Wiederaufbau des Tempels
Das nach dem Propheten Haggai benannte Buch gehört zu den kleinsten unter den Prophetenbüchern. Es besteht aus nur zwei Kapiteln. Wahrscheinlich trat der Prophet nur ein knappes halbes Jahr öffentlich auf: vom August bis zum Dezember des Jahres 520 v. Chr. Vier Prophetenworte sind von ihm überliefert. Sie kreisen um ein einziges Thema: den Wiederaufbau des Tempels.
Nach dem Ende des Exils und der Rückkehr eines Teils der nach Babylon verschleppten Judäer begann man im Jahre 520 v. Chr. in Jerusalem mit dem Wiederaufbau des gut sechzig Jahre zuvor, im Jahre 586 v. Chr., zerstörten Tempels. Die entscheidende Initiative dazu dürfte vom Propheten Haggai ausgegangen sein. Offensichtlich war es nicht leicht, die Bevölkerung für dieses Projekt zu motivieren. Diese hatte in dem durch Krieg arg mitgenommenen, wirtschaftlich daniederliegenden Land zunächst andere Sorgen. War es nicht wichtiger, zunächst die eigenen Häuser wieder aufzubauen? Haggai musste sich mit den Bedenkenträgern auseinandersetzen: »Dieses Volk sagt: Noch ist die Zeit nicht gekommen, das Haus des Herrn aufzubauen.« (Hag 1,2) Um die Bevölkerung vom Tempelbauprojekt zu überzeugen, stellt Haggai eine Verbindung her zwischen dem Bau des Tempels und dem (wirtschaftlichen) Wohlergehen des Landes. Er übermittelt ein Gotteswort, in dem Gott sagt: »Weil mein Haus in Trümmern liegt, während jeder von euch für sein eigenes Haus rennt, deshalb hält der Himmel euretwegen den Tau zurück und die Erde hält ihren Ertrag zurück.« (Hag 1,10)
Der Gedanke, der dieser Vorstellung zugrunde liegt, lautet: Von der Gottheit geht eine heilende Kraft aus, die sich auf die ganze Schöpfung auswirkt. Deshalb kommt es darauf an, dass eine Gemeinschaft der Gottheit auf Erden einen Raum bereitet, in dem sie in besonderer Weise gegenwärtig sein kann. Der Ort der Gegenwart Gottes auf Erden ist der Tempel. Neben der Tora, dem Gesetz, wurde der Tempel zu einer der tragenden Säulen des nachexilischen Judentums. Wenn wir diesen Gedanken in eine moderne Sprache übersetzen wollen, dann heißt das: Nur dort, wo Menschen der göttlichen Wirklichkeit einen Raum in ihrem Leben bereiten, kann die rettende und heilende Gegenwart Gottes zur Wirkung kommen. Mit dem Aufruf zum Bau des Heiligtums klingt ein Thema an, das uns auch aus dem Munde Jesu bekannt ist: »Suchet zuerst sein Reich und seine Gerechtigkeit, dann wird euch alles andere dazugegeben.« (Mt 6,33)
Die hohe Bedeutung des Tempels zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Repräsentanten der drei zentralen Institutionen des Gottesvolkes an seiner Wiedererrichtung beteiligt waren: König, Priester und Prophet. Der Bau des Heiligtums war im Alten Orient Aufgabe des Königs. Nun hatte das Gottesvolk nach dem Exil keinen irdischen König mehr. An dessen Stelle tritt im Namen der persischen Regierung der Statthalter Serubbabel. Er war ein Enkel des vorletzten davidischen Königs. Beteiligt war ferner der Hohepriester Jehoschua. Die Initiative dazu ging vom Propheten Haggai aus (Hag 1,12–15).
Am Ende der Buches leuchtet ein messianisches Licht auf. In dem letzten der vier dem Propheten zuteilgewordenen Worte bezeichnet Gott den aus königlichem Geschlecht stammenden Statthalter Serubbabel als »meinen Knecht« und »meinen Siegelring; denn ich habe dich erwählt« (Hag 2,23). Hag 2,7 spricht von den Schätzen der Völker, die in den neu errichteten Tempel strömen. Der Kirchenlehrer Hieronymus hat diesen Vers so übersetzt: et veniet desideratus cunctis gentibus – »und der von allen Völkern Ersehnte wird kommen.« Dieses messianische Wort klingt nach in dem bekannten Adventslied Martin Luthers: »Nun komm der Heiden Heiland«. das seinerseits auf den Hymnus des Kirchenlehrers Ambrosius zurückgeht: veni redemptor gentium. Die Gegenwart Gottes in seinem Heiligtum und die Herrschaft Gottes in dem von ihm Erwählten sind nicht voneinander zu trennen.