Eigenart des Buches
Ähnlich wie das Buch Ijob gehört auch das Buch Kohelet zur Auseinandersetzungsliteratur. Es vermittelt nicht die Grundlagen der Erziehung, wie etwa das Buch der Sprichwörter, sondern macht das erlernte Wissen zum Gegenstand einer kritischen Überprüfung. Angesprochen ist im Hauptteil des Buches nicht mehr der »Sohn«, wie im Buch der Sprichwörter (vgl. Spr 1,8.10.15; 2,1; 3,1 u. ö.), sondern der »junge Mann« (Koh 11,9). Kohelet berichtet von seinen früheren Erfahrungen und zieht Schlussfolgerungen daraus. Er zitiert traditionelle Sprichwörter, die er im Rückgriff auf eigene Beobachtungen kritisch kommentiert. Regelmäßig begegnen Wendungen wie: »ich überlegte mir«, »ich dachte mir«, »ich habe erkannt«, »ich habe beobachtet«. Kohelet kommt uns als eine Gestalt entgegen, die aus der Tradition heraustritt und ihr gegenüber einen reflektierend-kritischen Standpunkt einnimmt. Wissenssoziologisch gesehen nimmt er die Rolle eines Intellektuellen ein.
Gattung des Buches
Man kann das Buch als eine Erzählung verstehen. Die erzählerischen Elemente beschränken sich allerdings auf drei »Redeeinleitungen « (1,2;7,26;12,8) und zwei »Nachworte« (12,9–11; 12,12–14). Vom Inhalt her gesehen ist das Buch eher als eine philosophische Abhandlung zu verstehen. Die Reflexionen sind an die Lebensgeschichte Kohelets rückgebunden. So kann man die Gattung als eine in eine Erzählung gekleidete philosophische Abhandlung mit einer partiell autobiographischen Stilisierung kennzeichnen.
Gliederung
Lange Zeit tendierte die Forschung zu der Annahme, das Buch stelle lediglich eine mehr oder weniger lockere Sammlung von Sprichwörtern dar. Neuerdings mehren sich die Stimmen, die mit einem planvollen Aufbau rechnen. Wie dieser allerdings zu bestimmen sei, ist in der Forschung nach wie vor umstritten. Hier wird mit einem vierteiligen Aufbau mit doppeltem Rahmen gerechnet. Die vier Teile kreisen um das Thema Glück:
1,1: Überschrift
1,2: Rahmen- und Mottovers (»Windhauch«)
(I) 1,3–3,22: Inhalt und Bedingung der Möglichkeit menschlichen Glücks
(II) 4,1–6,9: Auseinandersetzung mit einem vorphilosophischen Glücksverständnis
(III) 6,10–8,17: Auseinandersetzung mit alternativen Glücksbestimmungen
(IV) 9,1–12,7: Aufruf zur Freude und zu tatkräftigem Handeln 12,8: Rahmen- und Mottovers (»Windhauch«)
12,9–14: Zwei Nachworte
Der vierteilige Aufbau ergibt für das Buch folgende Leseanleitung: Im 1. Teil (1,3–3,22) legt Kohelet seine Philosophie des Glücks in Grundzügen dar. Hier hebt sich noch einmal in 1,12–2,26 die sogenannte Königstravestie heraus. Kohelet schlüpft in die Rolle eines Königs, um einen spezifischen Lebensentwurf durchzuspielen. Er versucht, sich durch großartige Werke, durch Anhäufung von Wissen und durch direkt angezielte Lustmaximierung Glück zu verschaffen, doch er muss erkennen, dass damit nicht jenes Glück erreicht wird, auf das er als Mensch zutiefst angelegt ist. So endet das »Königsexperiment « in 2,11.17.23 in Verdruss und Verzweiflung. In 2,24–26 bricht Kohelet zu einer neuen Erkenntnis durch: Das von ihm gesuchte Glück findet sich erst dort, wo auch von Gott die Rede ist. Dieses neue Wissen bestimmt den weiteren Gang der Erörterung. Von dieser Einsicht ausgehend werden die großen Themen der biblischen Tradition neu angegangen: Zeit (3,1–9), Gott und Ewigkeit (3,10–15), Leben vor und nach dem Tod (3,16–22). Der 2. Teil (4,1–6,9) widmet sich der Konkretisierung jener im 1. Teil grundgelegten Lehre vom guten und gelingenden Leben. Probleme und Themen der damaligen Lebenswelt werden im Horizont seiner Lehre vom wahren Glück entfaltet. Unterdrückung (4,1–3), Arbeit (4,4–12), sozialer Auf- und Abstieg (4,13–16), Religion (4,17–5,6), Königtum (5,7f), Armut und Reichtum (5,9–6,9) kommen zur Sprache. Im 3. Teil (6,10–8,17) wird vor allem das normative Wissen der Zeit einer kritischen Überprüfung unterzogen (6,10–8,17). Im 4. Teil (9,1–12,7) entwickelt Kohelet im Gespräch mit traditioneller Spruchweisheit seine Weisungen zum tatkräftigen Handeln, die im Aufruf zur Freude ihr Ziel und ihren Abschluss finden (9,1–12,8).
