Der spürbare Wandel ist aber nicht nur eine Zeit des Abschiednehmens vom Luxus flächendeckender Versorgung und von kurzen Wegen zur Kirche am Ort, sondern auch eine Zeit der Neubesinnung. So geschieht im Nichtmehr- Selbstverständlichen die Besinnung darauf, was die Kirche einzigartig macht und warum viele sagen, sie verlieren ein Stück Beheimatung, wenn Kirchen geschlossen und Gemeinden zusammengelegt werden. Schwierigkeiten im eigenen Land können auch ermutigen, auf Orte zu schauen, an denen der Glaube lebt. Eine sich in großen Zuwachsraten dokumentierende Attraktivität hat das Christentum in Afrika und Asien. Obgleich viele Faktoren - vor allem die demografische Entwicklung - dieses Wachstum fördern, ist es ein wichtiger Hinweis, dass Kirche dort am schnellsten wächst, wo sie lebendig ist.
Kirche in der Nachbarschaft - Kleine Christliche Gemeinschaften
Das Schauen nach Afrika und Asien zeigt, dass sich Kirche dort in Kleinen Christlichen Gemeinschaften ereignet (vgl. RM 51). Sie sind die Orte des Glaubens, die Papst Johannes Paul II. als ein „Zuhause und eine Familie für alle" (FC 85) bezeichnete. Nachbarschaftlich organisiert verstehen sie sich als Gemeinschaft, die im Namen Jesu Christi zusammenkommt und aus seinem Wort im Bibel-Teilen lebt. Im Hören auf das, was Gott jedem einzelnen und der Gemeinschaft als ganzer sagt, üben sich die Kleinen Christlichen Gemeinschaften in eine „Kultur der Aufmerksamkeit für den Anderen" ein - für das göttliche ganz Andere und den Anderen, der als Schwester und Bruder da ist. Sie werden sensibel für Situationen, die der liebenden Aufmerksamkeit bedürfen. Krankenbesuchsdienste, Beistand für in Not geratene Familien sind ebenso konkrete Handlungsfelder, wie etwa Maßnahmen zu Verschönerung des Wohnortes, ökologisches Tun oder gemeinschaftliches Engagement dafür, dass Kinder aus entlegenen Orten durch eine bessere Busverbindung zur Schule kommen können. Überall hier ereignet sich ganz konkret das Leben aus dem Wort Gottes. Dieses verändert die Welt positiv und schafft Orte, an denen Liebe spürbar wird. Christsein, so die Erfahrung der Kleinen Christlichen Gemeinschaften, ist dann nicht nur etwas für den Sonntag. Das Evangelium, die gute Nachricht zum Leben, durchdringt den Alltag. Kleine Christliche Gemeinschaften geben dem Priorität, was sie als die Mitte ihres Lebens erfahren haben: die Liebe Gottes. „In der Kleinen Christlichen Gemeinschaft hat mein Glaube, der bisher ein sehr persönliches Beziehungsgeschehen zwischen Gott und mir war, eine bereichernde Ergänzung gefunden. Die Gruppe erschließt mir ganz neue Gedanken, die ich so alleine überhaupt nicht gefunden hätte. Und es tut unheimlich gut, zu wissen, dass andere mit mir glauben. Das gibt mir Halt und Stütze. Auf meine Kleine Christliche Gemeinschaft kann ich mich verlassen, wenn mein Leben einmal aus der Balance geraten ist. Die helfen mir weiter und alles kriegt dann noch mal eine ganz andere Bedeutung dadurch, dass wir uns von Jesus Christus begleitet und miteinander verbunden wissen." Das Gefühl der spirituellen Beheimatung und des Zugewinns an positivem Lebensgefühl ist eine Erfahrung, die viele artikulieren: „Seit ich in einer Kleinen Christlichen Gemeinschaft bin, habe ich richtig Freude am Glauben. Jetzt ist Kirche nichts Anonymes mehr. Sie ist richtig lebendig.Und ich habe das Gefühl, dass ich dazu gehöre. Dass sich jetzt viele einbringen, hat das Gesicht unserer Kirche schon verändert. Da hat sich etwas bewegt, da ist etwas entstanden, das wir als große Bereicherung erfahren."
