In den römischen Jahres meiner Leitungsverantwortung im Orden gab es sie natürlich auch, die Momente der Enttäuschungen, der Erfahrung von Hilflosigkeit, der manchmal verzweifelten Suche nach Lösungen. Wenn ich heute daran zurückdenke, dann stehen mir nicht in erster Linie diese Momente als solche vor Augen. Vielmehr erinnere ich mich gern daran, wie in das Schweigen, das sich in solchen Augenblicken der Ratlosigkeit zuweilen einstellte, Bruder Gilles aus Kanada die bekannte Taizé- Melodie zu den Worten der Theresa von Avila zu summen begann:
„Nada te turbe".
Nichts soll dich ängstigen,
nichts dich erschrecken.
Alles vergeht, Gott bleibt derselbe.
Geduld erreicht alles.
Wer Gott besitzt, dem kann nichts fehlen.
Gott allein genügt.
Im Leitungsteam haben wir den Kanon freilich so manches Mal auch bei fröhlichen Anlässen gesungen, etwa bei Besuchen in Taizé selber wie auch bei einem Besuch, den uns der verstorbene Frère Roger in Begleitung einer großen Schar seiner Brüder abstattete, im Rom der päpstlichen Kurie wie gemeinsam auf den Spuren des heiligen Franziskus in Assisi. Wie in keinem anderen Menschen habe ich in Frère Roger selber jenen inneren Frieden, jene engagierte und zugleich heitere Gelassenheit und Ruhe verspürt, die aus den Worten der hl. Theresa klingen.
Wenn ich in das Neue Testament schaue, entdecke ich auch bei Jesus eine tiefe engagierte Gelassenheit. Er verliert sich nicht kopfüber in den brennenden Fragen, die von allen Seiten auf ihn einstürmen, sondern er geht oft, wenn er etwas zu tun oder zu sagen aufgefordert wird, zunächst auf innere und äußere Distanz. Er steigt auf Berge, geht in die Wüste, auf jeden Fall finden wir ihn „abseits", und dort betet er. Nur auf diese Weise kann er offenbar die innere Verbindung zu seiner Kraftquelle halten. Er vergewissert sich der Tatsache, vom Vater gesandt und von ihm bedingungslos gehalten und geliebt zu sein.
Engagierte Gelassenheit: Jesus schreibt im Sand
Höchst interessant ist in diesem Zusammenhang seine Art der ruhigen Konzentration in jenem ganz vertrackten Moment, als eine Ehebrecherin zu ihm geführt wird (Joh 8, 1-11). Eine höchst komplexe Situation, wie Seelsorgerinnen und Seelsorger sie auch heute ähnlich erleben: Es geht um ein unentwirrbares Knäuel von Problemen. Einmal geht es um die Zerbrechlichkeit menschlicher Beziehungen, um Schuld, um den unlösbar erscheinenden Konflikt zwischen dem harten Anspruch des Gesetzes einerseits und der Möglichkeit von Vergebung und Barmherzigkeit andererseits. Es geht in diesem Fall freilich auch um - wie wir heute sagen - ein Beispiel schreiender Verletzung der „Gendergerechtigkeit": Die Pharisäer und Schriftgelehrten hatten offenbar gar kein Gespür dafür, dass sie mit ihrer Forderung nach Verurteilung ihre eigenen Schattenseiten ausblendeten und im Falle einer strengen Verurteilung nur die Frau treffen würden, den am Ehebruch beteiligten Mann dagegen gar nicht im Blick hatten. Mir hat sich diese Bibelstelle in eigentümlicher Weise besonders eindringlich erschlossen, als wir vor etwa zehn Jahren bei missio damit begannen, in größerem Umfang AIDS-Projekte in unsere Hilfs- und Kooperationsprogramme aufzunehmen, zunächst übrigens keineswegs zum Wohlgefallen einiger Bischöfe bei uns. Bezweifelt wurde nämlich am Anfang, dass es sich auch um pastorale Fragen handele. Dabei ist „vor Ort" jedenfalls erschreckend sichtbar, wie sehr die Kranken unter Vorurteilen, Stigmatisierung und sozialem Ausschluss aus ihren Familien und z. T. aus ihren Gemeinden leiden und wie umgekehrt die christlichen Gemeinden Geborgenheit, vorurteilslose Akzeptanz, Vorsorge und auch Heilung schenken können. Besonders aktuell ist Joh 11,1-8 in diesem Punkt: In einigen Teilen der Welt werden heute aidsinfizierte Frauen als die angeblich Schuldigen verstoßen, während die Männer, die sie infiziert haben, gesellschaftlich nicht diskriminiert werden. Und bis heute hören wir von Steinigungen von Frauen in bestimmten Regionen, nie aber von einer Steinigung von Männern.
