseits des Aktuell-Vordergründigen und Zweckhaften.
Johann Sebastian Bach z. B. war davon zutiefst überzeugt. Sein ganzes Schaffen, das geistliche wie das weltliche, beruht auf dieser Überzeugung. In der Calov-Bibel, einem Prachtexemplar, notierte er an der Stelle, wo von der Wiedereinrichtung der Tempelmusik berichtet wird (2 Chronik 5,13): „NB. Bey einer andächtigen Musique ist allezeit Gott mit seiner Gnaden Gegenwart.“ Wo Musik erklingt, die Menschen innerlich aufbaut, der Seele Nahrung, dem Geist Raum gibt, da ist Gott gegenwärtig. So die feste Überzeugung des Thomas-Kantors. Damit erhebt er sie fast schon in den Rang eines Sakraments.
All seine geistlichen Werke waren für den Gottesdienst bestimmt. Die Gemeinde war immer in das liturgisch- musikalische Geschehen einbezogen; sie war nie stumme Zuhörerin. So wurde sie angesichts des Ereignisses in Bethlehem zur Freude und zum Jubel aufgerufen am Anfang des Weihnachtsoratoriums „Jauchzet, frohlocket“. Auch ihr erstauntes Fragen wurde ernst genommen, z. B. wenn sie am ersten Weihnachtstag, aufgefordert durch die Arie „Bereite, dich Zion“, im Choral fragt, wie und auf welche Weise dies geschehen könne: „Wie soll ich dich empfangen?“
Gegenwart Gottes
Bach versteht sich zuinnerst als Verkünder der frohen Botschaft, hineingenommen in die liturgische Dramaturgie mit ihren drei Schritten: Hören (im Rezitativ), Bedenken (in den Arien) und Antworten (im Choral). Die Musik ist neben der Predigt die wichtigste Verkünderin; ihr ist es eigen, da zur „Sprache“ zu werden, „wo Sprachen enden“ (R. M. Rilke).
Bach wusste sehr wohl auch um die Gefahren von Musik im Gottesdienst, nämlich sich zu verselbständigen und damit ein Eigenleben zu führen.
Anfang des 19. Jahrhunderts hatte sich die Situation im einst christlichen Europa grundlegend geändert. Der Glaube an den Gott Jesu Christi war vielfach zerbrochen, die Glaubwürdigkeit der Kirche auf dem Tiefpunkt. Die Menschen kamen nicht mehr in die Kirchen. Damit stand die Kirchenmusik vor neuen Herausforderungen. Ludwig van Beethoven z. B. war von der Größe und Einmaligkeit der christlichen Botschaft zutiefst überzeugt. Sie wollte er seinen Zeitgenossen nicht vorenthalten. Seine Absicht: Wenn die Menschen schon nicht mehr in die Kirchen kommen, dann muss ich mit meiner Musik zu ihnen kommen, d. h. in die Konzertsäle. Deshalb überschrieb er die Teile seiner beiden Messen nicht mit den üblichen Überschriften „Kyrie, Gloria“ etc., sondern mit dem unverdächtigen Gattungsbegriff „Hymnus“. Die drängenden Fragen nach dem Sinn von Welt und Leid stellen, Antworten im Gott der Natur und in der Menschwerdung suchen, das war Beethovens innerstes Anliegen, nicht plakativ, sondern expressiv, nicht banalisierend, sondern existentiell. Musik als Theo-Phonie!