Entstehung
Das Koheletbuch gehört zu den späten Schriften des Alten Testaments. Sicherlich stammt es aus der Zeit nach dem Exil, am ehesten kommt das 3. Jahrhundert v. Chr. als Entstehungszeit in Frage. Es gibt keine Anzeichen, die darauf hindeuten, dass sich seine Entstehung über einen längeren Zeitraum hingezogen hat. Zwar gab und gibt es vereinzelt Versuche, mit Hilfe der Literarkritik verschiedene literarische Schichten zu rekonstruieren, aus denen sich das Werk zusammensetzen soll, doch bleiben derartige Thesen eher die Ausnahme. Spannungen und Widersprüche lassen sich dadurch erklären, dass Kohelet zum einen von unterschiedlichen Etappen auf seinem Weg zur Erkenntnis berichtet, und zum anderen dadurch, dass er gegnerische Meinungen in Form von Zitaten zu Wort kommen lässt, um sie in der Regel anschließend zu widerlegen. Nicht alles, was in diesem Buch steht, gibt also die Meinung Kohelets wieder. In Spannung zu seinem Aufruf, das Leben mit der geliebten Frau zu genießen (9,9), steht die frauenfeindliche Aussage: »Bitterer als der Tod ist die Frau.« (7,26) Die Spannung dürfte so aufzulösen sein, dass die misogyne Ansicht als eine zitierte Ansicht zu verstehen ist, die Kohelet im anschließenden Kommentar im Rekurs auf die Schöpfungserzählung als falsch zurückweist: »Siehe, was ich gefunden habe: Gott hat die Menschen recht gemacht.« (7,29)
Es ist möglich, dass es sich bei Kohelet um eine Person handelt, die tatsächlich gelebt hat. Es ist aber auch möglich, dass es sich um eine rein literarische Figur handelt, die von einem Autor, den wir nicht kennen, erfunden wurde. Der Form nach ist das Wort qohälät ein Partizip Femininum Qal von qhl, das im Kausativstamm »versammeln, einberufen« bedeutet. Als Personenname ist das Wort an anderen Stellen des Alten Testaments nicht überliefert. War Kohelet eine reale Person, dann handelt es sich beim Wort »Kohelet« wahrscheinlich um einen Spitznamen, den man ihr gegeben hatte, weil sie einen Kreis von Hörern um sich versammelte, vergleichbar den griechischen Wanderphilosophen. Handelt es sich um eine fiktive Person, dann ist das Wort ein Kunstname, den der Autor seinem Protagonisten gegeben hat.