In Berührung mit der Quelle bleiben
Jedenfalls: Jesus antwortet nicht sogleich. Er geht einen Schritt zur Seite und malt etwas in den Sand. Was aber hat er in den Sand geschrieben? Das werden wir nie wissen. Ich vermute, es war kein richtiges zielgerichtetes Schreiben. Vielmehr war seine Geste wohl ein Moment der kurzen, aber umso intensiveren Besinnung, eine Art von Meditation, nennen wir es eine Kontaktnahme mit seinem Urgrund. Er suchte in Berührung zu kommen mit der göttlichen Quelle in seinem Innersten.
„Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein": Jesus bagatellisiert die Sünde nicht, aber er will der angeklagten und von der Todesstrafe bedrohten Frau einen Raum des Lebens offen halten, in dem sie neu beginnen kann: „Geh hin und sündige nicht mehr." Die Ankläger bekommen auch eine Chance zum Neuanfang, indem sie auf ihre eigenen Schatten („Wer von euch ohne Sünde ist...") verwiesen werden. Aus der ganzen Szene spricht eine große innere Gelassenheit, Souveränität und Freiheit. Jesus jedenfalls gelingt es, in wenigen Worten eine komplizierte Situation zu entwirren auf den Punkt zu bringen, einen fatalen Sündenbockmechanismus zu entlarven und alle Beteiligten mit ihrer Verantwortung zu konfrontieren. Ein Beispiel engagierter Gelassenheit, deren Frucht eine Art der Entscheidungsfindung ist, an der auch heute Seelsorgerinnen und Seelsorger Maß nehmen können.
Ein Wunder der Verwandlung
Ich möchte noch auf eine andere bekannte biblische Szene verweisen, nämlich die von der Teilnahme Jesu an der Hochzeit zu Kana (Joh 1,1,12) sowie vom „Weinwunder". Die ganze Szene spricht davon, wie offen Jesus war für Lebens- und Festesfreude und wie wertschätzend er den menschlichen Beziehungen von Freundschaft, Gastlichkeit, Familie und Ehe gegenüberstand. Er war offensichtlich häufig und ohne falsche Distanz und Überlegenheit so nahe dran am menschlichen und gesellschaftlichen Geschehen, dass seine Gegner ihn als „Fresser und Säufer, Freund von Zöllnern und Sündern" (Lk 7,34) verunglimpfen konnten.
Im Wunder von der Verwandlung von Wasser in Wein, das bezeichnender Weise vom Johannesevangelium als das „erste Zeichen" (Joh 3,11) im öffentlichen Wirken Jesu bezeichnet wird, wird deutlich, was sich eigentlich jedes Mal ereignete, wenn Jesus vom Berg, aus der Wüste, aus der Einsamkeit kommend wieder mitten unter den Leuten war. Bei Johannes heißt es, er sei gekommen, damit die Menschen „Leben in Fülle" haben (Joh 10,10) und eine Freude spüren, die ihnen niemand nehmen kann (Joh 16, 22).
Vom heiligen Hieronymus wird übrigens berichtet, wie er einmal dabei war, in einer Art öffentlichen Disputs diesen Abschnitt aus dem Johannesevangelium „verkündigungsgerecht" auszulegen: Ein hartnäckiger Zwischenrufer und Kritiker wollte ihn hereinlegen und soll ihm deshalb die ironische Frage gestellt haben, wie denn das alles möglich sei, er selber habe berechnet, dass im Falle „Kana" 500 bis 700 Liter Wasser im Spiel gewesen sein müssten. Hieronymus solle doch bitte einmal sagen, wer das alles habe konsumieren können. Hieronymus gönnte sich, so wird berichtet, angesichts dieser vertrackten Fragen einen Moment der Konzentration und er soll dann geantwortet haben: „Tatsächlich, der wunderbare Wein von Kana wurde an Ort und Stelle gar nicht aufgebraucht. Deswegen trinken wir heute noch davon."
