Mit den Worten Karlfried Graf von Dürckheim gehören die „Übung im Alltag" und der „Alltag als Übung" zusammen: „Übung gibt es immer in zweifachem Sinn: als gesonderte Übung ... und als Alltag als Übung". Teresa von Avila schimpft daher ihre Nonnen, weil sie auch beten, um dem Alltag zu entfliehen, in dem man immer auch Fehler macht, „... dass wir meinen, in der Einsamkeit weniger Gelegenheit zu haben, Gott zu beleidigen".
Sitzungen spirituell leiten - geht das?
Wenn christliche Spiritualität so verstanden wird, dann gehören der Alltag, die Berufswelt und die Freizeit zur persönlichen spirituellen Existenz genauso wie die Gebetszeit und der Gottesdienst. An beiden Handlungsorten kommt es auf dasselbe an, dass nämlich Gott zum Tragen kommt, oder biblisch gesprochen, ein Stück Reich Gottes wirksam wird, aber in beiden Handlungsfeldern - im Gebet und im Leben - in Gebrochenheit und Endlichkeit, mit Versuch und Irrtum, mit Gelingen und Scheitern. Das Gebet wäre heillos überfordert, wenn wir als Kirche nicht auch die Gebrochenheit des Gebets thematisierten. Aber auch das Alltagshandeln wäre überfrachtet, wenn wir darin das Reich Gottes in Fülle erwarteten. Wir würden unsere kirchliche Sitzungskultur überfordern, wenn wir meinten, das Signum spirituell würde sie effektiver und erfolgreicher, schlichtweg besser als alle weltlichen Sitzungen machen. Die real verfasste Kirche, die sich in Räten und Gremien versammelt, ist eine endliche, gebrochene Kirche, die in vielen Sitzungen scheitert und unter ihrem Anspruch zurückbleibt. Und nur wenn sie die Demut hat, dies wahrzunehmen und offen zuzugeben, ist sie ein ernstzunehmender Gesprächspartner für alle Unternehmen und Vereine, die ebenfalls in zahlreichen Sitzungen ihr Bestes geben und allzu oft scheitern.
Den geistlichen Impuls profilieren
Sitzungen im kirchlichen Kontext beginnen oft mit einem geistlichen Impuls, mit einer „Übung im Alltag", um den kirchlichen Kontext und die gemeinsame religiöse Einstellung der Teilnehmenden bewusst zu machen. In der Regel wird er immer von einer anderen Person vorbereitet. Mehr aus Pflichtgefühl denn aus Lust meldet sich jemand und übernimmt, um wenige Tage oder Stunden vor der Sitzung verzweifelt zu grübeln, was man machen, welchen Text man nehmen, was man singen oder beten könnte. Kaum einer würde sich trauen, den Impuls zu Beginn einer Sitzung abzuschaffen, aber zufrieden ist auch niemand. Allzu oft rauscht der Impuls an den Adressaten vorbei, sie finden wenig Bezug und wissen auch nicht, warum die Impulsgeberin gerade diesen Inhalt gewählt hat. Für die Linderung des Leidens am leidigen Impuls gebe ich folgende Tipps:
- Klären Sie als Leiter/in oder mit der Gruppe, welche Funktion der Impuls haben soll: Soll er in inhaltlichem Bezug zur folgenden Sitzung stehen und auf die Sitzung einstimmen? Oder soll er den persönlichen Glauben ausdrücken, in dessen Kontext man diese Sitzung wie alles andere im Leben macht? Oder soll er einen Übergang schaffen zwischen dem Alltag und der folgenden Sitzung? Oder soll er ein persönliches Zeugnis eines der Teilnehmenden sein?
Je nach Entscheidung für eine dieser vier Funktionen muss der Impuls anders gestaltet und vorbereitet werden.
- Wenn der Impuls auf die folgende Sitzung einstimmen soll und auf die geistliche Dimension (eines) der folgenden Themen hin öffnen will, dann muss der Impuls inhaltlich abgestimmt sein. Für einen längeren Zeitraum könnte verabredet werden, dass die Person, die den Impuls leitet, eine Bibelstelle auswählt, die mit der Tagesordnung korrespondiert und dass sie zwei Anmerkungen macht, warum sie eine Verbindung sieht. (Der leitenden Person muss die Bibelkonkordanz zur Verfügung gestellt werden, sonst ist diese Aufgabe eine Überforderung.)
