Spürbar etabliert sich das Stichwort „Demografischer Wandel" im öffentlichen Diskurs und es wird immer häufiger auf den sich in Folge niedriger Geburtenzahlen und steigender Lebenserwartung tiefgreifend verändernden Altersaufbau unserer Gesellschaft verwiesen. Allerdings ist es erst schemenhaft und dazu regional noch höchst unterschiedlich greifbar, was es konkret heißt, wenn sich die Bevölkerungspyramide umkehrt. Dabei hat sich in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamtes die Zahl der Menschen ab 65 Jahren gegenüber dem Jahr 1990 bereits um 42 Prozent auf rund 17 Millionen erhöht. Es wird prognostiziert, dass im Jahr 2030 voraussichtlich 22 Millionen Menschen bzw. 29 Prozent der Bevölkerung mindestens 65 Jahre alt sein werden. Die fortschreitende Alterung der Gesellschaft zeigt sich besonders deutlich an der wachsenden Zahl der Hochbetagten: Lebten 2009 etwa 1,5 Millionen Menschen in Deutschland, die mindestens 85 Jahre alt waren, so wird ihre Zahl in der Mitte der 2050er Jahre etwa 6 Millionen erreichen. Das entspräche dann einem Bevölkerungsanteil von 9 Prozent.
Dass mit der demografischen Entwicklung große gesellschaftliche Herausforderungen verbunden sind, ist offensichtlich. Als „alternde Kirche in einer alternden Gesellschaft" (Karl Gabriel) sind Christinnen und Christen gut beraten, diesen Wandlungsprozess engagiert mitzugestalten. Aber auch auf der Individualebene stellen sich eine Vielzahl von Fragen und Aufgaben. Hier sei besonders auf die gegenüber der Mitte des 19. Jahrhunderts verdoppelte Lebenslänge verwiesen. So prognostiziert das Statistische Bundesamt bis 2050 einen Anstieg der Lebenserwartung für in Deutschland neugeborene Jungen von 75,6 auf etwa 81 Jahre und für Mädchen von 81,6 auf knapp 87 Jahre. Der Rostocker Demograf James Vaupel hält diese Schätzung noch für untertrieben: Wer im 21. Jahrhundert geboren wird, hat seiner Ansicht nach sogar eine Chance von 1:1, den 100. Geburtstag zu feiern. Ursächlich hierfür sind insbesondere die Fortschritte in der Erforschung der biologischen Alterungsprozesse und der biomedizinischen Therapie von altersassoziierten Krankheiten. Sie sorgen dafür, dass Menschen nicht nur länger leben, sondern auch länger gesund bleiben. Laut Vaupel nimmt die Lebenserwartung der Menschen nicht zu, weil der Alterungsprozess sich insgesamt verlängert, sondern weil er immer später einsetzt. Die sich ausdehnende Lebensspanne stellt den Einzelnen dann aber vor die durchaus existentiell zu nennende Aufgabe, die im Vergleich zu früheren Generationen hinzu gewonnenen Jahre auch sinnvoll zu gestalten, ohne dabei das Altwerden der eigenen Eltern oder Großeltern einfachhin als Vorbild übernehmen zu können.
Macht der Bilder
Dabei hat jeder Vorstellungen davon, was einen alten Menschen auszeichnet und wie sich der Prozess des Älterwerdens typischerweise gestaltet. Solche Altersbilder werden von der Gerontologie als sozial und individuell verankerte Sichtweisen und Orientierungsmuster verstanden. Sie bestehen aus einem komplexen Gefüge kognitiver und emotionaler Bedeutungsinhalte, aus Einstellungen, Werten, Körper- und Selbstbildern und sind nicht zuletzt biographisch geprägt. Dabei dominieren häufig eher negativ bewertete Zuschreibungen wie gebrechlich und krank, missmutig und unzufrieden vor positiven Vorstellungen wie weise und erfahren. Zumeist finden sich nicht Altersbilder, die eindeutig positiv oder negativ sind, sondern zum Beispiel im Blick auf Familie, Arbeit und Gesundheit unterschiedliche bereichsbezogene Erfahrungs- und Wertungsdimensionen des Alterns und Altseins.
