Die moderne Hospizbewegung, die ihren Ausgangspunkt Ende der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts in England nahm, richtet sich in einer überkonfessionellen Offenheit an alle Menschen. Dennoch ist sie von ihrem Ursprung her immer auch eine geistlich-spirituelle Bewegung, basierend auf einem christlichen Menschenbild. So sah Cicely Saunders, die Pionierin der Hospizbewegung und Gründerin des weltweit ersten stationären Hospizes, des St Christopher’s Hospice in London, den wichtigsten Grundstein ihrer Arbeit „in jenen schlichten Worten von Jesus im Garten Getsemani, in denen all die Nöte und Bedürfnisse Sterbender zusammengefasst sind: ‚Wachet mit mir!‘(Mk 14,34). Zuallererst verlangt ‚wachet‘, dass all unsere Arbeit … aus der Achtung für den einzelnen Patienten und aus dem Wahrnehmen seiner Nöte herauswächst. Zu wachen heißt, ihn wirklich wahrnehmen, zu merken, welcher Schmerz ihn plagt, welche Symptome es sind, und von dieser Wahrnehmung aus Wege zu finden, um ihm Erleichterung zu schaffen“.
Spirituelle Begleitung als wesentlicher Bestandteil der Palliativversorgung
Cicely Saunders Anliegen war es, dass der sterbende Mensch mit all seinen Bezügen und Bedürfnissen im Mittelpunkt der Begleitung am Lebensende steht. So sind von den Anfängen der Hopsizbewegung an, neben den medizinischen und pflegerischen auch die psychosozialen und spirituellen Bedürfnisse Sterbender und ihrer Angehörigen im Fokus der Aufmerksamkeit.
Dies findet seinen Niederschlag auch in der weiteren Entwicklung von hospizlicher Versorgung und Palliativmedizin. Nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von Palliative Care aus dem Jahr 2002 besitzt die Begleitung von Patientinnen und Patienten bei sozialen Problemen und spirituellen Bedürfnissen hohe Priorität - neben der Linderung von physischen und psychischen Schmerzen und Symptomen.
Spirituelle Begleitung ist damit eine der vier tragenden Säulen des gesamten Ansatzes und wesentlicher Bestandteil hospizlich-palliativer Versorgung. Spiritual Care ist ein wesentliches Merkmal von Palliative Care und Aufgabe nicht nur des Seelsorgers, sondern aller an der Versorgung Sterbender und ihrer Angehörigen beteiligten Berufsgruppen. Sie geschieht deshalb auch in interdisziplinärer Zusammenarbeit. So ist auch die Seelsorge Teil eines integrierten Konzeptes.
Spiritualitätsbegriff im palliativen Kontext
Was aber ist unter Spiritualität, einem doch sehr oft diffus gebrauchten Begriff, im Kontext palliativer Zuwendung zu verstehen? Die Sektion Seelsorge der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin versteht unter Spiritualität die innere Einstellung, den inneren Geist wie auch das persönliche Suchen nach Sinngebung eines Menschen, mit dem er Erfahrungen des Lebens und insbesondere auch existenziellen Bedrohungen zu begegnen versucht. Für Erhard Weiher ist Spiritualität der deutende Umgang mit existentiellen Erfahrungen; dieser erfolgt lebenslang und gehört zur Grundausstattung des Menschen. Deshalb ist für ihn kein Mensch unspirituell. Er unterscheidet aber zwischen einer Alltagsspiritualität und einer Glaubensspiritualität. Unter Alltagsspiritualität versteht er die Beziehungsgeschichte eines Menschen mit Personen, Dingen und Ereignissen des Lebens. Diese Lebens- und Beziehungsgestaltung symbolisiert etwas von dem, was der Person heilig ist und sie zutiefst bewegt. Alltagsspiritualität wird dann zur Glaubensspiritualität, wenn Menschen diese Verbundenheit ausdrücklich dem höchsten Geheimnis, dem alles umfassenden Sinngrund, Gott dem Absoluten zuschreiben und sich damit in Verbindung wissen.