- Wenn der Impuls eine Vergewisserung des persönlichen und gemeinschaftlichen Glaubens sein soll, dann genügt ein schlichtes Gebet, das allen bewusst macht, dass Gott mit am Tisch sitzt und die Sitzung begleitet und dass die Anwesenden auf seine Begleitung vertrauen können. Es wäre auch denkbar, dass diese Impulsvariante (zusätzlich) ans Ende gesetzt und dann als Rückblick auf die Sitzung und den Tag formuliert und vor Gott gebracht wird. Die Form ist jeweils ein schlichtes Gebet. Umso schlichter, umso besser, weil nachvollziehbar und von anderen nachahmbar.
- Wenn der Impuls den Übergang zwischen Alltag und Sitzung gestalten soll, dann empfiehlt sich die Verabredung einer „Übergangsübung", die verbal angeleitet im Sitzen oder auch mit Bewegung geschehen kann. So eine Übung könnte das Loslassen des Tages, das sich Niederlassen auf dem Stuhl, das Wahrnehmen der Anwesenden und das mentale sich Einstellen auf die Sitzung beinhalten. An ihrem Ende könnte ein kurzer Segen für die Sitzung stehen. Dieser Impuls wäre mehr oder weniger immer der gleiche.
- Wenn der Impuls dem persönlichen Zeugnis dient, dann geht es darum, dass die Person, die den Impuls leitet, etwas einbringt, was für ihren persönlichen Glauben wichtig ist (ein Lieblingslied, ein persönliches Gebet, eine wichtige Bibelstelle) oder was sie in ihrem Leben gerade beschäftigt. Zentral ist dabei, dass die leitende Person von sich spricht und etwas von sich preiszugeben bereit ist, eben Zeugnis gibt.
Diese vier Varianten können bei einer Sitzung beredet werden und dann kann die Gruppe eine Zeitlang eine Variante praktizieren. Vielleicht will sie nach dieser Zeitspanne und nach einer Reflexion der Praxis die Variante wechseln.
Den ganzen Menschen wahrnehmen
Christliche Spiritualität hat den ganzen Menschen im Blick. Übertragen auf Sitzungen heißt dies: Der ganze Mensch sitzt in der Sitzung und nicht nur ein Rollen-Ich. Der Sitzungsteilnehmer ist dann beispielsweise nicht nur Kirchengemeinderatsmitglied, sondern auch glaubender Mensch, Berufsmensch, Privatmensch, Familienmensch, Mensch mit Körper und nicht nur mit Sitzungsfleisch. Folgende Maxime lassen den ganzen Menschen in der Sitzung sitzen (und auch mal stehen):
- Wertschätzung - die Sitzungsteilnehmer/ innen sind keine Rollen, keine Zuarbeiter, keine Knechte und vor allem keine Menschen, die zu viel Zeit haben. Es sind Menschen, denen als Personen, und nicht nur ihrer konkreten Arbeit Hochachtung und Wertschätzung gebührt.
- Jede/r ist wichtig - in einer Sitzung käme es darauf an, dass jede/r seinen spezifischen Raum bekommt, aber so, dass auch alle anderen Raum haben, sich einzubringen. An dieser Stelle ist Leitung gefragt, jedem/r das Gefühl zu geben, wichtig zu sein, und dieses Gefühl auch handelnd einzulösen, gleichzeitig aber darauf zu achten, dass der zugebilligte Eigenraum keinen anderen Raum beschränkt. Das liegt zunächst in der Verantwortung des Einzelnen, muss aber von der Leitung gesichert werden, wenn Einzelne ihren Raum überschreiten. Diese Balance zwischen Einzelnem und Ganzem hat mit Demut zu tun. Die leitende Person fungiert als Vorbild.
- Wahrheit - wenn der ganze Mensch am Tisch sitzt, sitzt auch die Wahrheit des ganzen Menschen am Tisch. Das heißt nicht, dass die Wahrheit des ganzen Menschen auf den Tisch muss, aber die, die zu einem fairen und konstruktiven Fortgang der Sitzung notwendig und hilfreich ist. Wenn der Sitzungsverlauf stockt oder nicht mehr konstruktiv ist, muss sich die Leitung fragen, welche Hindernisse im Weg liegen und dies möglicherweise thematisieren. Vielleicht sind die Teilnehmenden nur müde oder schlecht vorbereitet, vielleicht schwelt aber auch Unmut oder Ärger im Raum, der stört. Störungen haben Vorrang, sagt die TZI, sie stören den Fluss des Geistes Gottes, könnten wir ergänzen, und müssen daher beachtet werden.