Diese Mehrdimensionalität innerhalb der Altersbilder wird durch die gestreckte und sich weiter ausstreckende Lebensphase, die im gesellschaftlichen wie individuellen Bewusstsein unter der Überschrift „Alter" firmiert, weiter verstärkt. Ausgedehnt hat sich das Alter in zweierlei Weise: Da ist zum einen das „dritte" Lebensalter, das sich nach der Erwerbsphase als ganz eigener Lebensabschnitt voller „später Freiheiten" (Leopold Rosenmeyer) in den Lebenszyklus eingefügt hat. Und ihr folgen - gegenüber früheren Generationen ebenfalls in veränderter Gestalt - die letzten Lebensjahre, die für viele Menschen nicht mehr durch eine relativ kurze und rasch zum Tod führende Krankheitsphase, sondern durch eine nicht selten mehrere Jahre andauernde Pflegebedürftigkeit geprägt ist, wie sie sich beispielsweise aufgrund neurodegenerativer Erkrankungen wie der Alzheimer- Demenz ergibt. Innerhalb gerontologischer Fachdiskurse findet diese Komplexität des Alter(n)s dort ihr Pendant, wo die größer werdende Zahl von alten Menschen in Gruppen wie die der „jungen Alten" und „alten Alten" bzw. „Alten", „Hochalten" und „Höchstaltrigen" unterteilt und die sich immer weiter ausdehnende Altersphase in qualitativ verschiedene Abschnitte wie die des „dritten" und „vierten" Lebensalters strukturiert werden. Im Ergebnis ergeben sich dabei nicht selten Gesellschaftsanalysen und Handlungskonzepte, in denen „die (eigentlich) ‚jungen' Alten symbolisch dafür stehen, wie sich die Gesellschaft womöglich doch noch am eigenen Schopf aus dem demographischen Sumpf ziehen könnte" und „die (wirklich) ‚alten' Alten als Projektionsfläche persönlicher wie gesamtgesellschaftlicher Alternsängste gleichermaßen" dienen (Stephan Lessenich / Klaus Rothermund).
Wann ist man eigentlich alt?
Studien zum Selbst- und Fremderleben des Älterwerdens setzen allerdings Fragezeichen hinter die Unterscheidungen zwischen „zweitem", „drittem" und „viertem" Lebensalter, da sich keine klar konturierten Übergänge von der Erwerbsphase in den Ruhestand oder vom Nacherwerbserleben in die Hoch- und Höchstaltrigkeit explorieren ließen. Von den Befragten wird die Selbstwahrnehmung als „alter" Mensch stattdessen im Lebensverlauf konsequent in die Zukunft vertagt, veränderte Lebensumstände und Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb des gegenwärtig so häufig aufgerufenen „dritten Alters" explizit gar nicht als Altersphänomene eingeordnet. Die Nacherwerbsphase wird stattdessen im Sinne einer ungebrochenen Kontinuität dem „normalen" Erwachsenenalter zugeordnet. Rentner rechnen sich demzufolge allenfalls „objektiv" der Gruppe der Älteren zu, betonen aber zugleich, sich diesen nicht zugehörig zu fühlen. Nur der Übergang ins pflegebedürftige, abhängige Alter wird von den Befragten als für das Selbsterleben als alter Mensch relevanter Einschnitt gedeutet. „[E]rst dieser Übergang", so die Autoren einer aktuellen Studie, „[wird] prospektiv als Bruch mit der gesamten bisherigen Lebensführung antizipiert und dabei zunächst nicht am Erreichen einer bestimmten kalendarischen Altersgrenze festgemacht […], sondern an einem befürchteten umfassenden und nicht mehr zu kompensierenden Verlust von Lebensqualität" (Stefanie Graefe / Silke van Dyk / Stephan Lessenich). Dieser Einbruch ins Altsein wird von den Befragten als „Ende des Lebens" beschrieben, „über das es dementsprechend auch nicht viel mehr zu sagen gibt, als dass man sich wünscht, es möge möglichst spät kommen und dann ‚schnell vorbei sein'" (ebd.). In diese Richtung weist auch die Aussage einer älteren Dame, die bei einer Straßenumfrage auf die Frage „Wann ist man eigentlich alt?" zur Antwort gab: „Ich bin zwar 80, aber ich meine, ich wäre noch nicht so alt. Solange ich mir noch alles selbst machen kann und mich pflegen kann, bin ich nicht alt. Erst dann bin ich alt, wenn ich das nötig habe."
