Fazit
Lukas schildert uns Weihnachten als Fest der Begegnungen. Wir sehnen uns an Weihnachten danach, den Menschen auf neue Weise zu begegnen. Die vier Begegnungen - Maria und der Engel, Maria und Elisabeth, Maria und das Kind, die Hirten und das Kind - laden uns ein, über unsere Begegnung mit dem Engel, miteinander und mit dem göttlichen Kind in der Krippe nachzudenken und auf neue Weise das Geheimnis von Weihnachten zu meditieren. Wenn die Meditation uns verwandelt, werden auch unsere Begegnungen verwandelt. Sie werden erfüllt von der menschgewordenen Liebe, die wir in der Geburt Jesu Christi feiern.
Bei all diesem Bemühen kommen die Seelsorger und Seelsorgerinnen oft zu kurz. Sie reden über Weihnachten, aber sie erleben es nicht mehr. Oder sie erleben es nur mit den Menschen, für die sie es gestalten. Doch Weihnachten möchte zuerst die Verkünder verwandeln, damit ihre Worte dann auch glaubhaft werden. An Weihnachten sehnen wir uns alle danach, einander mit neuen Augen zu begegnen, einander friedlicher gegenüberzutreten, mehr an die Liebe im andern zu glauben. Wir hoffen, durch Weihnachten begegnungsfähiger zu werden. So möchte ich vier Begegnungen anschauen, die uns Lukas in seiner Weihnachtsgeschichte erzählt. Sie sind nicht dazu da, darüber zu predigen, sondern sich auf diese Begegnungen einzulassen, damit wir an Weihnachten einander anders begegnen. So kann die Weihnachtsbotschaft nicht nur in unseren Worten, sondern in unserer Ausstrahlung erfahrbar werden.
Maria und der Engel
Lukas beginnt seine Weihnachtsgeschichte mit der Begegnung des Engels. Der Engel verkündet Zacharias und Maria die Geburt eines Kindes, mit dem Gott etwas Besonderes vorhat. Während Zacharias dem Engel nicht glaubt, sondern an seinen Worten zweifelt, lässt sich Maria auf die Verkündigung des Engels ein. Sie traut seinen Worten. Sie führt einen Dialog mit dem Engel. Sie fragt nach, damit sie seine Worte immer besser versteht. Sie öffnet sich so für das Wort des Engels, dass das Wort in ihr Fleisch annimmt. Und sie stellt sich Gott zur Verfügung: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn. Mir geschehe nach deinem Wort." (Lk 1,38) Es ist ein Wort voller Selbstvertrauen. Maria fühlt sich als Repräsentantin ihres Volkes. Das Volk war Knecht Gottes. Doch dieser Knecht tat nicht mehr, was Gott von ihm wollte. Jetzt ist es eine Frau, die sich als Magd zur Verfügung stellt, die dem Wort des Engels gehorsam ist.
Das ist ein schönes Bild für die erste Wegetappe, die wir als Seelsorger und Seelsorgerinnen auf dem Weg zur Krippe zurücklegen. Es geht darum, auf den Engel zu hören, der auch heute in uns spricht. Der Engel kann in leisen Impulsen unserer Seele zu uns sprechen. Er kann uns in einem Menschen begegnen, der uns auf etwas aufmerksam macht, was wir übersehen haben. Und der Engel kann in einem Wort der Bibel zu uns sprechen, das uns auf einmal neu aufgeht. An Weihnachten sollen wir uns so sehr in das Wort Gottes vertiefen, dass wir davon schwanger werden. Es soll in uns eindringen und uns verwandeln. Doch dazu ist es wichtig, nicht nur auf das Wort zu hören, sondern das Wort zu befragen, was es denn bedeuten möchte, was der tiefere Sinn ist, was es uns heute sagen möchte.
Maria ist ein Bild für uns, wie wir heute dem Wort Gottes begegnen können. Dabei sind alle drei Bilder wichtig: die Magd, die Jungfrau und die Mutter. Das wird deutlich in dem Wort des schlesischen Dichters und Mystikers Angelus Silesius: „Ist deine Seele Magd und wie Maria rein, so muss sie augenblicks von Gottes schwanger sein." Unsere Seele braucht diese drei Eigenschaften, damit sie Frucht bringt: sie muss Magd sein, das heißt sie soll horchen auf das, was Gott ihr sagt. Sie soll reine Jungfrau sein. Rein heißt: absichtslos, ohne Nebenabsichten, ohne das Ego aufzublähen. Wir sind immer in Gefahr, uns an Weihnachten unter Druck zu setzen, um möglichst gut zu predigen und die Herzen der Menschen zu berühren. Doch es braucht die Absichtslosigkeit, mit der wir uns selbst der Krippe nahen. Nur dann werden wir an Weihnachten die Gottesgeburt im eigenen Herzen erfahren. Sie befähigt uns, an Weihnachten nicht nur von diesem Fest zu reden, sondern das Geheimnis mit unserem ganzen Sein auszustrahlen. Die Begegnung mit dem Engel macht uns sensibel, den Menschen um uns herum anders zu begegnen, so wie Maria nach der Verkündigung den Menschen auf neue Weise begegnet.