- Rahmen - wenn der ganze Mensch in der Sitzung sitzt, dann müssen auch verschiedene Bedürfnisse berücksichtigt werden. Gerade bei Ehrenamtlichen halte ich es für sehr wichtig, dass der Zeitrahmen genau eingehalten wird, dass es bei längeren Sitzungen eine Pause mit frischer Luft und Körperübungen gibt, dass Getränke, Obst und Kekse auf dem Tisch stehen. Nicht immer ist es möglich, aber manchmal passt eine kleine Ankommrunde in den Zeitplan, bei der man ein schönes Erlebnis der letzten zwei Wochen oder was eine/n gerade bewegt, erzählen kann.
Sitzungen funktional verstehen
Weil der ganze Mensch am Tisch sitzt, sind Sitzungen nicht nur Arbeitszeit, sondern auch Lebenszeit. Christen haben keine Lebenszeit zu verschwenden, sie sind mit ihrer Berufung zum Menschsein und Weltgestalten zu beschäftigt. Daher sollten nur so viele Sitzungen anberaumt werden wie nötig und sie sollten nur so lange dauern, wie unbedingt notwendig. Natürlich darf ein Christ im Leben auch Zeit verschwenden, aber bitte nicht mit Sitzungen. Sitzungen haben eine „dienende" Funktion, sie sind kein Selbstzweck. Das Leben und die Primärarbeit finden nicht in Sitzungen statt. Sitzungen sind Sekundärarbeit, sie sind nur notwendig, um Arbeit zu planen, zu koordinieren, zu fokussieren und zu reflektieren. Für die Leitung bedeutet diese Maxime, mit Sitzungszeit so sparsam wie möglich umzugehen, sich optimal vorzubereiten, um die begrenzte Zeit effektiv nutzen zu können und dann streng zu führen, wenn ziellos debattiert und Entscheidungen vermieden werden.
Dem „Gremiums-Geist" Raum geben
Dass Spiritualität auch den Alltag durchdringt und selbst vor Sitzungen nicht halt macht, hat mit dem Geist zu tun, den wir heilig nennen. Wenn er alles durchwirkt und durchdringt, dann auch jede konkrete Sitzung im kirchlichen und im säkularen Kontext. Es würde die Sitzung verändern, wenn die Mitglieder auf dem Weg zum Sitzungszimmer ihren Glauben daran mobilisierten, dass der Geist Gottes schon im Sitzungszimmer wartet und zum Tragen kommen will. Nach christlicher Auffassung sind alle Mitglieder der Sitzung mit Gottes Geist ausgestattet, warum sollte er also nicht in dieser bevorstehenden Sitzung zum Tragen kommen? Der/ die einzelne kann sich fragen: Welchen Beitrag kann ich heute in der Sitzung leisten, dass der Geist zum Tragen kommt? Etwa: den anderen ausreden lassen; auch einmal auf die zu hören, die wenig sagen; etwas Neues erwägen und ihm Raum geben; ...
Auch hier ist die Leitung in besonderer Verantwortung. Traut sie nur sich selber zu, dass etwas herauskommt, oder setzt sie auf den Geist in der Gruppe, der wenn die Teilnehmenden miteinander ins Spiel kommen können, selbst ins Spiel kommt?
Der christliche Glaube ist tatsächlich Glaubenssache. Aber viel wichtiger als in einer nachdenklichen Minute einen bestimmten Gott für existent zu halten, ist in den Alltagsstunden darauf zu vertrauen, dass der Geist Gottes wirkt und wirken will, so dass wir weiterkommen und etwas zustande bringen, was uns alle, die Kirche und die Welt, voranbringt.
