Jesaja 1–39 (Protojesaja)

Das Urteil zum Gesamtjesajabuch (1–66), es sei eine Bibliothek von prophetischen Texten aus sieben Jahrhunderten (8.–2. Jh. v. Chr.), gilt ebenso für seinen 1. Teil (1–39), »Protojesaja« genannt.

Nur die wenigsten Texte daraus lassen sich mit dem Propheten Jesaja aus dem 8. Jahrhundert v. Chr., dem Berater der judäischen Könige Ahas (734–728 v. Chr.) und Hiskija (728–699 v. Chr.), in Verbindung bringen. Die meisten Textfolgen richten sich allgemein an das Volk Israel/Juda, kritisieren und korrigieren seinen politischen und religiösen Kurs, fordern die Ausrichtung auf Gottes Gebot, die Tora, oder beleuchten schon die Zukunft des Gottesvolkes; sie steht in Spannung zwischen der Hoffnung auf eine Zeitenwende und der Ansage des Zeitenendes mit Anbruch der göttlichen Herrschaft.

So sind Texte prophetischer Gesellschaftskritik und prophetische Zukunftsansagen im heutigen Jesajabuch versammelt, mit dem prominenten Prophetennamen gekennzeichnet und zu einer losen, sekundär gewachsenen, aber inhaltsschweren Textsammlung gefügt.

Zur Forschungsgeschichte des Jesajabuches

Es gehört zu den bedeutendsten Errungenschaften der kritischen Exegese seit dem 18. Jahrhundert (J.G. Eichhorn), im Jesajabuch die literarische Großzäsur zwischen Jes 39 und Jes 40 erkannt und die beiden Buchteile unterschiedlichen Autoren zugeschrieben zu haben: 1–39 einem ersten Jesaja (»Protojesaja«) aus dem 8. Jahrhundert v. Chr., 40–66 einem zweiten Jesaja (»Deuterojesaja«) ausgangs des Babylonischen Exils (6. Jh.). Ende des 19. Jahrhunderts nahm man eine weitere Zäsur nach Jes 55 an und schrieb die Kapitelfolge 56–66 einem dritten Jesaja (»Tritojesaja«) zu (B. Duhm), eine Textsammlung aus dem 5.–2. Jahrhundert v. Chr.

Diese strikte literarische Dreiteilung hat sich in der neueren Jesaja-Forschung insofern relativiert, als man einem eigenständigen »Tritojesaja« eher skeptisch gegenübersteht und wegen der Heilstexte bereits in »Protojesaja« die vereinheitlichenden Verbindungslinien im Gesamtbuch stärker beachtet (U. Berges).

Das Zusammenwachsen der unterschiedlich alten und aus verschiedenen Händen stammenden Buchteile erklärte man sich entweder aus nachträglichen Redaktionsvorgängen; sie sind in den Brückentexten Jes 33–35 als Verbindungskapitel zu Jes 40–66 noch gut erkennbar. Oder man nimmt, wie heute vielfach, ein sogenanntes Fortschreibungsmodell an, das Jesaja I als Grundstock ansieht, der nach und nach von einer »Jesajaschule« ergänzt, aktualisiert und zum heutigen Umfang fortgeschrieben worden sei.

Die gegenwärtige Forschung betont mit diesem Modell wieder stärker die Einheit des Jesajabuches, das bereits in den Abschriften der beiden großen Jesaja-Rollen von Qumran (ca. 100– 50 v. Chr.) im heutigen Umfang vorlag.

Übersicht der Abschnitte und Themen in Jesaja I

Es lassen sich in Jes 1–39 etwa sechs Teile voneinander abgrenzen:

Jes 1–12: Das »Testament Jesajas« (E. Blum) mit der »Denkschrift « (6–8) im Zentrum.

Jes 13–23: Die »Fremdvölker-Orakel« mit der wiederkehrenden Überschrift – »Schuldenlast von NN«/«Ausspruch über NN«.

Jes 24–27: Die sog. »Jesaja-Apokalypse«.

Jes 28–32: Der sog. »Assur-Zyklus« mit der wiederkehrenden Überschrift »Wehe«.