Theologie
Theologisch hat es das Buch nicht immer leicht gehabt. Verbreitete Vorwürfe lauten: Das Buch vertrete einen platten Hedonismus (»iss freudig dein Brot und trink vergnügt deinen Wein«; 9,7), einen in die Verzweiflung führenden Nihilismus (»alles ist absurd«; 1,2), es leugne das Handeln Gottes in der Geschichte (»es gibt nichts Neues unter der Sonne«; 1,9) und ein Fortleben des Menschen nach dem Tod (»einen Vorteil des Menschen gegenüber dem Tier gibt es nicht«; 3,19). Entsprechend lassen sich in der Forschung zwei widerstreitende Richtungen der Auslegung feststellen.
Eine Richtung hebt den pessimistischen Zug des Buches hervor, versteht den Motto- und Rahmenvers 1,2 und 12,8 im Sinne von »alles ist absurd« und rückt das Buch in die Nähe einer Philosophie des Absurden. Eine andere Richtung sieht im Aufruf zur Freude (5,17–19; 9,7–10; 11,9) den Schlüssel zu seinem Gesamtverständnis, einer Freude, die als Gabe (3,13) und nach 5,19 möglicherweise sogar als »Antwort Gottes« den Vergänglichkeits- und Nichtigkeitscharakter des Lebens durchbricht. Diesem zuletzt genannten Verständnis nach gehört das Buch in jene altorientalische und antike Tradition, welche die Frage nach dem Inhalt und der Bedingung der Möglichkeit menschlichen Glücks in das Zentrum ihrer Reflexionen stellt. Die pessimistischen Aussagen des Buches hätten in diesem Diskurs die Funktion, falsche, aber verbreitete Glücksvorstellungen zu dekonstruieren. Sie heben den verborgenen Nihilismus einer (oberflächlich-)optimistischen Lebenskonzeption ans Licht, um den Weg frei zu machen, der zum »wahren Glück« führt. Vor allem jener Teil des Buches, in dem Kohelet als König in Erscheinung tritt (»Königstravestie« 1,12–2,26), zeigt, dass ein äußerlich glanzvolles Leben, dem es an Freude und Lust nicht mangelt (2,16), angesichts der Erfahrung des Todes (2,16) in die Verzweiflung führt (2,17.22f). Überwunden wird ein derartiger Lebensentwurf in der Erfahrung jener Freude, die »aus der Hand Gottes stammt« (2,24; vgl. 3,13). Anthropologisch wird diese Art der Freude als ein spezifischer Modus der Erfahrung (»essen, trinken, lieben«; 5,17–19; 9,7–10) näher bestimmt (»carpe diem«) – in Absetzung von einer Haltung des Habens, die sich darin erschöpft, die Gaben des Lebens zu horten, die aber nicht mehr in der Lage ist, dieselben auch zu genießen (2,26; 5,12–16; 6,1–6).
Die Frage nach dem Glück des Menschen greift ein Grundmotiv alttestamentlicher Weisheit auf. In polemisch-provokativer Zuspitzung weist Kohelet darauf hin, dass die von der traditionellen Weisheit vertretene Lehre vom Tun-Ergehen-Zusammenhang oft mit der Erfahrung nicht übereinstimmt (7,15f; 8,12–14). Ferner kritisiert er den Anspruch der Weisheit, den Menschen vor jeder Gefahr bewahren zu können (8,5 Zitat; 8,6–8 kritischer Kommentar Kohelets). Die Frage nach Inhalt und Bedingung der Möglichkeit menschlichen Glücks war aber auch Dreh- und Angelpunkt der hellenistischen Philosophien. Hier wurde die Ansicht vertreten, dass der Mensch allein durch eigene Anstrengung, und zwar durch die Entwertung alles Unverfügbaren, glücklich werden kann. Die hellenistischen Philosophien verstanden sich als Einübung in ein glückliches Leben. Wenn Kohelet am Ende der Königstravestie in 2,24 zu der Einsicht gelangt, dass die Erfahrung von Glück letztlich nicht im Menschen, sondern in Gott gründet, scheint er sich aus der Tradition alttestamentlicher Schöpfungstheologie heraus mit der hellenistischen Lehre vom Glück konstruktiv-kritisch auseinanderzusetzen.