»Summa, willst du die heilige christliche Kirche gemalet sehen mit lebendiger Farbe und Gestalt, in einem kleinen Bilde gefasset, so nimm den Psalter vor dich, so hast du einen feinen, hellen, reinen Spiegel, der dir zeigen wird, was die Christenheit sei. Ja, du wirst auch dich selbst drinnen und das rechte Gnothi seauton finden, dazu Gott selbst und alle Kreaturen« (M. Luther, Vorrede auf den Psalter, 1528).
Einleitung
Seit ihrer Entstehung werden die Psalmen als lebendiges Gebet im Tempel, in der Synagoge und in der Kirche verwendet.
Jede Zeit suchte ihren eigenen Zugang zu ihnen; auch im alten Israel gehören sie nicht an einen einzigen geschichtlichen Ort. Vielmehr spiegeln sich in ihnen Erfahrungen vieler Beterinnen und Beter. Und gerade deshalb können sich auch heute viele Menschen in den Psalmen wiederfinden, trotz allem, was uns darin fremd erscheint.
Das Psalmbuch
Das Buch der Psalmen ist eine Zusammenstellung von 150 poetischen Texten, die in der hebräischen Bibel und der griechischen / lateinischen Übersetzung jeweils unterschiedlich gezählt werden.
Der Name »Psalmen« kommt von griech. psalmos = Sprechgesang zum Saitenspiel. Das hierfür benutzte Instrument, die Standleier, heißt griech. psaltērion, von daher erklärt sich der Name »Psalter«.
Das Judentum dagegen nennt die Psalmen Buch der Tehillim (Preisungen, abgeleitet vom Verb hll »rühmen, preisen«, das auch dem Aufruf »Halleluja« zugrundeliegt). In dieser Bezeichnung zeigt sich, dass die Psalterredaktoren das Lob für das eigentliche Gebet hielten, obwohl die Mehrzahl der Psalmen Klagegebete sind. Die Klagelieder geben ihnen recht. Denn auch sie werden letztlich um des Gotteslobes willen gebetet. Zudem spiegelt sich in dieser Bezeichnung die Beobachtung, dass das Psalmbuch zwar mit Klageliedern beginnt, aber gegen Ende, vor allem in den Psalmen 146–150, in das allumfassende Gotteslob einmündet.
Die Komposition des Psalters
Man hat den Psalter oft mit einem Haus verglichen, das einen Eingang und einen Ausgang sowie unterschiedliche Räume hat.
Insgesamt besteht er aus 5 Büchern und einer Rahmung, was in der rabbinischen Tradition so erklärt wird: »Mose gab den Israeliten die fünf Bücher der Tora und David gab den Israeliten die fünf Bücher der Psalmen.« Diese Einteilung wird nicht durch Überschriften kenntlich gemacht, sondern durch Lobpreisungen am Ende eines jeden Buches (in Ps 41,14; 72,18f; 89,53; 106,48; [145,21]). In dieser Aufteilung spiegelt sich zugleich ein Stück weit die Entstehung des Gesamtpsalters, dem ursprünglich selbständige Teilsammlungen zugrunde liegen, die nach und nach kunstvoll miteinander verbunden wurden, bis um etwa 150 v. Chr. das Psalmenbuch in seiner heutigen Endgestalt vorlag.
Das 1. Buch (Ps 3–41) enthält Davidpsalmen, die z.T. nachträglich mit bestimmten Situationen in seinem Leben in Verbindung gebracht wurden.
Das 2. Buch (Ps 42–72) und das 3. Buch (Ps 73–89) bilden von den Psalmenüberschriften her eine Einheit: Die Asaf- und Korach- Psalmen stehen außen und rahmen die Davidpsalmen.
Das 4. Buch (Ps 90–106) enthält eine geschlossene Gruppe von Psalmen, die das Königtum JHWHs preisen. Um sie herum sind Mose- und Davidpsalmen gruppiert.
Das 5. Buch (Ps 107–145) besteht aus Hallel- und Wallfahrtspsalmen, die den großen Tora-Psalm 119 (ein Alphabetlied) umgeben, als äußerer Rahmen fungieren zwei Psalmen, die das Königtum JHWHs preisen.
Den Abschluss des Psalters bilden die Psalmen 146–150. Ihre Themen sind der ideale König David, die Davids- und Tempelstadt Jerusalem sowie die Schöpfung, die in das Lob JHWHs einstimmt.