Maria und Elisabeth
Die schönste Begegnungsgeschichte, die uns Lukas in der Weihnachtsgeschichte schildert, ist die Begegnung zwischen Maria und Elisabeth, die Begegnung zwischen zwei schwangeren Frauen. Maria steht auf. Sie macht sich auf den Weg. Sie verlässt das Vertraute, in dem sie sich eingerichtet hat. Sie geht über das Gebirge, über die Berge von Hemmungen und Vorurteilen, um bei ihrer Verwandten Elisabeth anzukommen. Wenn wir an Weihnachten den Menschen anders begegnen wollen, müssen auch wir wie Maria aus dem Vertrauten und Bekannten ausziehen und über die Blockaden schreiten, die uns oft lähmen und uns abhalten, einander wirklich zu begegnen. Wir möchten jemanden besuchen. Aber sofort halten uns innere Stimmen ab: „Der andere hat gar keine Zeit. Er möchte nicht gestört werden. Ich finde nicht die passenden Worte." Und schon bleiben wir im eigenen Haus zurück.
Maria und Elisabeth begrüßen sich. Die Künstler stellen die beiden schwangeren Frauen oft so dar, dass sie eins werden miteinander. Sie sind frei von Rivalität. Keine muss der anderen etwas beweisen. Sie sind offen füreinander, ganz bei sich und ganz beim andern. Wenn Begegnung so absichtslos ist, dann hüpft ein Kind in uns auf. Dann kommen wir in Berührung mit unserem ursprünglichen Bild. Dann finden wir zu uns durch die Begegnung mit dem Du. Und wir werden mit Heiligem Geist erfüllt. Die Begegnung mit einem andern Menschen ruft den Geist Gottes in uns wach, der in uns verborgen ist. Und Elisabeth segnet Maria. Die Begegnung wird für beide zum Segen. Die Ältere segnet die Jüngere und zugleich weiß sie sich gesegnet von der Jüngeren. In jedem Menschen begegnen wir letztlich der Mutter Jesu. Denn - so sagen die Kirchenväter - jeder ist in seiner Seele Mutter Christi. In jedem von uns will Gott geboren werden. Jeder trägt Christus in sich. Wenn wir in der Weihnachtszeit einander begegnen, dann sollen wir einander mit diesem Blick des Glaubens anschauen. Der andere, dem wir begegnen, ist nicht der, dem wir einen Rat geben sollen oder dessen Seelsorger wir sind. Wir begegnen in ihm einem Menschen, der für uns zum Segen wird und für den wir Segen sein dürfen.
Maria und das Kind
In der Geburtsgeschichte Jesu, die uns Lukas erzählt, steht Maria im Mittelpunkt. Von ihr heißt es: „Sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war." (Lk 2,7) Die Künstler haben Maria auf den Weihnachtsbildern manchmal als Mutter dargestellt, die von den Geburtsschmerzen erschöpft im Bett liegt. Andere Darstellungen zeigen Maria, wie sie ihr Kind im Arm hält und liebkost. Oft aber kniet Maria vor dem Kind, das auf dem blanken Boden oder auf dem Saum ihres Gewandes liegt. Sie betet ihr Kind an und schaut mit einem Blick der Liebe und des Glaubens auf das Unbegreifliche dieses Kindes. Die Künstler haben mit diesen drei verschiedenen Weisen, Maria darzustellen, auch für uns drei Wege aufgezeigt, wie wir uns dem Geheimnis des göttlichen Kindes nähern können.
Da ist einmal die erschöpfte Maria, die ausruht, die in sich ruht, die sich von anderen Frauen pflegen lässt. Wir sollen an Weihnachten nicht nur für andere da sein. Wir brauchen die Ruhe, um das Geheimnis des göttlichen Kindes in uns aufzunehmen, um in aller Stille offen zu werden für die Geburt Christi in unserer Seele. Wir sollen es uns gut gehen lassen. Weihnachten ist nicht die Einladung zu hektischer Betriebsamkeit, sondern zum Innehalten. Im Schweigen wird Gott in uns geboren. Für mich ist es daher wichtig, dass ich mir am Heiligen Abend Zeit nehme, allein für mich die Weihnachtsbilder anzuschauen und beim Hören des Weihnachtsoratoriums mich immer wieder zu fragen: Was heißt Weihnachten für mich? Was bedeutet es für mich, dass Gott Mensch geworden ist, dass er auch in mir Mensch werden möchte?
