Von neuen Möglichkeiten und alten LastenEhe im letzten Lebensdrittel

Eheleute können heute in der Ehe miteinander alt werden. Die „Goldene Hochzeit" - einst eher die Ausnahme - könnte in unserer Zeit schon bald zur Regel werden. Die Lebenserwartung der Menschen hat sich im letzten Jahrhundert mehr als verdoppelt. Entsprechend hat sich auch die Ehedauer verlängert.

Fazit

Der Übergang ins letzte Lebensdrittel ist ein schwieriger, auch gefährdeter Lebensabschnitt. Aber er ist auch reich an neuen Chancen und Möglichkeiten. Eine neue Welt tut sich auf, ohne die Zwänge des normalen Arbeitsalltags in Beruf und Familie. Ein Reichtum an Zeit! Ein unglaublicher Zeitwohlstand - auch zum persönlichen Wohlergehen? Zu zweit, und nicht mehr zu dritt oder zu viert, können die Eheleute nun leichter vieles (wieder) in Angriff nehmen, was brach liegen musste. Oder ganz Neues entdecken an Fähigkeiten und Neigungen bei sich und dem Partner. 

Trotz späteren Heiratsalters, oft erst in den dreißiger Lebensjahren, beträgt die Dauer einer nicht geschiedenen Ehe heute etwa 40 bis 50 Jahre. Die heutige Ehegeneration kann nach der Erwerbs- und Familienarbeit noch gut 20 Jahre und mehr Ehe leben. So können 60-jährige Männer mit noch durchschnittlich 20,7 Jahren rechnen und gleichaltrige Frauen sogar mit 24,6 Jahren. Für die Eheleute ein ungeheurer Zeitwohlstand für das letzte Lebensdrittel. 

Das alles könnte so sein, wenn es nicht die hohe Zahl an Scheidungen gäbe, nicht zuletzt beim Übergang in diese neue Lebensphase. Etwa zehn Prozent aller Scheidungen erfolgen nach 25 Jahren Ehe, mit zunehmender Tendenz. Nicht mehr der frühe Tod eines Partners - wie noch ein oder zwei Ehegenerationen zuvor - trennt die Eheleute. Immer häufiger ist es der „Tod" der Beziehung, der Ehen scheitern lässt. 

Das ändert jedoch nichts an der Möglichkeit und Chance, bis ins hohe Alter Ehe leben zu können. Eine Gabe, die zugleich Aufgabe bedeutet. Eine große Herausforderung, für manche Paare allerdings auch eine Überforderung! 

Papa ante portas

„Der eigentliche Grund meines Briefes ist folgender: Mein Mann wird demnächst fünfundsechzig und hört dann mit der Arbeit auf. Er geht in Rente, wie man bei uns so sagt. Mir ist deswegen angst und bange. Bisher war der Beruf sein ein und alles. Er war damit mehr oder weniger verheiratet. Und wenn der nun wegfällt? Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es sein wird, wenn er den ganzen Tag zu Hause sein wird. Was mache ich dann nur mit ihm ..." 

Ein Brief. Er steht für die Sorgen und Befürchtungen vieler Frauen. Sie haben eine „Heidenangst" vor der Pensionierung ihrer Männer. Wohl nicht ganz zu unrecht, wie eine andere Frau klagt: „Mein Mann steht morgens auf und fragt als erstes: Was steht heute auf dem Programm?" Da will jemand unterhalten werden, vielleicht neuen Halt in seinem Leben finden. Oder gar in die Domäne seiner Frau einbrechen und im Haushalt aufräumen. Was einst „Frauensache" war, wird nun vom „Hausherrn" beansprucht. Loriot lässt grüßen ... 

Was den Haushalt betrifft, so ist der Mann sogar höchstrichterlich - durch ein Urteil des Bundesgerichtshofes aus dem Jahre 1959(!) - in die Pflicht genommen. „Der Ehemann ist auch im Haushalt zur Mithilfe verpflichtet. Ist er nicht mehr berufstätig, so wird er im Allgemeinen zur erhöhten Mithilfe im Haushalt verpflichtet. Größere und beschwerlichere, der Frau unzumutbare Arbeiten sind zu übernehmen." Und der Schlusssatz lautet ganz unmissverständlich: „Es ist unvereinbar, dass ein im Ruhestand lebender Mann der Frau bis ins hohe Alter zuschaut." 