Spirituellen Schmerz wahrnehmen und begleiten
In der seelsorglichen Begleitung Sterbender und ihrer Angehörigen kommt es darauf an, Sensibilität für die spirituelle Dimension ihres Schmerzes bzw. ihres Leidens zu entwickeln. Spirituelle Schmerzen, so Erhard Weiher, entstehen überall da, wo der Mensch sich in seiner Verbindung zum Geheimnis des Lebens, zum Sinn seines Lebens bedroht oder abgeschnitten sieht. Durch den Tod werden alle Beziehungen getrennt - zuletzt auch die Beziehung des Menschen zu sich selbst. Dies fordert die spirituelle und existentielle Dimension des Menschen und seiner Begleiter heraus. So bedeutet zum Beispiel für viele Gäste unseres Hospizes das Verlassen bzw. die Aufgabe der eigenen Wohnung, die mit dem Einzug ins Hospiz oft verbunden ist, ein ganz einschneidendes Ereignis. Sie spüren schmerzlich die Wahrheit, die im Hebräerbrief (13,14) zum Ausdruck kommt, dass der Mensch auf Erden keine bleibende Stätte hat, dass sie vieles, was für sie Lebensmittelpunkt und -inhalt war, aufgeben müssen. Dies gilt ebenso für die Aufgabe der Berufstätigkeit oder der Lebensaufgabe, die man nun nicht mehr ausüben kann. Im Angesicht des nahenden Todes, werden bei manchen auch im Leben offengebliebene Wünsche und Sehnsüchte wach. Eine Frau, Anfang vierzig unheilbar an metastasierendem Brustkrebs erkrankt, litt darunter, das ihr Kinderwunsch unerfüllt geblieben war und fragte sich, ob sie überhaupt Spuren in der Welt hinterlassen hat, was von ihr nach ihrem Tod bleibt.
In seelsorglichen Gesprächen wird oft Lebensbilanz gehalten, werden ungerecht empfundene Brüche im Leben, wie auch Schuld und Versagen gegenüber Mitmenschen und bei religiösen Menschen auch gegenüber Gott thematisiert. Belastend können hier sehr rigide Gottesbilder sein. So äußerte eine Frau große Angst vor dem Gericht Gottes, weil sie fürchtete, aufgrund eines Suizidversuches in diesem Gericht vor Gott nicht bestehen zu können.
In der seelsorglichen Begleitung begegnen mir immer wieder Menschen, die auch durch kirchliches Handeln verletzt oder gedemütigt worden sind: So z.B. ältere Menschen die in einer konfessionsverschiedenen Ehe leben, denen eine kirchliche Hochzeit verweigert oder nur unter schweren oft als Schikane erfahrenen Auflagen gestattet worden ist. Hier eröffnen sich für den kirchlichen Seelsorger Chancen, zur Versöhnung beizutragen und auch im Namen der Kirche um Vergebung zu bitten.
Die größte Herausforderung für Sterbende ist oft der Verlust der Selbstkontrolle, die Aufgabe sein Leben immer mehr aus der Hand geben zu müssen und immer stärker auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Viele sehen sich in ihrer eigenen Würde bedroht. Hier bedarf es sensibler Begleitung, die den Schwerkranken und Sterbenden nicht auf seine Krankheit und seine Einschränkungen reduziert, sondern ihm mit großem Respekt begegnet. Hier ist ein Wort von Cicely Saunders wegweisend: „Du zählst, weil du du bist. Und du wirst bis zum letzten Augenblick deines Lebens eine Bedeutung haben.“
Bedeutung der Angehörigenbegleitung
Ein wesentliches Augenmerk in der seelsorglichen Begleitung liegt auf den Angehörigen des Sterbenden. Angehörige sind Mitbetroffene - manchmal sind sie sogar stärker als der Sterbende selbst vom Prozess des Abschiednehmens betroffen. Sie wissen, was auf sie zukommt und meinen oft ihre Trauer und ihren Schmerz dem Kranken zuliebe verdrängen zu müssen. Sie investieren zum Teil viel in die Begleitung des Sterbenden, gehen an ihre physischen und psychischen Grenzen und manches Mal auch darüber hinaus. Dabei ist es für viele die erste Erfahrung mit Sterben und sie müssen mit der Fremdheit von Sprache, Aussehen und Gerüchen des Sterbenden fertig werden. Sie brauchen Hilfe den Sterbenden zu verstehen, Ermutigung sich eigene Bedürfnisse, Gefühle und das Recht zur Abgrenzung zuzugestehen. Deshalb ist Sterbebegleitung immer auch Angehörigenbegleitung. Gerade Rituale, wie die Feier der Sterbesakramente oder die Aussegnung des Verstorbenen, können auch für die Angehörigen einen großen Trost und eine Hilfe zur Bewältigung der schweren Situation darstellen. Oft entsteht gerade zu den Angehörigen im Hospiz ein intensiver seelsorglicher Kontakt, der über die Zeit des Versterbens des Hospizgastes hinausreicht, etwa durch die Gestaltung der Beerdigung und manches Mal auch in einer längeren Trauerbegleitung.