Maria nimmt das göttliche Kind in ihre mütterlichen Arme. Die Mystikerinnen haben im Mittelalter dieses Bild geliebt. Sie haben das „Kindleinwiegen" als konkrete Weise der Meditation geübt. Sie waren überzeugt, dass das göttliche Kind auch in ihnen ist. Indem sie sich zu den weihnachtlichen Wiegenliedern mit vor der Brust gekreuzten Armen hin und her bewegten, wollten sie zum Ausdruck bringen, dass sie dieses göttliche Kind voller Zärtlichkeit in sich aufnehmen. Sie wollten sich auf neue Weise erleben. Wer so hin und her wiegt, der spürt eine mütterliche Liebe in sich, ob er nun Mann ist oder Frau. Und er ahnt etwas vom Geheimnis der Gottesgeburt in seinem Herzen. Für die Mystikerinnen war das eine konkrete Art und Weise, das Geheimnis von Weihnachten zu meditieren. Durch die Meditation - so hofften sie - wurden sie erfüllt mit der Liebe, die das göttliche Kind auf den Bildern der Künstler ausstrahlt. Sie können diese Art der Meditation ja einmal ausprobieren, wenn Sie die Pastorale aus dem Messias von Händel oder die Sinfonia aus dem Weihnachtsoratorium von Bach hören. Vielleicht spüren Sie dann etwas vom Geheimnis dieser Liebe, die Sie an Weihnachten durchdringen will. Wenn wir uns von dieser Liebe erfüllen lassen, dann werden wir den Menschen auf neue Weise begegnen. Wir müssen uns nicht zwingen, auf die Menschen „weihnachtlich" zuzugehen. Wir tun es, weil wir im Innersten verwandelt worden sind.
Maria betet das göttliche Kind an, das arm und nackt auf dem Boden liegt. Manchmal hat sie ihre Hände gefaltet. Ein andermal kreuzt sie die Hände über der Brust. Beide Gebärden wollen das Staunen ausdrücken, mit dem sie auf das Kind schaut. Sie möchte sich hinein meditieren in das Geheimnis dieses kleinen Kindes. Sie nimmt es nicht in Besitz. Es gehört ihr nicht. Sie lässt es los. Sie betet es an. Sie nimmt das Bild des göttlichen Kindes in sich auf. Sie bildet es in sich ein, damit sie selbst immer mehr vom Geheimnis dieser Liebe erfüllt wird, die im Kindgewordenen Gott aufleuchtet. Wir brauchen an Weihnachten Bilder, dass sie sich immer mehr in uns einbilden. Damit sie sich in unsere Seele einprägen und uns von innen her verwandeln, braucht es das anbetende Schauen, das Schauen, in dem wir eins werden mit dem Geschauten.
Die Hirten und das Kind
Als der Engel den Hirten die Frohe Botschaft von der Geburt des Retters, des Messias, des Herrn, verkündet hatte, machten sie sich auf den Weg zur Krippe. Bevor sie sich auf den Weg machen, sprechen sie zueinander. Sie ermuntern sich gegenseitig. Sie wenden sich einander zu. Gemeinsam gehen sie zur Krippe. Das ist ja auch die Aufgabe der Seelsorger und Seelsorgerinnen, einander zu ermutigen, sich auf den Weg zu machen, um das Geheimnis der Menschwerdung Gottes in der Krippe von Bethlehem anzuschauen und zu bestaunen. Es ist unser Auftrag, dass wir den Menschen die Augen öffnen für das, was Gott ihnen verheißen hat und was sich in ihrem Leben davon schon verwirklicht hat. Viele meinen, Gott sei ferne. Er habe sie vergessen, er handle nicht an ihnen. Seelsorge besteht darin, dem andern die Spuren Gottes in seinem Leben zu deuten und ihm aufzuzeigen, wo Gottes Verheißungen im eigenen Leben wahr geworden sind.
Das Zweite, was Lukas von den Hirten sagt: „Sie erzählten, was ihnen über dieses Kind gesagt worden war." (Lk 2,17) Wir schauen auf das Kind mit all den Verheißungen, die wir über dieses Kind in der Advents- und Weihnachtszeit gehört haben. Wir haben all die Aussagen der kirchlichen Tradition in uns, wenn wir auf das Kind schauen. Und wir sollen diese Worte den Menschen sagen, um das zu deuten, was sie schauen. Die Hirten erzählen so, dass alle ins Staunen geraten. Unsere Worte sind oft verbraucht. Sie dürsten nach der Frische, die offensichtlich die einfachen, unverbrauchten Worte der Hirten atmen. Die Hirten erzählen, was ihnen der Engel gesagt hat. Nur wenn wir auf das hören, was der Engel in uns über das Kind in der Krippe sagt, was wir an inneren Impulsen wahrnehmen, können wir so reden, dass alle darüber staunen. Als die Hirten von der Krippe zurückkehren, rühmen und preisen sie Gott „für das, was sie gehört und gesehen hatten; denn alles war so gewesen, wie es ihnen gesagt worden war." (Lk 2,20) Das Ziel unserer Seelsorge ist nicht, dass wir die Menschen belehren oder überzeugen, sondern dass wir gemeinsam mit ihnen Gott loben. Im Lob Gottes vergessen wir uns selbst und unsere Probleme. Wir verdrängen das Bedrängende unseres Alltags nicht. Aber im Loben relativiert sich alles, was uns bedrückt. Wir haben dann gut über Weihnachten gepredigt, wenn die Menschen mit ganzem Herzen Gott preisen für alles, was er an ihnen getan hat.