Die drei Briefe, die im Neuen Testament unter dem Namen des Johannes als Teil der Katholischen Briefe überliefert sind, geben nach wie vor Rätsel auf. Sie stammen vermutlich alle vom selben Autor, der aber nicht mit dem Apostel Johannes aus dem Zwölferkreis identisch ist, obwohl sie diesem in der Alten Kirche nach einer längeren Phase der Ungewissheit gegen ihr eigenes Zeugnis zugeschrieben wurden. Ihr uns unbekannter Verfasser ist vermutlich auch nicht mit dem Autor des Johannesevangeliums identisch, er stammt aber in jedem Fall aus dem Kreis, in dem es noch vor Abfassung der Briefe entstanden ist. Offensichtlich fühlt er sich der Sprache und der Theologie dieses Evangeliums verpflichtet und will sie angesichts einer massiven Krise seines Kreises und im Gespräch mit anderen frühchristlichen Traditionen neu zur Sprache bringen.
Was den Ort ihrer Entstehung angeht, so weist die frühe Wirkungsgeschichte der Johannesbriefe (wie auch die altkirchliche Tradition über ihren Autor) nach Kleinasien, vielleicht nach Ephesus. Dafür spricht auch, dass der 1. Johannesbrief theologische Inhalte rezipiert, die gewisse Parallelen in paulinischen Briefen haben. Die Entstehungszeit der Johannesbriefe lässt sich ebenfalls nur schwer bestimmen. Da sie nach dem Evangelium entstanden sind, ist die Jahrhundertwende bzw. der Beginn des zweiten Jahrhunderts anzunehmen.
Die kirchliche Rezeption der drei Johannesbriefe verlief äußerst komplex und ist zudem mit der Entstehungsgeschichte der Katholischen Briefe (Corpus Catholicum) verbunden. Während der 1. Johannesbrief sich bald allgemeiner Anerkennung erfreute und später mit dem Jakobusbrief und dem 1. Petrusbrief ein kleines Corpus Catholicum bildete, waren die beiden kleinen Johannesbriefe aus mehreren Gründen in den ersten Jahrhunderten umstritten. Unklar war schon, ob sie vom selben Autor stammen wie der 1. Johannesbrief. Außerdem erhob ihr Verfasser gar keinen »apostolischen« Anspruch. Erst als sich ein Corpus Catholicum aus sieben Briefen etabliert hatte, war auch die Kanonizität der kleinen Johannesbriefe gesichert.
Gerade aus den beiden kleinen Johannesbriefen lässt sich die Situation der Gruppierung erkennen, in deren Mitte das Johannesevangelium und die drei Briefe entstanden sind: Um den Autor, der sich im 2. und im 3. Johannesbrief als Presbyter (»Ältester«) bezeichnet, ist ein Kreis von Anhängern erkennbar, die zwar in verschiedenen Gemeinden sesshaft, aber untereinander eng verbunden sind und die durch Briefe und Boten miteinander Kontakt halten. Man kann von einer para-gemeindlichen Gruppe sprechen. Sie bezeichnen sich selbst als »Freunde« (3 Joh 15, vgl. Joh 15,12– 17) und beanspruchen sowohl eine besonders tiefgehende Christuserkenntnis (»Wahrheit«) als auch die exemplarische Verpflichtung auf das Liebesgebot für sich. Von einer Abschottung des Kreises gegenüber anderen Christen kann aber keine Rede sein. Die Johannesbriefe zeigen jedoch, dass die Akzeptanz dieses Kreises in den Gemeinden sehr unterschiedlich war. Während sie mancherorts gut integriert und wohl an den internen katechetischen und gottesdienstlichen Vollzügen beteiligt waren (2 Joh), wurden sie in anderen Gemeinden »nicht aufgenommen« (3 Joh 9). Der Presbyter selbst ist aber offenbar eine über den Kreis seiner Anhänger hinaus respektierte Persönlichkeit (3 Joh 10).