Was Karl Barth in seiner „Kirchlichen Dogmatik“ über Wolfgang Amadeus Mozart geschrieben hat, ist ebenso treffend wie genial: „Er hat ... den Einklang der Schöpfung gehört, zu der auch das Dunkel gehört, in welchem aber auch das Dunkel keine Finsternis ist, auch der Mangel, der doch kein Fehler ist, auch die Traurigkeit, die doch nicht zur Verzweiflung werden kann, auch das Düstere, das doch nicht zur Tragik entartet, die unendliche Wehmut, die doch nicht unter dem Zwang steht, sich selbst absolut setzen zu müssen - aber eben darum auch die Heiterkeit, aber auch ihre Grenzen, das Licht, das darum so strahlt, weil es aus dem Schatten hervorbricht ... das Leben, das das Sterben nicht fürchtet, aber sehr wohl kennt.“
Ein letztes Beispiel für die theologische und spirituelle Wirkmächtigkeit von Musik mag die Tiefe und Weite unseres Themas belegen. In einem bewegenden, nachdenklichen Brief vom 30.4.1870 berichtet Friedrich Nietzsche: „In dieser Woche habe ich drei mal die Matthäus Passion des göttlichen Bach gehört. Jedesmal mit demselben Gefühl der unermesslichen Verwunderung. Wer das Christentum völlig verlernt hat, der hört es hier wirklich wie ein Evangelium.“
Spurensuche in der Musik
Auch in unserer Zeit stößt man auf erstaunlich viele Zeugnisse ähnlicher Art. Menschen werden nachdenklich, aufgeschreckt, selbst überrascht von dem, was ihnen widerfuhr - beim Hören von Musikwerken. Keine Sparte von Musik ist hier ausgenommen! Gerade in der Landschaft des Jazz finden sich beeindruckende Zeugnisse. In der Biographie über Miles Davis charakterisiert Peter Niklas Wilson dessen Musik folgendermaßen: „Er wird auf viel Widerspenstiges, Zartes, Berauschendes, schwer Verdauliches stoßen. Er wird lächeln und fluchen und hinter dem Teufel den Engel erkennen.“
Viele Kirchenmusiker machen immer häufiger die Erfahrung, dass in Kirchenkonzerte Menschen kommen, die nicht (mehr) am gottesdienstlichen Leben teilnehmen. Es sind oft suchende und ernsthaft fragende Menschen, die sich aber in den normalen Gottesdiensten fremd fühlen. In geistlichen Werken aus der Tradition, angefangen von den liturgischen Gesängen der Gregorianik, bis hin in unsere Zeit spüren sie aber etwas, was ihren Alltag sprengt und „die ewige Frage nach der Heimat beantwortet“ und so „den Sarg des gottverlassenen Lebens auseinandersprengt“. (Ernst Bloch).
Musik und Theologie können zu einem spannenden und fruchtbaren Miteinander finden. Machen kann man es nicht, wohl aber Wege dazu bahnen: Sensibilisierung der Ohren (von früher Kindheit an!), Erschließung von Kompositionen und Komponisten in ihrer je eigenen Zeit und ihrem ganz persönlichen Lebenskontext, Hinführung zu den vertonten Texten, Aktualisierung und Konkretisierung der „ewigen Fragen“ usw. Voraussetzung dafür ist und bleibt allerdings die Führung zur erfüllten Stille, zum Schweigen. Oft wird gesagt, dieses sei kaum mehr möglich im gestressten und lärmenden Alltag. Das Gegenteil ist der Fall. Doch das braucht viel Energie, Konzentration. Wer selbst hastet, wird andere kaum zur Ruhe führen können. Es ist beglückend zu erfahren, dass viele Menschen heute eine große Sehnsucht nach Oasen der Stille umtreibt.
Am Schluss mögen einige Beispiele stehen, die den Verfasser nachhaltig beeindruckt haben.
Sprache und Musik haben vieles gemeinsam (vgl. z. B. das Wort „Sprechmelodie“). Es war eine Passionsmeditation kurz vor Ostern. Im Mittelpunkt stand die Abschiedsrede Jesu im Johannes-Evangelium, vorgetragen von einer Schauspielerin, die schon im Ruhestand lebte. Bereits nach den ersten Worten war ich wie elektrisiert. Ich kannte natürlich diese bewegende Rede Jesu aus dem Studium und hatte darüber auch schon öfters gepredigt. An diesem Abend aber hörte ich diese Worte wie zum ersten Mal. Nach der Feier ging ich zu der Rezitatorin und berichtete ihr, wie sie mich beeindruckt hatte. Sie antwortete mir: „Ich bin zwar getauft, habe aber keine Beziehung zur Kirche. Ich habe diesen Text zum ersten Mal gelesen. Er hat mich gepackt. Ich habe ihn zu Hause mindestens 30 Mal laut gelesen. Er lässt mich immer noch nicht los. Nicht ich habe etwas mit dem Text gemacht, der Text hat etwas mit mir gemacht.“ Die Berufsschauspielerin hatte nicht nur einen alten Text vorgetragen, fehlerfrei und sinnbetont. Es war unendlich viel mehr.
