Literaturgeschichtliche Einordnung
Der Hebräerbrief gibt seinen Lesern literaturgeschichtlich eine Fülle bis heute ungelöster Rätsel auf. Bei der Verfasserfrage dachte die Alte Kirche an Paulus (13,23: Paulus-Mitarbeiter Timotheus), aber er scheidet aus sprachlichen und theologischen Gründen als Autor aus. Auch andere Verfasser-Hypothesen (Clemens Romanus; Barnabas; Apollos) überzeugen nicht. Es bleibt beim Urteil des Origenes (Euseb, Hist. eccl. VI 25,11ff): »Wer diesen Brief geschrieben hat, das weiß Gott allein.«
Sicher ist, dass der Verfasser ein eigenständiger Denker von hohem rhetorischen und theologischen Format war, vermutlich ein griechisch sprechender Judenchrist. Seine Sprache und die Methode der Schriftauslegung zeigen eine gewisse Nähe zu Philo von Alexandrien. Der Verfasser bedient sich aber auch rabbinischer Auslegungsmethoden. Der religionsgeschichtliche Hintergrund seines theologischen Denkens lässt sich nach wie vor nicht eindeutig bestimmen. Gut zu erkennen sind die Bezüge zur jüdischen Apokalyptik und zum hellenistischen Judentum. Der Verfasser ist ein unbekannter theologischer Lehrer, der das von den Aposteln zuverlässig überlieferte Wort Gottes weitergibt (2,1–4). Die Adressaten sind ihm persönlich bekannt (13,19); es handelt sich bei ihnen um eine glaubensmüde und lässig gewordene (z. B. 3,12f; 5,11f; 6,11f; 10,35ff; 12,12f) heidenchristliche Gemeinde (vgl. 6,1f), die wohl am ehesten in Rom beheimatet war. »An die Hebräer« ist eine erst vom Inhalt des Traktats erschlossene Überschrift aus der Zeit der Sammlung urchristlicher Briefe. Für Rom sprechen die Grüße in 13,24 und die erste sicher datierbare Bezeugung des Hebräerbriefes durch den in Rom entstandenen 1. Clemensbrief (96 n. Chr.). Wörtliche und sachliche Anklänge zeigen, dass der I Clem den Hebräerbrief gekannt hat. Seine Abfassungzeit ist also vor dem Jahr 96 anzusetzen. Frühestmöglicher Abfassungszeitpunkt dürfte das Jahr 64 n. Chr. sein, wenn 10,32–34 und 13,7 auf die neronische Verfolgung anspielen (dagegen 12,4).
Seiner Form nach ist der Hebräerbrief kein Brief im eigentlichen Sinn: Absender und Adressaten (Präskript) fehlen ebenso wie die Danksagung (Proömium) für die Glaubensfestigkeit der Adressatengemeinde (vgl. Paulusbriefe). Vielmehr handelt es sich beim Hebräerbrief als einem »Wort tröstlicher Ermahnung« (13,22; vgl. Apg 13,15) um »die erste vollständige urchristl. Predigt, ... die uns erhalten blieb« (O. Michel). Zweck dieser Predigt ist es, die angefochtene Gemeinde daran zu erinnern, dass ihre Hoffnung in Christus fest begründet ist (Zuspruch: 3,1–6; 6,17–20; 10,19–21). Sie will ermutigen, am Christusbekenntnis festzuhalten (Anspruch: 3,14; 6,11f; 10,22–25) und so das unmittelbar bevorstehende endzeitliche Heil zu erlangen (9,28; 10,25; 10,35–39).
Gliederung und Inhalt
Dass der Hebräerbrief eine um Trost und Ermahnung bemühte seelsorgerliche Predigt darstellt, zeigt sich auch in der Gliederung. Es wechseln theologische Grundlegung (1,1–14; 2,5–18; 5,1–10; 7,1–10,18; 11,1–40; 12,18–24) und ermahnende Folgerung (2,1–4; 3,1–4,13; 4,14–16; 5,11–6,20; 10,19–31; 10,32–29; 12,1–17; 12,25– 29). Beide Formen sind dem Verfasser gleich wichtig. Jesus ist die Mitte! Es geht um seine Person (1,1–14; 5,1–10; 7,1–28) und um sein Werk (8,1–10,18). Die Ermahnungen legen dieses Christusbekenntnis aus.