Der 1. Johannesbrief
Mit dem 1. Johannesbrief reagiert der Verfasser auf eine dramatische Spaltung seines Kreises. Zerbrochen ist die Einheit über dem Bekenntnis, dass Jesus Christus im Fleisch gekommen ist (1 Joh 4,2; vgl. 2 Joh 7), aber der Dissens umfasst auch die Frage, welche Bedeutung der Kreuzestod Christi hat und inwiefern die Christusgläubigen noch sündigen (können). Der Briefautor schärft immer wieder ein, dass Jesus Christus als vom Vater in die Welt gesandter Sohn ein wirklicher Mensch ist (1 Joh 1,1), dass er radikal Anteil an allen Begrenzungen und Schwächen menschlicher Existenz (»Fleisch«) genommen hat und dass sein Kreuzestod »Sühnung für die Sünden« wirkt, d.h. dass Gott selbst hier die tödliche Distanz zwischen den Menschen und sich aufhebt (1 Joh 1,7; 2,2; 4,10; 5,6). Darin sind auch Getaufte einbezogen, die schuldig geworden sind.
Konfrontiert mit der Spaltung seines Kreises grenzt sich der Autor scharf von seinen Gegnern ab (1 Joh 2,18–27; 4,1–6; 5,6; 2 Joh 10). Zugleich ringt er aber darum, wie die Erfahrung von Sünde und Schuld unter Christusgläubigen (1,5–2,2; 3,19f; 5,16) vereinbar ist mit der Auffassung, dass getaufte »Gotteskinder« nicht sündigen, ja nicht sündigen können (3,6.9; 5,18). Wie die Rede vom »anklagenden Herzen« (3,19f) zeigt, war dies ein massives pastorales Problem innerhalb des Kreises.
In den Bahnen paulinischer Theologie arbeitet der Autor die dauerhafte und immer wieder neu erfahrbare Sündenbeseitigung durch den Kreuzestod Jesu heraus. Zugleich betont er die innergemeindlich gelebte Solidarität (»Bruderliebe«) als das entscheidende Feld der Bewährung. Oft bleiben Christinnen und Christen hinter den von Christus selbst gesetzten Maßstäben zurück und werden aneinander schuldig, sie erfahren durch die Praxis der gegenseitigen Liebe aber auch immer wieder neu, dass sie aus dem Tod ins Leben hinübergegangen sind (1 Joh 3,16). Deswegen bindet der Autor in mehreren Anläufen die ursprünglich mit der Taufe verbundene Vorstellung einer »Gotteszeugung« an das Tun der Gerechtigkeit (2,29; 3,7), an die tätige Liebe (4,7), an den Christusglauben (5,1), an den Sieg über eine lieblose und unsoziale »Welt« (5,4, vgl. 2,13–17; 3,13–18), aber auch an das Gebet füreinander (5,16–18).
In seinem Aufbau folgt der 1. Johannesbrief dem antiken Briefformular, aber sein Autor verzichtet auf das klassische Briefpräskript, da der Brief keinen konkreten Adressaten hat, sondern eine Art Rundschreiben darstellt und sich an alle wendet, die mit ihm auf der Basis recht verstandenen Christusglaubens in Gemeinschaft treten möchten (1 Joh 1,3). Statt eines Präskripts verfasst er eine Art Briefprolog (1 Joh 1,1–4), und zwar in Anlehnung an den Johannesprolog. Auch sein Briefschluss (5,13–21) weicht aufgrund der offenen Adressatenschaft stark von den Konventionen ab, Grüße und persönliche Notizen fehlen. Im Falle des Briefkorpus (1,5–5,12) sind die kleineren Einheiten weitgehend unstrittig, sehr schwierig ist aber die Gliederung in größere Hauptteile, da der Brief eher in kreisenden Bewegungen, man könnte auch sagen: leitmotivisch organisiert ist. Bestimmte Grundgedanken werden immer wieder neu aufgenommen, vertieft und variiert und beleuchten sich gegenseitig.
