Wenn die Gedichte kommen, werde ich schreiben, aber wenn sie nicht kommen, kann ich nicht schreiben, ist ja klar! Es ist eine Frage der Erregung des Moments. Man kann es nicht wissen, wann ein Gedicht kommt ...", sagt die Dichterin Hilde Domin (1909-2006) im berührenden Filmporträt „Ich will dich. Begegnungen mit Hilde Domin", das Anna Ditges kurz vor dem Tod dieser sprachbegabten Frau realisiert hat (als DVD erhältlich). In diesen wenigen Worten erahne ich einen spirituellen Umgang mit der Sprache. Ich bringe sie in Verbindung mit Franz Kafka, der Schreiben als Gebet verstand. Sie erzählen von einem zurückhaltenden Umgang mit dem Wort, weil es uns nicht gehört und über uns hinausweist. Doch wer kann es sich als Seelsorgerin, als Seelsorger leisten, auf neue Worte, auf eine neue Sprache zu warten, wenn jede Woche eine kreative Gottesdienstgestaltung erwartet wird? Wer kann sich von Worten finden lassen, wenn immer neue Artikel im Pfarrbrief erscheinen sollen? Fünf Antwortversuche möchte ich entfalten:
Das Wesentliche ist schon da
Mir ist es seit dreißig Jahren ein Herzensanliegen, eine neue Sprache zu finden für das Unsagbare, für das Ereignen der Liebe Gottes mitten im Auf und Ab unseres Lebens. Entscheidend und befreiend war für mich als Theologiestudent die Ermutigung zu einer mystagogischen Praxis von Karl Rahner: Gott lebt als tiefes Geheimnis in jedem Menschen. Jede Lebensgeschichte ist immer schon eine Geschichte mit dem lebendigen Gott. Die Aufgabe von Seelsorgenden besteht nicht darin, Postbote des Glaubens zu sein, sondern Geburtshelfer/in. Es gilt freizulegen, wo und wie jeder Mensch mit diesem tiefen Geheimnis in Berührung kommt. Es bedeutet, ganz Ohr zu sein auf das, was Kinder, Jugendliche, Erwachsene aussprechen, um die Sehnsucht zu entdecken, die hinter den Worten steckt. In einer Welt, in der eine religiöse Sprache verdunstet ist, wird es zur alltäglichen Herausforderung, noch mehr Hörende zu sein. Eine neue Sprache des Glaubens wird uns geschenkt, wenn wir vertrauensvoll lernen, dass Gottes Wort nicht nur in den heiligen Texten der Bibel zu finden ist, sondern auch in den Herzen der Menschen.
Die Bibel ermutigt zur Spracherneuerung
„Die biblische Tradition ist ein fruchtbarer Kompost. Als Haufen organischer Abfälle aus vielen hundert Jahren Geschichte bedarf sie, wenn gute Nahrung aus ihr wachsen soll, der kundigen Bearbeitung", schreibt die evangelische Theologin Ina Praetorius. Sie bringt damit auf den Punkt, dass die Bibel selber eine kontinuierliche Ermutigung beinhaltet, neue Worte zu suchen und zu finden für die Weggeschichte Gottes mit uns Menschen. Es ist viel zu einfach, die Bibel wortwörtlich zu nehmen. Biblische Worte möchten sich neu hineinweben lassen in unsere Existenz, damit das Wort Fleisch wird und unter uns wohnt (Prolog im Johannesevangelium). Madeleine Delbrêl (1904-1964) spricht von Einverleiben: „Wir verarbeiten die Worte der Bücher in uns. Die Worte des Evangeliums durchwalken uns, verändern uns, bis sie uns sozusagen sich einverleiben ... in uns wird das Wort Gottes wir selbst." Die Gute Nachricht will durch unser Leben weitergeschrieben werden. Weniger ist mehr! Die Kunst der Ruminatio, des Wiederkäuens, ist mir zur geistlichen Grundübung geworden im Entwickeln einer neuer Glaubenssprache. In meinem ersten Buch habe ich während fünfzehn Jahren „nur" je einen Psalmvers mitgetragen in meinen Alltag. Daraus sind 150 Psalmaktualisierungen entstanden, die all das Schöne und Schreckliche, das Menschen mir im Gespräch anvertraut haben, in Verbindung gebracht werden mit dem Wort Gottes. Unsere biblischen Texte erhalten eine neue Lebenskraft, wenn wir sie weiterschreiben: Was ist an der Familienkonferenz bei Zachäus los, wenn er seinen Lieben mitteilt, dass er die Hälfte seines Vermögens den Armen gibt? Wie geht es den anderen Kranken am Teich von Betesda, die nicht geheilt worden sind?