Jes 33–35: Brückentexte zwischen »Proto«- und »Deuterojesaja « (40–55).

Jes 36–39: Prosaerzählungen über Hiskija und Jesaja: Das uneinnehmbare Jerusalem.

Der Beginn von »Deuterojesaja« in Jes 40 trägt zwar keine abgrenzende Überschrift, hebt sich aber als appellativer Redekontext deutlich von den Erzählungen Jes 36–39 ab und wendet sich an neue Adressaten. Insofern ist die Großzäsur nach Jes 39 auch formal gut abgesichert.

Aufbau und Inhalte der einzelnen Buchteile

Jes 1–12: Die Sammlung »Protojesaja« beginnt nach einer ersten Buchüberschrift (1,1) mit einer prophetischen Schelt- und Gerichtsrede gegen das Volk und gegen Jerusalem (1,2–17) und mit der Ankündigung und Durchführung eines göttlichen Gerichtsprozesses gegen Jerusalem (1,18–31), und zwar am Tag JHWHs, der verheerende Wirkungen hat (2,6–22). Die Anklagerede von 3,1–4,1 richtet sich gegen die besitzenden Klassen in Jerusalem, speziell gegen seine luxusverliebten Frauen.

Eine zweite Buchüberschrift (2,1) führt jüngere Heilstexte ein, die die Wallfahrt der Völker zum Torastudium auf dem heiligen Berg Zion ankündigen (2,2–5) bzw. die Rettung weniger aus dem Gottesgericht (4,2–6).

Mit dem »Weinberglied« (5,1–7) und den sechs Weherufen über bestimmte Volksgruppen (5,8–24) erfährt der Gerichtskontext »Protojesajas« seine Fortsetzung.

Das sog. »Kehrversgedicht« von 5,25–30 und 9,7–20 – gekennzeichnet durch das wiederkehrende »doch bei all dem lässt sein Zorn nicht nach, seine Hand bleibt ausgestreckt« (5,25; 9,11.16) – rahmt die sog. »Denkschrift« (6,1–8,23), von K. Budde benannt nach der Andeutung einer schriftlichen Fixierung der prophetischen Botschaft für Jesajas »Jünger« in 8,16. Die »Denkschrift« bezieht sich in 7,1–8,23 auf die machtpolitischen Konstellationen des »syrisch-ephraimitischen Krieges« der Jahre 734–732, einer Auseinandersetzung um eine Koalition gegen die Westexpansion der Neuassyrer, denen 722 das Nordreich Israel zum Opfer fiel. Weil Jesaja in den Koalitionsfragen als religionspolitischer Berater des Königs in Jerusalem fungiert (7,1–17), rechnet man diese Teile der »Denkschrift« zu den ältesten Texten in »Protojesaja«. Ihr ist die Berufungserzählung Jesajas (6,1–13) vorangestellt, die im »Verstockungsbefehl« (6,9–11) bereits das Scheitern der politischen Verkündigung Jesajas reflektiert.

Während Jes 10,5–34 ebenfalls den Assyrersturm des 8. Jahrhunderts sowie das Gericht über Assur im Blick hat, erwarten die Heilsweissagungen von Jes 9,1–6 und Jes 11,1–16 einen neuen Herrscher aus der untergegangenen Daviddynastie und gehören wohl erst der eschatologischen Prophetie der Nachexilszeit an. Ein Dank- und Preislied auf Israels Gott (12,1–6) schließt die 1. Teilsammlung »Protojesajas« ab.

Jes 13–23: Wie in den anderen großen Prophetenbüchern (Jer, Ez) folgt auf die Gerichtstexte gegen Israel eine Sammlung von Gottesbescheiden gegen die Völker, die bisher Israel unterdrückt und bekämpft haben. Auf sie geht jetzt das Gottesgericht über. In der Regel sind diese Orakel gegen die Fremdvölker im Umkreis Israels wohl erst nach dem Untergang Israels (722) und Judas (586) entstanden. In der 2. Teilsammlung »Protojesajas« sind sie gerichtet gegen Babel (13,1–14,23;21,1–10), Assur (14,24–27), Moab (15,1–16,14), Damaskus (17,1–11), Kusch (18,1–7), Ägypten (19,1–20,6), Edom (21,11f), Arabien (21,13–17), Tyrus und Sidon (23,1–18). Aber auch über Jerusalem ergehen in diesem Zusammenhang noch einmal Gerichtsworte (22,1–25).