Ein kritischer Lebensübergang

Der Übergang von der Erwerbsbzw. Familienarbeit in den Ruhestand ist die Zäsur in der Lebensbiografie eines Menschen, eine der kritischsten Lebensphasen überhaupt. Von der Vollbeschäftigung entlassen in die Beschäftigungslosigkeit, sozusagen von „hundert auf null"! Und zugleich ausgesetzt der Zeitlosigkeit des Lebens und der Regellosigkeit des Alltags. Bisher strukturierte die Arbeit in Beruf und Familie die Zeit und regelte den Rhythmus von Werktag und Feiertag, von Arbeitszeit und Freizeit, von Belastung und Entlastung vor. Feste Ordnungen sind nun aufgehoben, alte Sicherheiten gehen verloren. Wenn der Alltag aus dem Takt gerät, kriselt es. 

Den Verlust ihres Arbeitsplatzes im Betrieb oder in der Familie erleben viele Menschen zugleich als ein Verlust an Lebenssinn und Lebenserfüllung, an Wertschätzung und Selbstachtung. 

  • Was für ein Mensch bin ich jetzt - ohne Arbeit, ohne Kinder?
  • Wo stehe ich, wo stehen wir heute? Was habe ich, was haben wir erreicht? Was haben wir verwirklichen können von unseren Plänen und Träumen?
  • Was ist uns gelungen? Woran sind wir gescheitert?
  • Wer will ich noch werden? Was wollen wir beide aus unserem Leben noch machen? Wie meine, unsere Zukunft gestalten?

Lebensübergänge sind Krisenzeiten, im wahrsten Sinne des Wortes „Wendezeiten", oft radikal, buchstäblich an die Wurzel gehend! Wo das Leben sich wendet! Und von einem Tag auf den anderen sich nahezu alles im Leben verändert - bis hin zu den Menschen selbst, die nun auch Andere werden. Und die zu einer neuen Identität finden müssen als Eheleute „wieder zu zweit allein". 

Jeder Übergang bedeutet Abschied von bisher Vertrautem und Liebgewonnenem und Aufbruch in eine Zukunft voller Ungewissheiten, aber auch unverhoffter Möglichkeiten. „Wenn sich eine Türe schließt, dann öffnet sich stets eine andere. Deshalb sollten wir den Verlusten hinter der geschlossenen Tür nicht so sehr nachtrauern, auf dass wir nicht die Chancen verpassen, die uns hinter der soeben geöffneten Tür erwarten" (André Gide). 

Zu zweit - und doch allein? 

Der Ruhestand bringt Unruhe in die Ehe. Plötzlich sind die Eheleute ständig miteinander konfrontiert. Sie sind nun Tag und Nacht, rund um die Uhr, zusammen. Aber 24 Stunden Ehe leben, das hält nicht einmal der beste Ehemann, die beste Ehefrau aus. Dennoch halten gerade ältere Ehepaare immer noch an dem trügerischen Idealbild einer „guten Ehe" fest, möglichst alles gemeinsam tun zu müssen. Das kann einfach nicht gut gehen, da sind Spannungen und Reibereien vorprogrammiert. Da wird der Haussegen schon bald schief hängen ... 

Wieder zu zweit ... und doch allein? Am Tisch, beim Frühstück, beim Mittagessen, beim Abendbrot?! Die Plätze der Kinder sind unbesetzt. Die Eheleute bleiben unter sich, sitzen sich allein vis-a-vis gegenüber. Der Tisch deckt Beziehungen auf. Der Tisch ist zentraler Ort menschlicher Begegnung und Kommunikation. Am Tisch kann man sich nicht ausweichen. Nichts auf Dauer unter den Tisch kehren. Alles muss irgendwann auf den Tisch! 

Wie es um die Ehe steht, wird am Tisch offen gelegt. Nirgendwo wird die „Sprachlosigkeit im ehelichen Alltag" so bedrückend erlebt wie am Tisch. Nirgendwo aber können Probleme und Schwierigkeiten besser aufgearbeitet werden als am „runden Tisch". Nur wer sich zusammensetzt, kann sich auch auseinandersetzen...und nur wer sich auseinandergesetzt hat, wird sich auch wieder zusammensetzen! 