Mystische Sprachkunst
Als leidenschaftlicher Sprachliebhaber rühren mich mystische Texte im Innersten ganz tief an. Darin begegne ich dem großen Paradox unseres Lebens. Je tiefer Mystiker/innen Momente der Gottesvereinigung erfahren, um so stärker drücken sie aus, dass sie diese intensive Erfahrungen niemals in Worte ausdrücken können. Sie er ahnen, dass das Wesentliche zerredet werden könnte. Als dialogische Sozialwesen können sie zum Glück doch nicht anders, als in größter Kreativität Sprachschöpfungen zu schaffen, die zeitlos sind. Die mystische Sprache ist so ansteckend lebendig, weil dahinter die Grundhaltung des Lassens steckt. Am Genialsten drückt es Meister Eckhart (1260-1328), der Mystiker aus Erfurt aus: „Das Höchste und das Äußerste, was der Mensch lassen kann, das ist, dass er Gott um Gottes willen lasse. Nun ließ Sankt Paulus Gott um Gottes willen, und da blieb ihm Gott." (13. Predigt). Diese Worte haben meinen Umgang mit der Glaubenssprache verwandelt. Ich halte nicht mehr ängstlich an Worten fest, sondern ich lasse sie los, damit sie nach-tragend in mir wirken können. All meine Gottesdienstmodellbücher zur Taufe, Beerdigung, Hochzeit, Wortgottesfeiern (neu aufgelegt im Kath. Bibelwerk Stuttgart) leben von diesem Vertrauensakt des Lassens von vertrauten Formeln, damit das Wesentliche bleibt, ganz im Sinne der Ermahnung aus dem zweiten Korintherbrief: „Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig." (3,6) Mystikerinnen und Mystiker verdeutlichen, was eine echte Verwurzelung, ein Einsseins mit dem Gott des Lebens bewirkt: Ein schöpferischer Umgang mit der Sprache. Nicht erst die feministische Theologie, sondern schon Hildegard von Bingen, Juliana von Norwich, Mechthild von Magdeburg erzählen von einem zärtlich-mütterlichen Gott, der wie Dorothee Sölle es ausdrückt, Freundinnen und Freunde braucht. Auch bei evangelischen Mystikern findet sich dieser kreative Umgang mit der Sprache. Valentin Weigel (1533-1588), der als Pfarrer im sächsischen Zschopau mit seiner Familie lebte, spricht vom „inwendigen Buch des Herzens". Er dank- Gott, der ihm das rechte Buch zeigte in seinem Herzen: „Dadurch kann ich die heilige Schrift lesen, die mir gegeben ist zum Zeugnis, denn ich sehe sie an nach dem Wesen und Geist, der in mir ist, und nicht nach dem Schatten und toten Buchstaben, der außer mir ist." Valentin Weigel war überzeugt, dass in allen Menschen ein Buch des Herzens zu finden ist.
