Der Galaterbrief führt uns nach Kleinasien, ins Gebiet um das heutige Ankara, wo sich zu Zeiten des Apostels Paulus die römische Provinz Galatien befand. Wahrscheinlich um das Jahr 50 herum war Paulus auf seiner sogenannten zweiten Missionsreise hier durchgezogen und hatte Gemeinden gegründet. Einige Jahre später, wohl auf der »dritten Missionsreise«, irgendwann zwischen 52 und 57, schrieb er seinen Gemeinden einen Brief. Wo sich Paulus befand und wann genau es war, lässt sich nicht mehr ermitteln.
Warum er aber den Brief schrieb, das hören wir deutlich aus dem Galaterbrief heraus. Paulus sieht seine Gemeindegründung in Gefahr und diese Gefahr will er abwenden. Wir werden beim Lesen des Galaterbriefes Zeugen eines Konfliktes zwischen Paulus, dem Gemeindegründer, einigen einflussreichen Leuten, die für ihn Irrlehrer sind, und den Gemeinden, die zwischen den Fronten stehen. Aber wir erfahren nur von einer Konfliktpartei, wie sie das Ganze sieht. Weder die Darstellung der Gegner noch, was die Gemeinden zu sagen hatten, ist uns überliefert. Was bis heute in Konflikten geschieht, war auch damals so: Paulus hat nicht das Ziel, das Ganze objektiv zu betrachten. Vielmehr will er seine Gegner schwächen, weshalb er nicht an Kompromissen interessiert ist, sondern daran, in aller Schärfe darzustellen, warum die anderen falsch liegen. Deshalb polemisiert er aufs Schärfste und stellt die Position der Gegner überspitzt dar. Dadurch will er die Gemeinden (zurück) auf seine Seite ziehen. Das Thema des Konfliktes ist eine Grundsatzfrage: Was verhilft zum Heil, zum Bleiben in Christus, zu ethisch korrektem Lebenswandel – das Gesetz (des Mose) oder der Glaube? Eine systematische Erörterung der Frage finden wir von Paulus selbst im Römerbrief. Auch die Apostelgeschichte behandelt diese Streitfrage, stellt sie aber sehr viel abgeklärter, mit Abstand dar. Dieser Abstand war Paulus beim Abfassen des Galaterbriefes nicht gegeben. Für ihn ging es um alles, er sah nicht nur seine Autorität als Apostel, sondern die Gültigkeit »seines« Evangeliums in Frage gestellt.
Wer aber waren die Gegner und was wollten sie genau? All dies bekommen wir nicht mehr heraus, da uns nur die polemische Darstellung des Paulus vorliegt. Offenbar handelt es sich um Judenchristen, die auf der Einhaltung jüdischer Gesetze, Bräuche und Kalendervorschriften in der christlichen Gemeinde bestehen. Das scheint die Gemeinden zu verunsichern, so dass offenbar einige diese Bräuche wieder annehmen. Hier aber wird für Paulus der Kern des Evangeliums berührt. Für ihn ist das Kreuz die einzige Norm derer, die als Christen in der Freiheit Christi leben. Diese Erkenntnis, die Gnade, das glauben zu können, ist die Grundlage für alles. Deshalb kämpft Paulus so leidenschaftlich. Dafür nutzt er ein altes Mittel, das seinen Lesern vertraut war. Er erzählt Geschichten, legt diese aus und gibt daraus Handlungsanweisungen. Diese Erzählungen speisen sich aus zwei Quellen: den eigenen Erfahrungen des Paulus und dem Alten Testament. Paulus gibt Teile seiner ganz persönlichen Lebensgeschichte preis, um das Wirken der Gnade, der Erkenntnis Jesu Christi deutlich zu machen. Er ist Apostel und eine Autorität für die Gemeinden, weil Christus selbst ihn dazu gemacht hat. In dieser Autorität legt er dann auch die Heilige Schrift aus – vor allem die Abrahamstradition.
Ein kurzer Blick auf den Rahmen des Galaterbriefes kann abschließend eine gute Lesehilfe sein. Briefanfang und Briefschluss folgten in der Antike formalen Regeln. Wer von diesen Regeln abweicht, tut es bewusst. Paulus beginnt formal richtig mit der Nennung des Absenders, gleich nach seinem Namen fügt er die Berufung zum Apostel an, die er dann explizit auf Jesus Christus und Gott, den Vater, zurückführt. Diese Erweiterung zeigt, dass er mit dieser Autorität gelesen werden will. Die Brüder bei ihm und die Adressaten bekommen weit weniger Raum (1,2) und die üblichen Segenswünsche erweitert Paulus wiederum, um dann einen Lobpreis Gottes und ein deutliches »Amen« anzufügen (1,4f). Im antiken Brief folgt darauf üblicherweise ein Dank oder ein Lob der Adressaten – hier aber ein Mahnruf und Fluch (1,6–9), der den Adressaten den Ernst des Themas zeigt und sie in die Entscheidung stellt.
Ähnlich der Schluss des Briefes. Paulus betont, dass er mit großen Buchstaben schreibt – das ist bis heute ein deutliches Achtungszeichen in schriftlicher Kommunikation (6,11). Anschließend stellt er seine Gegner ihm selbst gegenüber – um sie endgültig zu demontieren (6,12–16). Bevor er den üblichen Segensgruß schreibt, mahnt er noch einmal seine Autorität an (6,17), die üblichen Grußformeln lässt er gänzlich weg. Und ganz am Ende fügt er wieder ein feierliches »Amen« an und unterstreicht damit wiederum, dass es um alles oder nichts geht.
So dürfen wir den Galaterbrief als ein Dokument des Ringens um die Wahrheit des Evangeliums lesen, die Paulus am eigenen Leib durch Gottes Gnade erfahren hat und die er seinen Gemeinden vermitteln will, damit sie wirklich zum Heil gelangen. Diese Wahrheit aber, so zeigt uns der Galaterbrief ist nicht ein für alle Mal zu haben, sondern nur im steten Bemühen darum.