„Wieder zu zweit allein" ist, bei allen Verlusten, auch Gewinn. Die Eheleute rücken, nicht nur räumlich, wieder enger zusammen. Sie können nun endlich die Zeit mit dem Partner mehr als früher genießen und langaufgeschobene Ideen und Pläne verwirklichen. Die Abkehr von der eher eindimensionalen Welt der Leistung, des Erfolges, des Prestiges, der Äußerlichkeiten und so mancher Belanglosigkeiten kann zu einem erfüllteren Leben führen. Reisen, Musik, Malerei, Spiel und Sport, Stille und Muße - was für ein Zugewinn an persönlicher Zufriedenheit. Und an neuer Zuwendung und Verbundenheit mit dem Partner! Es gibt auch so etwas wie „Eheglück im leeren Nest." 

Voneinander gefesselt sein und doch einander keine Fesseln anlegen, das ist das Kunststück einer jeden Ehe, auch und gerade im letzten Lebensdrittel. Wie kaum jemals zuvor, eröffnen sich den Eheleuten Freiräume für je eigene und für gemeinsame Aktivitäten, Erlebnisse, Freundeskreise. Sie brauchen „Eigenräume", Raum für sich, wie auch „Zwischenräume", Raum für sie beide. Es geht um die Balance von Ein-samkeit und Zwei-samkeit, von Be-ziehung und Ent-ziehung, von Eigen-sinn und Gemein-sinn, von Ich und Wir. 

Individuelle und gemeinschaftliche Interessen, Wünsche und Bedürfnisse müssen sorgfältig austariert werden. Nähe darf nicht umschlagen in Abhängigkeit, Distanz nicht zur Entfremdung führen. Wo die Gewichte sich über einen längeren Zeitraum einseitig verlagern, gerät die Ehe in eine bedrohliche Schieflage. „Eine Beziehung ist wie ein Hausdach, das auf zwei Säulen ruht. Wenn die Säulen zu dicht oder zu weit auseinander stehen, fällt das Haus in sich zusammen" (Khalil Gibran). 

„Generation Silver Sex"

Wer länger lebt, liebt auch länger - körperliche Liebe inbegriffen. Verliebt sein, Zärtlichkeit, Sexualität, wohl zurecht sind sie nicht mehr allein Vorrecht der Jungen. Die Zeiten sind - Gott sei Dank(!) - doch endgültig vorbei, da Sexualität zur „ehelichen Pflicht" gehörte mit dem alleinigen „ehelichen Zweck" der Zeugung von Nachkommenschaft. Da konnte einem schon die Lust vergehen ... 

Allzu oft hat die Kirche einst mit ihrer rigiden Sexualmoral reglementierend, normierend und sanktionierend in das Leben der Liebes- und Eheleute eingegriffen. Längst überholt das alles, aber bei vielen Älteren noch nachhaltig wirksam. „Aus dem Alter sind wir doch heraus ..." 

Der Mensch ist sexuelles Wesen, vom ersten bis zum letzten Atemzug. Menschliche Sexualität ist jederzeit offen und aktuell. Sie umspannt alle Lebensphasen und ist auf keine bestimmte Zeit festgelegt. Alterssexualität ist kein Tabu mehr. Jedenfalls ist es heute ganz selbstverständlich, auch im letzten Lebensdrittel verliebt zu sein oder sich noch einmal neu zu verlieben. Und diese Liebe auch ganz unbefangen zum Ausdruck zu bringen. „Die Generation Silver Sex" will nicht zuletzt durch sexuelle Aktivitäten ihr Leben auch im Alter kreativ und konstruktiv gestalten. Sie kümmert sich mehr denn je um körperliche Fitness, um attraktive Ausstrahlung, um Wohlbefinden und Gesundheit. 

Sexualität ist eine gute Gabe Gottes. Er hat den Menschen geschaffen als ein sinnenfreudiges, lustbetontes Lebewesen. Mit all seinen Kräften und Säften, mit all seinen Trieben und Strebungen, mit all seinen Sehnsüchten und Hoffnungen! Mit dieser Gabe „befriedigend" bis ins hohe Alter umzugehen, ist eine „gottgewollte" Aufgabe für alle Liebes- und Eheleute. „Und wenn ich achtzig Jahre zählen werde, so wird ein weißes Haar vom Haupte der geliebten Frau mich mehr erzittern lassen als der dichteste Zopf des allerschönsten jungen Hauptes", so die „Liebesversicherung" des englischen Schriftstellers George Bernard Shaw an seine Frau. 