Kommunikativ-fragend bleiben
Henri Nouwen (1932-1996) gehört auch zu den geistlichen Autoren, die immer wieder auf einen sensibel-achtsamen Umgang mit der eigenen Sprache hingewiesen haben. In seinem 1975 geschriebenen und soeben in einer neuen Übersetzung erschienen Buch „Die dreifache Spur. Orientierung für ein spirituelles Leben" finde ich höchstaktuelle Lebensweisheiten, die uns einladen, immer Fragende zu bleiben, um dialogisch mit anderen Menschen unterwegs zu bleiben. Henri Nouwen schreibt: „Lehren bedeutet deshalb zuallererst, einen Raum zu schaffen, in dem Schüler und Lehrer in einen angstfreien Dialog treten können. Es bedeutet zuzulassen, dass unsere jeweilige Lebenserfahrung zur ersten und wertvollsten Quelle des Wachstums und des Reifens wird. Dazu braucht es ein gegenseitiges Vertrauen, das Lehrer und Lernende sich als Menschen - und nicht als Gegner - gewahr werden lässt, die dieselben Kämpfe ausfechten und gemeinsam auf der Suche nach derselben Wahrheit sind." Die Bücher von Henri Nouwen strahlen eine authentisch-dialogische Sprache aus, die den Menschen neue Innenräume eröffnen. Sie zeigen konkret auf, wie wir als Kirche miteinander auf Augenhöhe im Gespräch sein können. Sie zeigen uns den Schlüssel zu einer authentischen Sprache, die andere weder bevormundet noch abwertet. Ein Schlüssel, der in einem authentischen Beten liegt. Henri Nouwen spricht in diesem Zusammenhang vom Paradox des Betens: „Das Paradoxe am Gebet ist, dass wir es erlernen müssen, obwohl wir es doch nur als Geschenk empfangen können." Eine Aussage, die ich gerne für die alltägliche Erneuerung meiner spirituellen Sprache anwende: Aufmerksam an einer einladendkonfrontativen Sprache arbeiten, in der das Verbindende und das Unterscheidende der Gesprächspartner als Chance zu einem echten Dialog gesehen wird. Es geht um einen Vertrauensakt, in dem wir nicht zu schnell Antworten geben - schon gar nicht, auf die Fragen, die nicht gestellt sind!! - sondern hellhörig die Lebensfragen hören und respektvoll wiederholen, vertrauend, dass wir immer mehr in die Antworten hineinwachsen werden, wie dies mein Lieblingsdichter Rainer Maria Rilke (1875-1926) ausdrückt.
Schweigen schenkt neue Worte
Wir können uns von neuen Worten finden lassen, wenn wir den Mut haben, uns regelmäßig zu „entworten" und zu entbilden (Heinrich Seuse). Jeden Tag erleben wir eine noch nie dagewesene Informationsflut. In jedem Pflichtenheft einer Seelsorgerin, eines Seelsorgers müsste jede Woche ein Nachmittag des Schweigens vorhanden sein. Völlig utopisch!? Solange wir uns in Überaktivitäten verlieren, mit vielen gutgemeinten Gründen, können wir nicht aus unseren inneren göttlichen Quelle schöpfen, die immer schon auf uns wartet. „Wort-Durchfall" nennt der Wiener Pastoraltheologe Paul Michael Zulehner das inflationäre Vorkommen von Worten in unseren Liturgien, die zu sehr aus unserem Kopf und zu wenig aus unserem Herzen kommen. Die Erneuerung unserer Glaubenssprache schreit geradezu nach einer geistlichen Kultur des Schweigens, damit wir dem schöpferisch-sprachbegabten Geist Gottes nicht im Wege stehen mit unseren vollbesetzten Sprachräumen. „Es gibt keine echte Begegnung ohne Zwischenräume", schreibt der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber. Gerade weil es lebenslange Zumutung ist, immer wieder neue Worte für das Unsagbare zu finden, sind Seelsorgende herausgefordert, selber regelmäßig, Schweigeräume zu betreten und in ihnen zu verweilen, damit sie auch authentisch glaubwürdig mit der Gemeinde schweigend die Gegenwart Gottes feiern können.
„Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen!", sinniert der Münchner Karl Valentin. Treffend drückt er die Schwierigkeit aus, die altbekannten Fragen und Lebensthemen der Menschen, neu aufbrechen zu lassen. Hubertus Halbfas, der ehemalige Professor für Religionspädagogik, spricht in seinem schonungslosen Buch „Glaubensverlust. Warum sich das Christentum neu erfinden muss" von einem „Leerlauf der Glaubenssprache" und er plädiert für einen Bewusstseinswandel, der Selbst- und Gotteserfahrung nicht mehr trennt.
Durch den Liebhaber des Lebens aus Nazareth ist sichtbar geworden, dass wir nicht getrennt sind von Gott. Es gibt keinen gottlosen Menschen, weil kein Mensch Gott los werden kann. Im schweigenden Innehalten, im Distanzschaffen zu unserer Spracharbeit, können wir als Seelsorgende hineintauchen in dieses Urvertrauen, dass uns entlastet vor zu vielen Worten und uns einlädt, noch authentischer zu werden in unserem Mitteilen von Glaube, Hoffnung und Liebe.