Das Ende akzeptieren
Die Sitzungsteilnehmer und die Leitung müssen ihren Glauben hinterfragen, wenn es um die Zukunft einer Sitzung und des betreffenden Gremiums geht. Wenn nämlich niemand mehr oder kaum jemand an den Geist Gottes in der konkreten Sitzung glaubt, dann sollte die Sitzungskultur dieses bestimmten Gremiums reformiert oder gar beendet werden. „Da kommt doch eh nichts raus", ist der häufigste Satz, den ich über Sitzungen in der Kirche höre. Er kann zwei verschiedene Ursachen haben: Die Teilnehmenden haben der Sitzung ihren Glauben entzogen, sie glauben nicht mehr, dass da irgendein Geist, geschweige denn der Heilige weht. Oder: Die Teilnehmenden wollen gar nicht, dass etwas herauskommt, geistlich gesprochen, sie wollen nicht, dass der Geist zum Tragen kommt und die Arbeitsgruppe in unbekannte Regionen führt. Manche Leiter/innen bereiten die Sitzung so akribisch vor, dass es keine Überraschungen geben kann. Eine Sitzung ohne Überraschungen ist langweilig. Manche Teilnehmer/innen bringen nur unwichtige Themen ein und halten die wichtigen hinter dem Berg, damit nichts passiert. Das liegt oft am mangelnden Vertrauen in die anderen Teilnehmenden, was ebenfalls ein Problem des Geistes ist.
Manchmal sind diese Geisthürden bearbeitbar, manchmal zeugen sie einfach nur davon, dass diese Sitzung überflüssig und die beteiligte Gruppe schleunigst aufzulösen ist.
Entscheidungen treffen
Die Unterscheidung der Geister bildet ein zentrales Element christlicher Spiritualität. Die Wüstenväter und Ignatius habe eine Praxisanleitung ausgebildet, die gerade Leben und geistliche Intention miteinander verbinden, und zwar zugespitzt in Entscheidungssituationen. Die Unterscheidung der Geister ist eine Ermutigung zur Entscheidung, außer in Situationen der inneren Krise (Trostlosigkeit), in denen nicht entschieden werden soll.
In Sitzungen wird oft nicht entschieden, sondern vertagt. Entscheidungen werden bewusst oder unbewusst vermieden. Denn Entscheidungen haben Folgen und die sind nicht nur angenehm.
Damit Entscheidungen möglich sind, sollte bei der Vorbereitung für jeden Tagesordnungspunkt überlegt werden, was zur Entscheidung ansteht und dies auch in der Einladung deutlich werden. Möglicherweise sind bereits die Alternativen klar, die benannt werden können. Ignatius würde empfehlen, dass die Diskussion nach einer gewissen Zeit abgebrochen wird, die Teilnehmenden in sich hineinhören sollen und auf ihre „inneren Regungen" achten. Danach kann die Leitung klären, ob eine Entscheidung möglich ist, und wenn ja, dass sie herbeigeführt wird.
Auf das folgende Handeln achten
Eine Untersuchung zur Sitzungskultur in Deutschland ergab, dass 40 % der gefassten Beschlüsse nicht umgesetzt werden. Auch ich habe mich schon bei dem Gedanken erwischt, einem Beschluss zuzustimmen, wohl wissend, dass ihn sowieso keiner realisieren wird. Sitzungen scheinen die Tendenz zu besitzen, die Teilnehmenden in eine Art Lebenstrance zu versetzen und das Bewusstsein auszuschalten, dass es hier um etwas geht, meist eine Menge Geld und Lebenszeit verbraucht wird. Spätestens wenn sich Teilnehmende und Leitung so verhalten, dass die eigenen Beschlüsse nicht mehr ernst genommen werden, hat sich ein Ungeist ausgebreitet, der dem Heiligen keinen Spielraum mehr lässt. Die Leitung kann dem entgegenwirken, indem sie dafür sorgt, dass hinter den Beschlüssen verantwortliche Personen und ein Zeitplan für Umsetzung und Ergebnispräsentation liegen. Aber das ist nur die halbe Miete. Wenn die Beschlüsse nicht ernst gemeint sind oder niemand dahinter stehen kann, dann nützt auch kein noch so guter Folgeplan. Dann müssen die Hintergründe und Motivationen auf den Tisch, dann ist die Stunde der Wahrheit gekommen. Manchmal sind die Hindernisse zum Handeln leicht zu beheben.
Manchmal offenbart die Vermeidung von Handeln aber auch ein grundsätzliches Problem eines Gremiums, wenn es z.B. zu wenig Handlungskompetenz hat oder sich stetig überfordert oder nur zusammenkommt, um zu sitzen statt zu handeln. Die Hauptverantwortung der Leitung liegt darin, wachsam zu sein für die drohenden Ungeister, die ein Gremium beschleichen, sie aber nicht zu verteufeln, sondern ihre Botschaften zu hören und dann auch zu thematisieren.