Wenn Bilanz gezogen wird

Der Übergang ins letzte Lebensdrittel ist die Zeit, wo gleichsam Rückschau und Ausschau gehalten und spätestens jetzt (Zwischen-)Bilanz gezogen wird. Dann wird gewogen: Traum und Wirklichkeit, Ideal und Realität, Soll und Ist, Jetziges und Zukünftiges. Und häufiger denn je wird das Ergebnis als zu leicht befunden. Sagten früher viele: Die paar Jahre halte ich noch aus, so heißt es heute: Das tue ich mir nicht weiter an. Vor allem die Frauen ziehen dann die Konsequenzen aus einer unerfüllten Ehe, oft zur großen Überraschung ihrer Männer. Wenn eine Ehe nach langer Zeit geschieden wird, trennen sich nicht nur zwei Menschen, es teilt sich auch eine Welt und vieles geht verloren. Und nach 25 Jahren kann diese Welt sehr groß sein ... 

Die Erwartungen an eine „glückliche Ehe" scheinen sich in unserer Zeit ins Grenzenlose zu steigern. Die große Liebe soll ewig (so) bleiben, die Ehe möglichst vollkommen sein, das Familienleben harmonisch verlaufen und die Kinder perfekt geraten. Das Dogma vom unendlichen Glück ist in seinem Totalitätsanspruch moderner Fundamentalismus. „Ich will das vollkommene Glück - jetzt, sofort, auf Dauer!" 

Wenn das „Leben als letzte Gelegenheit" verstanden wird, so die Soziologin Marianne Gronemeyer, dann gilt es in der begrenzten Lebenszeit alles auszuschöpfen, was eben möglich ist. Dann muss sich alles im Hier und Jetzt erfüllen, dann muss bis ins letzte herausgeholt werden, was das Leben zu bieten hat. Dann kommt ständig die Angst auf, im Leben etwas zu verpassen. In der Liebe, in der Ehe, in der Familie und sonst wo! 

Plädoyer für eine „halbwegs gelungene" Ehe

Unserer Sehnsucht nach Glück und Heil steht jedoch die Last, aber auch die Würde(!) der Endlichkeit und Begrenztheit menschlichen Lebens gegenüber. Nicht alles gelingt, nicht alles erfüllt sich. Das meiste bleibt unvollendet, bruchstückhaft, bedroht und zerbrechlich, auch und gerade in der Liebe. 

Deshalb das Plädoyer für eine „halbwegs gelungene" Ehe. Weil ein gewisses Maß an Bescheidenheit die Eheleute zufrieden - „in Frieden" - miteinander leben lässt! Und weil sie vor übergroßen Erwartungen schützt und zugleich vor abgrundtiefen Enttäuschungen bewahrt. Eine „halbwegs" erfüllte Liebe kann für ein ganzes Leben reichen! 

Das ist viel mehr als die oberflächlichen Glücksverheißungen versprechen. Eine „halbwegs" gelingende Ehe ist immer noch unterwegs, nie am Ziel, immer in Bewegung. Die Dichterin Ingeborg Bachmann bringt es auf den Punkt: „Es gibt keinen Punkt, an dem wir stehen bleiben könnten und sagen: Jetzt haben wirs. So muss es sein. So werden wir es immer machen! Wir sind immer unterwegs." 

Wenn die Ehe sich auf das letzte Lebensdrittel zubewegt, liegt es an den Eheleuten, das noch Ausstehende, noch Nicht-Erreichte entschlossen anzugehen und sich gemeinsam neue Lebensziele zu setzen. Blieb man früher auf ewig zusammen wegen der Kinder, wegen der Leute, wegen der Konventionen, wegen des nackten Überlebens, so müssen heute die guten Tage „halbwegs" die schlechten überwiegen. Dann bleibt man zusammen, dann hält man zusammen, dann hält man auch manches aus. Dann weiß jeder, wo er ist und wo er bleibt! Und was er dem anderen nach wie vor bedeutet. 

In diesem Sinne wird eine „halbwegs gelungene" Ehe zu einem „vollen Erfolg". Wenn, ja wenn man nicht auf halbem Wege stehen bleibt, sondern sich immer wieder gemeinsam aufmacht und voller Zuversicht seines Weges geht ..., auch und gerade ins letzte Lebensdrittel. Christen können darauf vertrauen, dass Gott ihren Weg wohlwollend begleitet „bis ihr grau werdet, will ich euch tragen ..." (Jesaja 46,4). 

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

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