Den in drei Hauptteile gegliederten, und mit einem »brieflichen Nachwort« (13,1–25) versehenen Hebräerbrief durchzieht die Gegenüberstellung von 1,1f: Es geht um das vormalige, vielfache und vielfältige Reden Gottes durch die Propheten zu den Vätern und um das endzeitliche, abschließende und unüberholbare Reden Gottes in seinem Sohn zur christlichen Gemeinde (»uns«; »wir«). Im 1. Hauptteil (1,1–4,13) stellt der Verfasser in 3,7–4,11 die Wüs tengeneration als warnendes Beispiel dar: Weil sie ungehorsam war und dem Verheißungswort Gottes nicht vertraute, blieben die Väter von der himmlischen Ruhestatt Gottes ausgeschlossen. Der 2. Hauptteil (4,14–10,31) legt dar, dass der Hohepriester Jesus (7,1–28) die durch seine sühnende Selbsthingabe im himmlischen Allerheiligsten (8,1–10,18) ein für alle Mal gültige Sündenbeseitigung erwirkt hat, was das levitische Priestertum nicht vermochte. Dadurch ist der Weg ins himmlische Allerheiligste frei. Die Glaubenden dürfen Gott nahen (6,19f; 10,19ff). Im 3. Hauptteil (10,32–12,29) führt der Verfasser die »Wolke der Zeugen« aus den Vätern (11,1–40) auf. Sie sind, wie auch Jesus selbst (12,2), für die angefochtene Gemeinde Glaubensvorbilder, die dem göttlichen Verheißungswort Zutrauen schenkten.
Theologische Eigenart
Im Neuen Testament einmalig ist die Hohepriesterlehre des Hebräerbriefes: Der Verfasser hat hierbei das im Anschluss an Ps 2,7 formulierte Bekenntnis »Jesus ist der Sohn Gottes« interpretiert durch Ps 110,4b: »Du bist Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks« (5,5–10; 7,3.20–22). Auf der schriftgelehrten Kombination der beiden Psalmverse gründet der Verfasser seine am alttestamentlichen Kultus orientierte Terminologie. Das zwischen irdischem und himmlischem Heiligtum unterscheidende Weltbild (Kap. 8f) ist dem AT (v.a. Ex 25–27; Lev 16) verpflichtet: Im irdischen Heiligtum werden vom levitischen Priestertum für die eigenen Sünden und für die Sünden des Volkes die Jahr für Jahr am Versöhnungstag zu wiederholenden Tieropfer dargebracht. Im himmlischen Heiligtum dagegen hat sich am Karfreitag als dem großen Versöhnungstag der Hohepriester Jesus einmal selbst dahingegeben, um für alle Menschen eine ewig gültige Sündenvergebung zu erwirken (7,11–28; 9,1–28; 10,1–29).
Auffallend ist ferner das Glaubensverständnis. Der Verfasser versteht den Glauben als menschliche Haltung, die dem göttlichen Verheißungswort vertraut und das Bekenntnis nicht preisgibt (3,12–14; 4,1–3; 10,22–25; 10,35–11,1; 12,1f) und so am Tag der Wiederkunft Jesu das Heil, d.h. den Zutritt ins himmlische Allerheiligste und in die unmittelbare Nähe Gottes erlangt (3,12–14; 4,1–3; 9,28; 10,35ff; 11,39f; 12,18–24). Für den aber, der bewusst vom Glauben abfällt, gibt es nach dem Hebräerbrief keine Erneuerung der Buße (6,4–8; 10,26–31; 12,16f).
Die Botschaft des Hebräerbriefes für heute
Der Hebräerbrief ist eine besondere Stimme im Chor der neutestamentlichen Christuszeugen. Er bietet so etwas wie eine Handreichung für verzagte Zweifler und skeptische Erdenbürger. Er ermutigt und tröstet das wandernde Gottesvolk, indem er auf Jesus, den himmlischen Hohenpriester verweist: »Schaut auf Jesus! Er hat euch den Weg in die Gottesgemeinschaft eröffnet. Auf ihn könnt ihr euch verlassen. Werft euer Vertrauen nicht weg, denn auf euch wartet im himmlischen Thronsaal eine wunderbare Belohnung: Ihr habt Zugang zum Herzen Gottes. In seiner Ruhestatt werdet ihr den ewigen Sabbat feiern.«
Christian Rose