Alt werden möchten alle, alt sein niemand
Wer das Sprichwort „Alt werden möchten alle, alt sein niemand" zitiert, bringt damit zumeist sein Unverständnis gegenüber solchen - in seinen Augen - alten Menschen zum Ausdruck, die ihr Altsein - vermeintlich - leugnen. Kann es aber nicht auch schlicht so sein, dass wir zu inflationär mit der Kategorie „alter Mensch" umgehen und diese - gemessen am Selbsterleben unzutreffende - Zuschreibung von den Betroffenen aus nachvollziehbaren Gründen abgewiesen wird? Längere Lebensspannen bei besserer Gesundheit lassen es immer fragwürdiger erscheinen, Menschen rund um den 65. Geburtstag quasi automatisch zum „alten Eisen" zu zählen (oder diese sich wie selbstverständlich auf das Altenteil zurückziehen zu lassen). Wenn, wie beschrieben, viele Menschen erst dann sich als alt begreifen, wenn sie dauerhaft auf Unterstützung und Pflege angewiesen sind, dann sollte man den Altersdiskurs vielleicht einfach um das Ringen um adäquate Konzepte für die „jungen Alten" entlasten und sich auf die „richtig" Alten und ihre Unterstützungs- und Pflegebedürftigkeit konzentrieren. Nicht das „Alter" hätte sich dann in den letzten Jahrzehnten massiv ausgedehnt, sondern das mittlere und höhere Erwachsenenalter.
Alles nur Begriffsklauberei, die Probleme nur verlagert, sie aber nicht löst? Selbstverständlich ist jeder Versuch in gewisser Hinsicht willkürlich, den Lebenszyklus in Lebensphasen einzuteilen. Gleichwohl haben sich solche Strukturierungsversuche daran messen zu lassen, inwiefern sie dazu taugen, „den dem Menschen gegenüber indifferenten Fluss der Zeit einem Sinn- und Ordnungssystem zu unterwerfen" (Christoph Wulf). Diese sinn- und ordnungsstiftende Funktion scheint mir aber nun insbesondere im Hinblick auf die letzten Lebensjahre mit ihren besonders intensiven Erfahrungen von Kontingenz und Endlichkeit bedeutsam, ja von Nöten - nicht zuletzt da dem statistischen Gewinn an Lebensjahren auch ein ebenso empirisch aufweisbarer Verlust an Hoffnung und Zuversicht auf ein auch das Sterben und den Tod überdauerndes „ewiges Leben" gegenübersteht. Altsein gilt es zu lernen, wo man selbst und das soziale Umfeld buchstäblich spüren, dass sich die Lebenszeit dem Ende neigt, wo Krankheiten häufiger werden und häufig mehrere Krankheiten vom Patienten und seinen Angehörigen gleichzeitig auszuhalten sind, ohne dass Heilung absehbar wäre, wo eine auftretende Pflegebedürftigkeit von allen Beteiligten als endgültig und unumkehrbar wahrgenommen wird. Ein solches radikales Altsein zu lernen, heißt eine „bewusst angenommene Abhängigkeit" (Andreas Kruse) zu erlernen. Für jeden, der „Pastoral" nicht allein substantivisch als Sammelbegriff für kirchliche Dienstleistungen versteht, sondern diese christlich-kirchliche Praxis kritisch dahingehend hinterfragt, ob sie dem Anspruch des Evangeliums in der Welt von heute tatsächlich entspricht und von daher das Attribut „pastoral" verdient, dürfte dabei selbstverständlich sein, dass die spezifische und prekäre Lebensendsituation der Hochaltrigen, Gebrechlichen und Unterstützungsbedürftigen der besonderen Aufmerksamkeit und Solidarität der (Alten-)Pastoral bedarf.