Texte, die sich auf die politischen Verhältnisse der Assyrerzeit des 8. Jahrhunderts beziehen, liegen allenfalls in 14,24–27 und 17,12–14 vor. Die jüngsten Textabschnitte finden sich in den universellen Heilsprophetien, die sogar Ägypten (19,18–23) und Assur (19,24f) unter die Verehrer des Gottes Israels rechnen.

Jes 24–27: Die schwierigen Texte der sogenannten »Jesaja-Apokalypse « beziehen sich auf ein die ganze Welt umfassendes Gottesgericht. Sie werden am besten verständlich als Reaktion auf den Zusammenbruch des persischen Weltreichs durch den Siegeszug Alexanders des Großen (332 v. Chr.). So erklärt sich auch die Gegenüberstellung einer zerstörten Stadt und einer wohlbefestigten Stadt in den »Stadtliedern« von 25,1–5 und 26,1– 6. Die Stadt auf dem Berg Zion wird in dieser endzeitlichen Vision zum Schauplatz des Festmahls der Völker, das JHWH Zebaot selbst für sie ausrichtet (25,6–8).

Jes 28–32: Dagegen spiegelt der sogenannte »Assurzyklus« eher die politischen Verhältnisse und Bedrängnisse des Assyrersturms am Ausgang des 8. Jahrhunderts wieder. Daher werden manche Abschnitte von Jes 28–32 zeitlich der »Denkschrift« (6–8) angenähert. Dafür sprechen: Die Warnung vor falscher Koalitionspolitik (30,1–7) und dem einseitigen Vertrauen auf militärische Rüstung (30,16; 31,1), stattdessen die Annahme der Alternative eines gläubigen Vertrauens auf den Gott Jerusalems (28,16; 30,15); auch der Auftrag zur schriftlichen Fixierung der prophetischen Worte gegen das »trotzige Volk« in 30,8f entspricht der möglichen schriftlichen Versiegelung der »Denkschrift« in den Jüngern nach 8,16.

Auch in diesem Teil werden die harten Gerichtsworte über Juda und Jerusalem von Ankündigungen einer gewendeten Heilszeit unterbrochen (28,5f; 29,17–24; 30,18–26; 32,1–8.15–20).

Jes 33–35: Von den letzten poetischen Redetexten vor den Prosaerzählungen 36–39 blicken die Verheißungsbilder von Jes 35 am deutlichsten auf die in Jes 40 beginnende Heilsprophetie »Deuterojesajas « voraus. Jes 34 mit den Gerichtsworten über den Erbfeind Edom fungiert als negatives Gegenstück dazu. Jes 33 greift einerseits manches aus der Gerichtsbotschaft »Protojesajas« auf (33,1–16), blickt andrerseits schon auf das gewendete Geschick Zions (33,17–24).

Jes 36–39: Auch die Erzählungen von der wunderbaren Bewahrung Jerusalems in der Belagerung des assyrischen Großkönigs Sanherib im Jahr 701 v. Chr. (Parallelerzählungen zu 2 Kön 18–20) haben im Buchganzen Brückenfunktion zu Deuterojesaja. Sie demonstrieren den unbedingten Heilswillen JHWHs für Jerusalem und bilden so die inhaltliche Grundlage für die ab Jes 40 einhellige und ungebrochene Heilsverkündigung im Jesaja-Buch. Die Erzählungen unterstreichen die klassischen Funktionen eines altorientalischen Berufspropheten: politische und religiöse Beratung des Königs (37,1–7;38,1), Vermittlung von Orakeln an den König (37,21–35;38,5–8) samt Fürbitte und Heilung (38,21).

Das Danklied Hiskijas (38,9–20) ist Eigengut der Jesaja-Fassung gegenüber 2 Kön 18–20.