Kleine Christliche Gemeinschaften sind christuszentriert und bibelorientiert. Sie verwirklichen den Glauben in der Gemeinschaft, in der Menschen zusammen leben, und geben dem Einzelnen einen Ort der Geborgenheit, des Angenommenseins und Begleitetseins. Sie stellen Christus in die Mitte und sind Orte, an denen Kirche lebendig ist. Kleine Christliche Gemeinschaften leben die Fortsetzung des Wortgottesdienstes (SC 7) und machen so die Theologie des Sonntags zur Lebensmaxime des Werktags. Damit schaffen sie ein spirituelles Mehr an Lebensqualität.
Einladung zur Gottes-Erfahrung
Kleine Christliche Gemeinschaften leben das Programmwort „A new way of being church" (Eine neue Art, Kirche zu sein), das sich die Kirche in Afrika und Asien - inspiriert durch die Communio- Theologie des Zweiten Vatikanums - zur Aufgabe gemacht hat (vgl. LG 32f). „Kirche ist nicht ein Haus aus Steinen. Kirche sind wir alle, die wir Christus zur Mitte unseres Lebens gemacht haben." Mit diesen Worten fasst Bischof Oswald Hirmer das spirituelle „Aha-Erlebnis" vieler Christen zusammen, denen plötzlich aufgegangen ist, dass es ganz persönlich an jedem Einzelnen liegt, wie Kirche ist. Kirche-Sein ist nicht delegierbar an die, deren Beruf es ist, die Pastoral zu organisieren. „Wir haben gelernt, dass jeder Verantwortung hat in der Kirche. So wird Kirche lebendig." Oswald Hirmer entwickelte zusammen mit Fritz Lobinger (beide Fidei-Donum Priester aus der Diözese Regensburg) am Pastoralinstitut in Lumko (Südafrika) ein Pastoralmodell, dessen Ziel es war, das Evangelium zu den Menschen zu bringen und so Glauben und Leben zu einer Einheit zu machen. In diesem Zusammenhang entstand zum Beispiel die „7-Schritte- Methode" des Bibel-Teilens, die es den Menschen auf einfache Weise ermöglichen sollte, mit dem Wort Gottes in Berührung zu kommen und so zu erfahren, dass Gott jedem ganz persönlich etwas sagen möchte.
Weltkirche als Lerngemeinschaft: Von Afrika nach Asien
Eine erste außerafrikanische Rezeptionswelle fand das Bibel-Teilen seit Mitte der 80er Jahre in Deutschland, wobei die „7-Schritte" - allerdings ohne den communio-ekklesiologischen Hintergrund zu thematisieren überwiegend als Methode des Bibel-Lesens übernommen wurde und seither mehr oder weniger zum festen Repertoire von Bibelkreisen gehören. Noch weiter als dieser Schritt weltkirchlichen Lernens geht die Rezeption der so genannten Lumko-Materialien in Asien. Nach einer Phase des Kennenlernens und erster Schritte im Ausprobieren mit dieser Vision von Kirche sein, stellten die Bischöfe Asiens (FABC) bei ihrer Vollversammlung in Bandung 1990 die Weichen für eine „neue Art, Kirche zu sein":
„Die Kirche in Asien muss eine Gemeinschaft von Gemeinschaften werden, in denen Laien, Ordensleute und Klerus einander als Brüder und Schwestern anerkennen und annehmen. Sie alle werden durch das Wort Gottes als Gemeinschaft zusammengerufen zur Bildung kleiner christlicher Gemeinschaften. Das ist der Ort, an dem sie gemeinsam beten und die Frohe Botschaft Jesu miteinander teilen. Im Alltag, indem sie einander unterstützen, zusammenarbeiten und ‚ein Herz und eine Seele' sind. Diese Kirche ist eine partizipatorische Kirche, in der die Charismen aller anerkannt und gefördert werde, so dass die Gemeinschaft wächst und die Kirche ihre Mission verwirklichen kann. Diese Kirche, die in den Herzen der Menschen verwurzelt ist, gibt ein lebendiges Zeugnis von der Liebe des Auferstandenen und berührt auch Menschen, die einen anderen Glauben haben oder andere Überzeugungen leben und lädt sie zu einem Dialog und zu einem Leben ein, das die integrale Befreiung aller zum Ziel hat. Diese Kirche ist Sauerteig, der die Welt verändert und als prophetisches Zeichen erkannt wird, welches über diese Welt und die Zeit hinaus auf das Reich Gottes hinweist."