Grenzgänger der Transzendenz
Wo Pastoral und Pastoraltheologie die, wie es die Pastoralkonstitution formuliert, „hohe Berufung des Menschen" in den Mittelpunkt ihrer Reflexion und ihres Engagements stellt und für Lebensumstände eintritt, die dieser Berufung entsprechen, da wird sie sich für eine „pastorale Anthropologie" interessieren. Von daher: Was ist der Mensch, wenn er altert bzw. alt geworden ist? Ein Mensch - was sonst? Gegen jeden Versuch, die anthropologische Grundfrage auf die Gruppe und Lebenssituation der „in die Jahre Gekommenen" zuzuspitzen und ihr eine „angemessene", weil spezifische Antwort zu geben, hat die Besinnung, ja Erinnerung an die vor aller Unterschiedlichkeit stehende Gemeinsamkeit aller Menschen im Menschsein zu stehen. Gleichwohl verdient die Frage nach einer „Anthropologie des Alters" durchaus Aufmerksamkeit und dies zumindest in zweierlei Hinsicht: Da ist zum einen die Aufgabe, die Entwicklung des Menschen über die verschiedenen Stationen und Phasen des Lebenszyklus hinweg wahr- und ernstzunehmen und dabei eben auch auf die letzte Lebensphase zu fokussieren. Zum anderen bietet sich die Chance, über den fokussierten Blick auf die älter und alt gewordenen Menschen und vor allem im genauen Zuhören auf das, was die Altgewordenen zu sagen haben, etwas über das Menschsein an sich zu lernen, also etwas, was für Menschen ganz unterschiedlicher Lebensalter von Bedeutung sein kann.
Klaus Hemmerle hat einmal jene, deren Lebenssituation Anlass gibt, ziemlich real mit dem „letzten Stündchen" zu rechnen, „Grenzgänger der Transzendenz" genannt. Gerade weil die gegenwärtige Lebenserfahrung von der Vorstellung einer Beherrschung der Welt und des Daseins durch das Können des Menschen geprägt sei, müsse die christliche Botschaft neu ins Spiel gebracht werden: als Botschaft von der Liebe Gottes und ihrer grenzenlosen Annahme der Grenzen von Mensch und Welt. Das Alter(n) ist für Hemmerle eine solche Grenzsituation nicht nur gegenüber dem Tod, sondern auch gegenüber dem Sinn seines Daseins zwischen aktivem, funktionsgeladenem Leben hier und der ungewissen Begegnung mit der Grenze des Lebens dort. Wo Pastoral sich den Alten zuwendet, diesen „Grenzgängern der Transzendenz", hilft sie ihnen und uns allen, sich dem eigenen Transzendenzbezug zu stellen. Mit eigenen Worten gesagt: Altenpastoral kann Menschen aller Lebensalter und Generationen helfen, das Alter und hier insbesondere Krankheit, Gebrechlichkeit und Endlichkeit erleben und verstehen zu lernen. Dies wird umso besser gelingen, wenn alte Frauen und Männer selbst, als „berufene Rufer" (Alfons Deissler) und in prophetischer Rede, ihre Lebenssituation und ihr Lebensschicksal gegen die Illusion eines perfektionierten, alters- und leidfreien Lebens kritisch ins Feld führen. Für Christinnen und Christen verbindet sich das Bewusstsein der eigenen Schwäche und Endlichkeit mit dem tröstenden Wissen um die Gnade der Erlösung. Im Hier und Jetzt der den alten Menschen abverlangten Bewährungen und der ihnen geschenkten Freiheiten wird prophetisch etwas von der Zukunft Gottes spürbar. Ein solcher Glaube, eine solche Altenpastoral verändert den Blick auf das Alter und die Alten, es verändert auch den Blick der alten Frauen und Männer selbst.