Ein stadtbekannter und geschätzter Geschäftsmann war in den „besten Jahren“ gestorben. Eine große Trauergemeinde war zu erwarten. Bei den vorbereitenden Gesprächen mit der Familie ging es natürlich auch um die Gestaltung der Exequien. Der Verstorbene war auch ein begeisterter Anhänger Beethovens. Er hatte sich immer wieder für sein Erbe eingesetzt.
Mit den Klängen der 9. Sinfonie sei ihr Mann entschlafen, erzählte sein Frau. Nun hätten sie den Wunsch, an einer Stelle in der Messe ein Teil eben dieser Musik hören zu können. Eine Bearbeitung für Orgel wäre für den Vertretungsorganisten eine Überforderung. Ein Orchester sei erstens zu teuer und zweitens in der kurzen Zeit nicht zu verpflichten. Mit diesen beiden Argumenten versuchte ich, aus dem Dilemma herauszukommen. Es gebe aber noch eine andere Möglichkeit. Ich ahnte, was kommen würde. Eine CD-Einspielung! - Ihr Vorschlag, ihre Bitte! Zeit meines Lebens hatte ich vehement dagegen gekämpft. Nun sollte ich meinen lebenslangen, gut begründeten Vorsätzen untreu werden? Es wurde still, beklemmend still. In mir überschlugen sich die Gedanken. Konnte ich mit gutem Gewissen den Herzenswunsch der Familie ablehnen? Er war begründet, kam nicht aus einer Laune heraus, auch nicht, weil es immer mehr in Mode kommt. Schließlich fanden wir eine Lösung: Nach der Messe und der Aussegnung, die in der Kirche stattfand, wurde über die Lautsprecheranlage der langsame Satz aus Beethovens Neunter eingespielt, ganz verhalten und piano. Etwa sieben Minuten, wie mir später gesagt wurde, standen wir vor dem Sarg. (Ich selbst hatte das Zeitgefühl verloren!) In der großen Kirche mit über 400 Menschen hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Eine Atmosphäre der Dichte und Anteilnahme, des Zusammenstehens und des Gebetes, wie man sie selten erlebt. Noch Wochen danach bin ich auf dieses „Geschenk des Himmels“ angesprochen worden.
Ein drittes Erlebnis: Bachs Matthäus Passion gehört zu den Höhepunkten der europäischen Kulturgeschichte, aber auch der geistlichen Musik. Unzählige Male wird sie jedes Jahr aufgeführt, in Kirchen und Konzertsälen, hier unterbrochen durch eine Pause, in der Schnittchen, Hähnchen und Sekt angeboten werden. 2010 bei den Salzburger Festspielen wurde dieses Werk in einer halbszenischen Interpretation aufgeführt und später in der Berliner Philharmonie wiederholt. Dem amerikanischen Regisseur Peter Sellars ging es nicht primär um den dramatischen Effekt. „Es ist ja kein Theaterstück, es ist ein Gebet, eine Meditation.“ Von diesem Grundansatz aus ging es ihm nicht um „Inszenierung“, sondern um „Ritualisierung“. Für Sellars ist „Bach mehr der Komponist des Zweifels, als der Affirmation. Seine Musik ist am intensivsten, wenn sie von innerem Kampf , von Selbstzweifeln und Zerrissenheit erzählt, vom Kampf zwischen dem, was uns gelingt, und dem, woran wir scheitern.“
Die Gesangs- und Instrumentalisten, die alle auswendig agierten, sowie die Berliner Philharmoniker (Ltg. S. Simon Rattle) gaben keine Vorstellung; sie holten das Publikum vielmehr immer wieder in das dramatische Geschehen mit hinein. Die Grenzen zwischen Podium und Publikum waren aufgehoben. Von der letzten Aufführung in Berlin erschien ein Mitschnitt. In einem privaten Kreis konnten wir diesen sehen und hören. Ich gestehe gerne, dass ich bisher keine Aufführung dieses Werkes so nachhaltig erlebt habe wie diese Ritualisierung. Den Übrigen ging es nicht anders. Menschwerdung, Leiden, Kreuz, Opfer usw., theologische Standardbegriffe, bekamen eine fast schon unheimliche Dringlichkeit und Konkretheit, derer man sich nicht entziehen konnte.
zu füßen gottes, wenn
gott füße hat.
zu füßen gottes sitzt
Bach
nicht
der magistrat von Leipzig
(Reiner Kunze)