Inhaltliche Schwerpunkte »Protojesajas«

Entsprechend der komplexen literarischen Gestalt »Protojesajas « ergibt sich eine Vielfalt von thematischen Schwerpunkten. Die wichtigsten seien aufgeführt:

  • Die Rolle des Propheten besteht nach dem Berufungsbericht (6,1–8) in der Heiligung seines sündhaften Volkes; dafür wird er, der sich selbst als sündiges Glied dieses Volkes fühlt, durch Reinigung und Entsündigung befähigt.
  • Denkschrift (6–8) und Assurzyklus (28–32) machen die politische Dimension des biblischen Propheten deutlich. Jesaja wirbt in dieser Funktion für den Glauben an JHWH (7,9;28,16) als wichtigsten stabilisierenden Faktor für das Staatsganze.
  • Das Eröffnungskapitel reiht Jesaja in die sozialkritischen Stimmen der Prophetie ein: Die Sorge für die untersten Gesellschaftsschichten hat Vorrang vor einer überbordenden Opferpraxis (1,10–17).
  • Bei aller Kritik an den Missständen in Königtum und Gesellschaft bezieht Jesaja sein Hoffnungspotenzial aus dem Vertrauen auf den Berg Zion; er ist sowohl Thronsitz des Königgottes JHWH (6,1–3) als auch uneinnehmbarer Weltenberg, der Himmel und Erde verbindet (31,4f.9).
  • Der Zion ist auch der Schauplatz der eschatologischen Visionen als der Ort des universellen Torastudiums der Völker (2,1–5) und ihres endzeitlichen Festmahles (25,6–9).
  • In der »Jesaja-Apokalypse« (24–27) wird aus dem Propheten des 8. Jahrhunderts der »große Visionär der Weltgeschichte, der über die eigene Gerichtszeit bis weit zur Neuschöpfung von Himmel und Erde blickt« (J.C. Gertz).

»Protojesaja«-Texte und ihre Wirkungsgeschichte

Sowohl im Neuen Testament als auch in der Schriftauslegung der Kirchenväter kommt bestimmten Texten aus Jes 1–39 besondere Bedeutung für die Christologie zu. Sie seien im Folgenden aufgeführt zusammen mit »Protojesaja«-Texten, die in Liturgie und Kirchenmusik Verwendung und Ausdeutung erlangten.

Seit Origenes werden die erkennenden Tiere Ochs und Esel im Scheltwort von 1,3 auf das Geschehen der Geburt Christi (Lk 2,7) und die Heidenmission bezogen.

Der dreimalige Heiligruf der Seraphim in 6,3 ist als Bindeglied himmlischer und irdischer Liturgie in die östlichen und westlichen Eucharistie-Agenden eingegangen und entsprechend oft auch mehrstimmig vertont worden. Martin Luther hat die Himmelsschau Jesajas kongenial in einem Kirchenliedtext nachempfunden: »Jesaja, dem Propheten das geschah …« (EKG 135).

Die Geburtsankündigung des »Immanu-El« aus der »alma« (»junge Frau«) in 7,14 wird in der Übersetzung der Septuaginta als parthenos (»Jungfrau«) bei der Geburtsankündigung Jesu in Mt 1,23 zitiert.

Auch die Ankündigung einer königlichen Geburt in 9,5 (»denn, es ist uns ein Kind geboren«) erscheint zusammen mit der Verheißung unerwarteten neuen Lebens aus der ausgestorbenen Daviddynastie, der »Wurzel Jesse« (11,1), im Lied und Brauchtum christlicher Advents- und Weihnachtsfrömmigkeit in vielfachen Varianten.

Das geheimnisvolle und schwer zu deutende »Wächterlied« in 21,11.12 hat F. Mendelssohn-Bartholdy als vokalen Höhepunkt des 4. Satzes (6. Teil) seiner 2. Symphonie (»Lobgesang«) eindrucksvoll gestaltet.

Schließlich sind einzelne Jesaja-Worte als tröstende und mahnende Verkündigungselemente in die großen Trauermusiken eingegangen: 1,18 in die »Musikalischen Exequien« von H. Schütz (2. Teil), 35,10 in das »Deutsche Requiem« von J. Brahms (2. Satz) und 38,1 in den »Actus Tragicus« von J.S. Bach (2. Teil: Bass- Arie).