Eingangs- und Ausgangs»tor« des Psalters sind die Psalmen 1 und 2 bzw. 149 und 150. Sie bilden jeweils einen Lesehorizont für den Gesamtpsalter: Ps 1 ist ein Tora-Psalm, der die Beter vor die Entscheidung zweier Wege stellt: den Weg der Gottesfürchtigen und den der Frevler. Ps 2 gibt der Messiashoffnung Ausdruck und stellt die gerechte, gottgefällige Herrschaft vor Augen, die dazu ermächtigt und befähigt, die feindlichen Mächte des Todes zu besiegen und Leben zu ermöglichen.
Ps 149 enthält eine Aufforderung an das Gottesvolk, Psalmen zu singen und so die Feindmächte gewissermaßen in Ketten zu legen. Und in Ps 150 klingt der Psalter aus im Gesang des zur Ehre Gottes atmenden Kosmos. Was mit den Themen Tora und Messias beginnt, endet im Lob des Königsgottes. Dadurch wird ein doppelter Weg beschritten: der Weg von der Klage zum Lob und zugleich der Weg durch die Geschichte Israels. In der Septuaginta und in Qumran gibt es noch einen 151. Psalm, gleichsam eine Art »Nachwort«, das in die kanonisierte Version des Psalters nicht aufgenommen wurde.
Die Psalmen sind in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen entstanden. Die Stelle, an der sie heute stehen, ist dennoch nicht zufällig oder willkürlich. Vielmehr wird ihre Anordnung durch gemeinsame Leitworte und Motive bewusst gesteuert: So sind z. B. die Psalmen 3–14 eine Einheit von Klage- und Bittgebeten, die um den Schöpferhymnus Ps 8 als Mitte angeordnet sind, in dem es u. a. um die Menschenwürde der in Ps 3–7 und 9–14 klagenden Beter geht. Manchmal interpretieren sich zwei Psalmen gegenseitig, so z. B. Ps 111 und 112 (zwei Alphabetlieder): 111 preist den gerechten und barmherzigen Gott, 112 den gerechten und barmherzigen Menschen. Beide Texte sind durch den nichtausgesprochenen Gedanken der Gottebenbildlichkeit verbunden. Den Psalmen 20 und 21 ist das Thema Königtum gemeinsam, einmal in Form der Bitte, einmal in Form des Dankes. Nur zusammen entwerfen sie ein richtiges Bild vom König.
Die Psalmenüberschriften
sind ein Hinweis für die Art des liturgischen Gebrauchs der Psalmen, z. B. der häufige Hinweis »Für den Chormeister« oder die Bestimmung »Lied zum Dankopfer« (Ps 100,1). Der genaue Ablauf des Tempelgottesdienstes ist kaum bekannt, so dass die Funktionen vieler Überschriften unklar bleiben. Urbild der Psalmdichter ist David: Allein 73 Überschriften nennen seinen Namen. Man dichtete Psalmen »nach der Weise Davids / im Hinblick auf David bzw. auf einen Davididen«. Denn David lebte in der Erinnerung der Menschen als königlicher Sänger und Harfenspieler und Stifter des Gottesdienstes in Jerusalem. Durch die Überschrift wurde eine Verbindung der Beter mit dem verfolgten und geretteten David hergestellt, in späterer Zeit mit dem David der kommenden Heilszeit. Auch da, wo die Psalmenüberschriften auf konkrete Lebenssituationen Davids Bezug nehmen, wird dieser zum idealen Beter und so zum Gebetsvorbild Israels stilisiert. Musikalische Anweisungen in den Überschriften zeigen uns, dass wir nur die Hälfte der Psalmenkunst kennen, die Texte nämlich. Melodie und Instrumentenbegleitung sind verloren.
Andere Überschriften deuten an, wie die Psalmen verwendet wurden, nämlich als Gebetsformulare. So lautet die Überschrift von Ps 102: »Gebet eines Unglücklichen, wenn er in Verzweiflung ist und vor dem Herrn seine Sorge ausschüttet«. Man verwendete Formen, Worte und Inhalte, die traditionell vorgegeben waren, so dass andere das Lied nachsingen und -beten konnten. Fragen nach dem genauen Entstehungszeitpunkt eines Psalms helfen daher oft wenig weiter.
Die Psalmensprache
Eine Grundform der Psalmensprache ist der sog. parallelismus membrorum (= die parallele Anordnung der Versglieder). Wer dichtet, sagt zwei- oder auch mehrmals mit anderen Worten das gleiche. Das sind nun nicht einfach mechanische Wiederholungen. Vielmehr beleuchtet man so einen Sachverhalt von verschiedenen Seiten, um eine Ganzheit auszudrücken. Beim synonymen parallelismus membrorum ergänzen sich die beiden Verszeilen jeweils, beim antithetischen stehen sie zueinander in Gegensatz und beim synthetischen Parallelismus wird der erste Gedanke durch den zweiten fortgeführt.