Prolog (statt Briefeingang): Einladung zur Gemeinschaft (1 Joh 1,1–4)
Briefkorpus (1,5–5,12)
- Jesu Sühnetod und die Vergebung der Sünden der Getauften (1,5–2,2)
- Leben im Licht nach dem Liebesgebot (2,3–11)
- Distanz zur Welt, die vergeht (2,12–17)
- Gegnerpolemik: Die Spaltung des johanneischen Kreises als Geschehen der Endzeit (2,18–27)
- Das Tun der Gerechtigkeit und die Sündlosigkeit der Getauften (2,28–3,10)
- Die Praxis der Geschwisterliebe (3,11–24)
- Gegnerpolemik: Das falsche Bekenntnis der Gegner (4,1–6)
- Gott ist Liebe
- Höhepunkt und Zentrum des Briefes (4,7–21)
- Von Gott gezeugt durch den Glauben an Christus (5,1–12)
Briefschluss: Sünde zum Tod und Sünde nicht zum Tod und (nochmals) die Sündlosigkeit der Getauften (5,13–21)
Der 2. Johannesbrief
Der 2. Johannesbrief setzt dieselbe Konfliktsituation voraus wie der erste. Der Autor wendet sich nun aber offiziell an eine andere Gemeinde, da diese in absehbarer Zeit mit seinen Gegnern konfrontiert wird, die das »Kommen Jesu Christi im Fleisch« leugnen. Der kurze Brief zeigt auf, wie die im 1. Johannesbrief inhaltlich bekämpften Gegner an der Verweigerung des Bekenntnisses zu identifizieren sind, und plädiert dafür, ihnen die Gastfreundschaft und damit den Zugang zum Gemeindeleben zu verweigern. Doch geht es dem Autor nicht nur um Abgrenzung, sondern auch um die Gemeinschaft, die durch das gemeinsame Christusbekenntnis und die gegenseitige Liebe begründet wird. Das schwer zu datierende, vermutlich um die Jahrhundertwende ungefähr zeitgleich mit dem 1. Johannesbrief entstandene Schreiben ist ganz nach dem antiken Briefformular aufgebaut:
Briefeingang: Anschrift und Gruß (2 Joh 1–3)
Briefkorpus (2 Joh 4–11): Wandel in der Wahrheit (4–6) und Abgrenzung von den Gegnern (7–11)
Briefschluss und Grüße (2 Joh 12–13)
Der 3. Johannesbrief
Mit dem kleinen Privatbrief wendet sich der Autor der Johannesbriefe an eine Einzelperson, Gaius. Dieser »wandelt in der Wahrheit«, gehört also zu seinem Kreis (»die Freunde«), lebt aber in einer anderen Gemeinde. Gaius soll dazu ermuntert werden, durchreisenden christlichen Missionaren auch weiterhin Gastfreundschaft zu erweisen, selbst wenn sie ihm unbekannt sind. Der Brief dient gleichzeitig als Empfehlungsschreiben für Demetrius, der ihn wohl als Bote überbringt. Außerdem informiert der Presbyter Gaius über Probleme seines Kreises mit Diotrephes: Dieser »will unter ihnen der Erste sein« (9), d.h. er beansprucht die Führungsrolle im kollektiven Leitungsgremium der Ortsgemeinde, und er bekämpft die Anhänger des Presbyters mit allen Mitteln (10). Der Verfasser kündigt seinen Besuch an, mit dem er den Konflikt persönlich zu lösen hofft.
Wie der 2., so orientiert sich auch der 3. Johannesbrief eng am antiken Briefformular:
Briefeingang: Anschrift und Gruß (3 Joh 1–4)
Briefkorpus (3 Joh 5–12): Lob der Gastfreundschaft des Gaius (5–8), der Konflikt mit Diotrephes (9–11) und Empfehlung des Demetrius (12)
Briefschluss mit Grüßen (3 Joh 13–15)