Was in Afrika erfolgreich ist, sollte es auch in Asien sein. Doch im Experimentieren mit den Lumko- Kursmaterialien merkte man schon bald, dass sie auf die Bedürfnisse Asiens hin abgestimmt werden müssen. Übernahme heißt also Adaption, Kontextualisierung und schließlich Inkulturation. So wurden zum Beispiel die illustrierenden Bilder und Karikaturen, auf denen Afrikaner zu sehen waren, durch solche aus Asien ersetzt, und Beispielgeschichten auf die Lebenswelt Asiens hin umformuliert. Mit der Zeit verdichtete sich das Gefühl, einen für Asien passenden Namen zu finden. Erst nach einem langen Prozess entstand das Kürzel, unter dem „die neue Art, Kirche zu sein" nun firmiert: „AsIPA - Asian Integral Pastoral Approach".Wichtig war dabei, deutlich zu machen, dass es ein Ansatz für die Kirche in Asien ist, die ganz vielfältig und unterschiedlich ist. So ist sie zum Beispiel in Megastädten wie Mumbai, Delhi, Singapur, Manila und Seoul ebenso beheimatet wie in ländlichen Gebieten.
Kreativ sein - Kontextualisiserung
Gerade die anhaltende kreative Kontextualisierungsarbeit der asiatischen Ortskirchen verdeutlicht, dass die „neue Art, Kirche zu sein" eine ständige Herausforderung ist, in der Christen miteinander als Gemeinschaft auf dem Weg sind. Unter der Überschrift weltkirchlicher Lerngemeinschaft machte Missio die Pastoralkonzepte aus Afrika und Asien als Impuls für „Spiritualität und Gemeindeerneuerung" in Deutschland bekannt. Überzeugt davon, dass es wertvoll und inspirierend ist, AsIPA näher kennen zu lernen, lud Missio Verantwortliche aus der deutschen Ortskirche nach Indien und Sri Lanka sowie nach Singapur und Malaysia ein. Aus diesen Erfahrungen und dem Eindruck, dass Strukturdebatten um die Neuordnung pastoraler Räume und die sinkenden finanziellen Mittel in den Diözesen wichtig, aber spirituell nicht zufrieden stellend sind, entstand die Idee, hierzu- lande mit AsIPA zu beginnen.