Themen und Gattungen der Psalmen
Die Psalmen enthalten sehr unterschiedliche Gattungen von Gebeten. Dazu gehören u. a.:
1. Klagepsalmen
Die meisten Psalmen sind Klagepsalmen. Die Klage des einzelnen besteht aus den Elementen Ichklage, Feindklage, Gottklage, ferner aus Bitten, dem Bekenntnis der Zuversicht und einem Lobgelübde.
Die Ursachen der Klage können vielfältig sein: Krankheit (Ps 38), falsche Anklage (Ps 35) oder Bedrängnis durch Feinde (Ps 3). Häufig ist es geradezu ein Ursachengeflecht, das den Beter zur Klage treibt, weil er keine Rettungsmöglichkeit sieht. Das Leid wird als Abwendung Gottes erlebt (Ps 13; 22). Ziel der Klage ist die gnädige Zuwendung Gottes und die Rettung aus der Not (Ps 22).
Neben den Klagen des einzelnen gibt es auch Klagen des Volkes (z. B. Ps 60;79;80;85): Sie haben als Hintergrund eine geschichtliche Notsituation. In diesen Psalmen finden sich daher die Elemente Notklage, Feindklage und Gottklage. Diesen Elementen wird als Kontrastmotiv das heilvolle Handeln Gottes in der Vergangenheit gegenübergestellt.
2. Lobpsalme
Der lobende Mensch wendet sich an Gott in
– Dankliedern (berichtende Lobpsalmen)
Der Beter berichtet von der Rettung aus einer Notsituation durch Gott (Ps 30;40 u. a.), und dieser Bericht ist verbunden mit Opferdarbringungen (Ps 66). Entscheidend für die Danklieder ist das öffentliche Preisen der Zuwendung und Hilfe Gottes (z. B. Ps 18;116)
– in Hymnen (beschreibende Lobpsalmen)
Diese Psalmen preisen die Majestät Gottes, die sich in seiner ewigen Herrschaft, seinem Richteramt, seinem Kampf mit den Mächten des Todes, der Überlegenheit über andere Götter und seiner Königsherrschaft offenbart (Ps 113;117;96–99 u. a.). Das Lob des Schöpfers findet einen eigenen Ausdruck in den Schöpfungspsalmen (Ps 8; 19; 104), das Lob des Herrn der Geschichte in den Geschichtspsalmen (Ps 105).
3. Zionspsalmen
Die Zionspalmen preisen den von Gott erwählten Wohnsitz, den Gottesberg Zion (Ps 48). Gottes Gegenwart auf dem Zion verbürgt Sicherheit und Schutz angesichts zerstörerischer Natur- und Geschichtsmächte (Ps 46), dort zerbricht er die Waffen der Feinde (Ps 46;76). Es ist der Wunsch des Beters, zum Zion zu ziehen und dort beständig bleiben zu können (Ps 84).
4. Königspsalmen
Der König galt im Alten Orient als Repräsentant und Sachwalter Gottes auf Erden. Diese Funktion des Königs wird in den Königspsalmen aufgenommen, die sich ursprünglich auf die Feier des Königtums in Jerusalem bezogen haben. Wie der Großfürst von einem Vasall als Vater respektiert und angesprochen wurde, so galt auch der irdische König als Sohn Gottes, nicht im Sinne einer Zeugung, sondern im Sinne einer Annahme an Sohnes Statt (vgl. Ps 2,6f). Hauptaufgabe des Königs ist die Vernichtung der Chaosmächte, also die Kriegsführung gegen feindliche Völker (Ps 110). Der Besiegung der Feinde folgte die Regentschaft des Königs als Friedensfürst im eigenen Reich. Nur dem loyalen König, der gemäß dem Willen Gottes sein Amt führte, traute man den Sieg über die Feinde zu. Gerechte, legitime Herrschaft und erfolgreiche Sicherung des Reiches (Friedens- und Kriegsseite) sind die beiden Seiten der Königsherrschaft. Der König garantiert zudem Recht und Gerechtigkeit im Land und ist Segensmittler (Ps 72).
Die vielfältigen thematischen Aspekte, die im Psalter angesprochen werden, zeigen eindrücklich, dass die Psalmen einen Spiegel der ganzen menschlichen Existenz darstellen. Angesichts der Herausforderungen des Lebens wollen sie als Sprachschule des Glaubens Beter und Beterinnen immer neu den Weg mit und zu Gott eröffnen – klagend, bittend, lobend.