Spiritual Care - ein „Glücksfall“ für die kirchliche Seelsorge?
Auch wenn Spiritual Care nicht mit kirchlicher Seelsorge gleichzusetzen ist, so sieht Isidor Baumgartner in der Tatsache, dass die WHO Spirtual Care als selbstverständliche Dimension von Palliative Care betrachtet, einen „Glücksfall für die Seelsorge“. Denn hier bekommt „ die lange Tradition der Kirche im Umgang mit Kranken und Sterbenden besonderes Gewicht. Die Kirche steht hier nicht vor der Herausforderung, das christliche Menschenbild in der Begleitung Schwerstkranker einzufordern, vielmehr kommt die Möglichkeit zur Verwirklichung eines urjesuanischen Auftrags von außen auf sie zu. Unter pluralistischen Gesellschaftsbedingungen entsteht für die Kirche im Bereich der Palliativversorgung die Chance, Menschen in ihren Nöten, Ängsten und Hoffnungen nahe zu sein. Kirchliche Seelsorge kann Begleitung bieten, die nicht billig vertröstet und dennoch den Himmel offen hält“.
Herausforderungen für die Pastoral der Kirche
Spiritual Care wird aber meines Erachtens nur dann zu einem „Glücksfall“ für die Seelsorge, wenn die Kirche Sterbebegleitung durch genügend qualifizierte Seelsorger und Seelsorgerinnen als ihre ureigene Aufgabe auch wahrnimmt. In der Hospiz- und Palliativbewegung sieht die Kirche einen Verbündeten in ihrer ethischen Position zur aktiven Sterbehilfe und begrüßt sie als Beitrag zu einem menschenwürdigen Umgang mit Krankheit und Sterben. Daraus erwächst aber auch für die Kirche die Verpflichtung, sich in diesem Bereich seelsorglich zu engagieren, auch angesichts zurückgehender personeller und finanzieller Ressourcen. Zudem ist die Seelsorge in diesem Bereich meiner Erfahrung nach ein Ansatzpunkt diakonaler und missionarischer Pastoral, weil sie vielen gemeinde- und kirchenfernen Menschen begegnet, die von den pfarrlichen Strukturen der Seelsorge kaum erreicht werden. In dieser existentiellen Ausnahmesituation ist für viele Menschen die Frage nach Sinngebung und die Suche nach religiösem Halt von hoher Bedeutung.
Nicht nur angesichts des Mangels an hauptamtlichen Seelsorgern, sondern insbesondere aufgrund der Berufung durch Taufe und Firmung, sollte nach Wegen gesucht werden, verstärkt auch Ehrenamtliche in der seelsorglichen Begleitung Sterbender zu qualifizieren. Hier kann zurückgegriffen werden auf eine hohe Zahl von Ehrenamtlichen. Schätzungen gehen von bundesweit 80.000 Menschen aus, die sich oft auch aus einer dezidiert christlichen Motivation, so in der Hospizbewegung engagieren.
Letztlich hängt die Glaubwürdigkeit unseres Sprechens von Tod und Auferstehung als Zentrum der christlichen Botschaft davon ab, ob es geerdet ist durch eine seelsorgliche Präsenz der Kirche in der konkreten Begleitung Sterbender und ihrer Angehörigen.