Euphorie und Skepsis begleiteten die Rezeption des „New way of being church" von Anfang an. Die Liste kritischer Fragen ist lang. Von den grundsätzlichen Bedenken, ob das, was in Afrika und Asien funktioniert, auf Grund des anderen sozio- kulturellen Kontextes, vor allem des höheren Individualisierungsgrades in Deutschland überhaupt gehen könnte, spannt sich der Bogen hin zum Thema der Nachbarschaft. Kann oder muss die Nachbarschaft des Wohnortes wirklich der Ort der Kleinen Christlichen Gemeinschaften sein? Was ist der Unterschied von Kleinen Christlichen Gemeinschaften und spirituellen Supplementgruppen? Andere sehen eine Kluft zwischen der historisch-kritischen Exegese und der im Bibel-Teilen gemachten Erfahrung, dass Gott zu jedem etwas sagt und ihn befähigt, anderen sein Wort als Wort des Lebens weiterzusagen. Manche befürchten auch, dass man sich wenig aufgeschlossen gegenüber dem Bibel-Teilen zeigt, weil dieses doch schon längst als Methode des Bibellesens bekannt und Vielerorts auch verbraucht ist. Brisant scheint die Frage nach dem Verständnis von Leitung. Wie verhalten sich Kleine Christliche Gemeinschaften mit ihrem im Bibel-Teilen geübten Leitungsstil, der vom Leiter verlangt, dass er „animiert", „zum Dialog einlädt" und „inspiriert", nicht aber sein Expertenwissen monologisch zelebriert, zu kirchlichen Diensten und Ämtern? Trotz dieser substantiellen Anfragen begannen mehrere Diözesen, AsIPA umzusetzen. Denn Antworten, so die Einschätzung, wird man nur dadurch gewinnen, dass man anfängt und ausprobiert. Dieser Pragmatismus ist mit dem Wissen gekoppelt, dass ganz ähnliche Fragen auch bei den Akteuren in Asien aufkamen, als sie den Versuch der Kontextualisierung unternahmen. Hinzu kommt der Erfahrungsaustausch mit denen, die in Afrika und Asien zu den Promotoren dieser Vision von Kirche-sein gehören. Ihre Außensicht auf „Anfängerfehler ist genauso wichtig wie ihr Mittun bei der Visionsarbeit, wie denn Kirche in Zukunft sein soll.
Miteinander auf dem Weg sein
Will man eine Zwischenbilanz versuchen, so scheint der Drei- Schritt von „sehen, urteilen und handeln" hilfreich. Sehen: Der Wandel der Kirche in Deutschland ist ebenso offensichtlich wie die Ängste vor dem Verlust von Orten, an denen die Sehnsucht nach dem Himmel gelebt werden kann. Bei allem Klagen über die Umbrüche, wurde jedoch die Krise als Chance verstanden. Man hat den Blick hinaus in die Weltkirche getan und gesehen, wie Kirche dort lebt. In Afrika und Asien wurden mit Lumko und AsIPA pastorale Visionen gefunden, von denen man annimmt, sie könnten ein Impuls für die Kirche hierzulande sein. Urteilen: Informationen darüber, was es bedeutet, „auf neue Art, Kirche zu sein", wurden zusammengetragen und durch Erfahrungen vor Ort ergänzt. Textstudium betrieben, Kursmaterialien gründlich unter die Lupe genommen und daraufhin befragt, was denn wie für Deutschland als pastorale Anregung übernommen werden könnte.Argumente abgewogen, wissenschaftliche Arbeiten zu Lumko und AsIPA angefertigt und die Umsetzung nach Deutschland theoretisch erwogen. Schließlich fiel die Entscheidung, einfach zu beginnen. „Just do it", waren die ermutigenden Hinweise aus Afrika und Asien. Handeln: Learning by doing, Experimentieren, kontinuierliche Reflexion, Austausch, Vernetzung, Information, Lobbyarbeit sind die wichtigsten Schritte, die aktuell realisiert werden. Vieles ist schon geschehen. So hat sich zum Beispiel ein Nationalteam konstituiert, das vor allem die konzeptionell-organisatorische Arbeit tut. Bereits zum zweiten Mal fand ein Bundestreffen aller Akteure statt.
Auf manche Fragen gibt es inzwischen Antworten - vorläufige. Die Umsetzung in Deutschland ist ein Suchprozess, in dem es keine Experten gibt und der Logik nach auch nicht geben kann. Denn diese Vision von Kirche fokussiert die Communio derer, die Jesus Christus in die Mitte ihres Lebens stellen und ihr in der Praxis des Bibel-Teilen erlebtes Angesprochen-Sein vom Wort Gottes in den Kleinen Christlichen Gemeinschaften miteinander teilen. Miteinander auf diesem Weg unterwegs zu sein und voneinander zu lernen ist Ermutigung, die auch aus dem Wissen schöpft, „dass in der Kirche niemand so arm ist, dass er nichts zu geben und niemand so reich ist, dass er nichts zu empfangen hätte".