Das Beispiel Marias
Ein Beispiel engagierter Gelassenheit sehe ich in dieser Szene auch bei Maria: Sie beobachtet im Hintergrund die Szene, erfährt von Jesus, dem sie den Mangel meldet, eine Abfuhr, weil, wie er sagt, seine Stunde noch nicht gekommen sei.
Im Verhalten Marias fällt mir dies auf: Sie benennt ein Defizit, sie formuliert aber keinen Lösungsvorschlag aus eigener Perspektive und bleibt im Hintergrund. Sie verweist dafür auf Jesus: „Was er euch sagt, das tut". Ich verstehe das heute so: Lösungen, zum Beispiel in verworrenen Momenten des Lebens und des Glaubens, sind nicht unbedingt das Ergebnis hektischer Geschäftigkeit. Durchblick, Verwandlung und Heilung werden vielmehr denen geschenkt, die innehalten können, sich zurücknehmen und dann das tun, was sich im Kontakt mit dem Geist Gottes fast wie von selber erschließt.
Mein persönliches Leben und das der Schöpfung - so darf ich daraus ableiten - sind von der Fürsorge eines Gottes, der selber Liebe ist, umfangen. Die Geschichte der Welt läuft nicht ins Absurde, Ziellose, Sinnlose. Wir dürfen auch heute in zugleich leidenschaftlichem Engagement und engagierter Gelassenheit darum beten, dass Wasser sich in Wein verwandeln möge, Ausweglosigkeit in neue Perspektiven, Verzweiflung in Hoffnung, Hass in Liebe, Gewaltbereitschaft in Freundschaft und Respekt.
Kontemplation: Gott in allem finden
Martin Heidegger hat verschiedentlich den Gedanken geäußert, dass Gelassenheit zu den Dingen und die Offenheit für das Geheimnis Gottes zusammengehören. Das setzt eine sensible, ja kontemplative Begegnung mit allem voraus, was uns umgibt und was sich uns über den Augenschein in der Tiefe erschließen möchte. Das ist nur in einer Grundhaltung aktiver Kontemplation möglich: Wir sind gerufen, in allem, was ist, die Herrlichkeit Gottes zu schauen, der in seinem Sohn in unsere Geschichte eingetreten ist (Joh 1,14). Das Johannesevangelium verwendet das griechische Wort für „schauen" im Sinne einer Erfahrung, die sich aus langem, intensivem, von Liebe getragenem Hinblicken ergibt. Es kommt bei der Kontemplation, wie ich sie verstehe, nicht auf „Leistung durch Menge und Ausdauer" an. Auch nicht darauf, den Blick nur nach innen zu richten und dabei die Umwelt, die eigene und die umfassendere Geschichte, alles Widerständige, Schmerzliche, auch alles Schöne und Sinnvolle auszublenden. Im Gegenteil. Das beharrliche, gelassene Verweilen zielt in die Tiefe und in die Weite, es führt zu einem Glauben mit wachen Augen, mit einem sensiblen Herzen, zur Wahrnehmung der Welt und der Schöpfung und der Menschen, der nahen und der fernen, der geliebten und der fremden, in der gläubigen Erwartung, überall Spuren von Gottes Gegenwart erkennen zu können. Beten wird dann zu einer Vergewisserung, dass der Geist Gottes in allem Geschaffenen und in jedem Menschen ist. Und in dem Maße, wie die Kirche kontemplativ und „geistesgegenwärtig" zugleich die gegenwärtige bedrängende Stunde annimmt, wird sie auch neue Lösungen finden, z. B. in der Frage des Zugangs zum priesterlichen Dienst für alle Geistbegabten, nicht nur für unverheiratete Männer. Allen, die sich davor fürchten, sollte man zurufen: „Nada te turbe".