Kolosserbrief

Der Kolosserbrief gehört zu den kürzeren der Briefe des Paulus und steht in der Wahrnehmung oft im Schatten nicht nur des Römerbriefs oder der Korintherbriefe, sondern auch des Galater- und Epheserbriefs. Er ist aber mit seiner eigengeprägten Botschaft ein wichtiger Zeuge innerhalb der Sammlung der Paulusbriefe.

Der Brief ist an die Gemeinde in Kolossä geschrieben. Kolossä war eine Stadt in der Provinz Asia, also im Westen der heutigen Türkei, im Tal des Flusses Lykus. Die Gemeinde, die es dort gab, war nicht von Paulus gegründet worden, sondern vermutlich von dem Kolosser Epaphras (1,7; 4,12f). Auch in den Nachbarstädten Laodizea und Hierapolis scheint es schon Gemeinden gegeben zu haben (4,13). Die Grußliste in 4,10–18 hat viele Berührungen mit der des Philemonbriefs (Phlm 23f). Onesimus, um dessen Flucht es im Philemonbrief geht, stammte aus Kolossä und wahrscheinlich gehörte auch sein Besitzer Philemon zu dieser Gemeinde. Kolossä ist wie die beiden Nachbarstädte durch ein Erdbeben im Jahr 60 n. Chr. fast ganz zerstört, aber anders als diese nicht wieder aufgebaut worden.

Von Paulus selbst wird gesagt, dass er im Gefängnis ist (4,3.10.18). Das könnte auf eine Abfassung in Rom hinweisen; aber möglicherweise war Paulus auch schon in Ephesus für einige Zeit im Gefängnis gewesen, was sehr viel näher bei Kolossä lag als Rom.

Der Aufbau des Kolosserbriefs weist die typischen Merkmale eines Paulusbriefs auf: Er beginnt mit dem Briefkopf (1,1f) und der Danksagung und Fürbitte (1,3–11). Diese führt bruchlos hinein in den ersten Hauptteil (1,12–2,23): Die Grundlegung: Christus und das Heil, das durch ihn geschenkt ist. Er entfaltet sich in drei Teilen:

(1) Die Bedeutung der Person und des Wirkens Christi (1,12– 23). In diesen Abschnitt ist ein kunstvolles Christuslied (1,15– 20) eingearbeitet.

(2) Die Vollmacht des Apostels (1,24–2,7)

(3) Die falsche Philosophie und die rettende Herrschaft Christi (2,8–23). Das ist das Zentrum des Briefs. Hier wird die Aus einandersetzung mit einer bedrohlichen Lehre geführt, aber auch die Bedeutung des Christusgeschehens eindrücklich dargelegt (2,9–15).

Der zweite Hauptteil (3,1–4,6) beschreibt, was daraus praktisch folgt: Die Konsequenz: Ein Leben aus dem Glauben.

Nach einer grundsätzlichen Einleitung Leben in der Gemeinschaft mit Christus (3,1–4) werden die Folgerungen für das persönliche Leben dargelegt: Der alte und der neue Mensch (3,5–17; sehr schön 3,16f: der rechte Gottesdienst in der Gemeinde und der Welt), dann Ein geordnetes Miteinander in einer christlichen Familie (Haustafel) vorgestellt (3,18–4,1) und mit Mahnung zum Gebet und zur missionarischen Verantwortung abgeschlossen (4,2–6). Es folgt 4,7–18 Briefschluss mit persönlichen Informationen und Grüßen.

Leider ist es schwierig, die gefährliche Lehre (2,8: Philosophie), gegen die der Brief kämpft, genauer einzuordnen. In ihrem Mittelpunkt stand offensichtlich die Erkenntnis, dass sogenannte Mächte der Welt (Einheitsübersetzung: Elementarmächte der Welt; vgl. auch Gal 4,3) im Bereich zwischen Himmel und Erde und also auch zwischen Christus und den Christen herrschten. Man sah in ihnen mächtige Engel, denen besonders demutsvolle Verehrung erwiesen werden musste, damit sie einen nach »oben« ließen (2,18). Dazu gehörte die Beachtung von Speisevorschriften, bestimmter Kalender- und Feiertage, einschließlich des Sabbats, und anderer Tabuvorschriften (2,16.22f). Es gab wohl auch Einweihungsriten, in denen geheime Dinge geschaut wurden (2,18) und zu denen vielleicht auch die Beschneidung gehörte.

Dagegen setzt der Kolosserbrief eine Verkündigung der Christusbotschaft, die herausstellt, dass Gott durch Christi Tod am Kreuz und durch seine Auferweckung schon die ganze Schöpfung mit sich versöhnt und Frieden mit ihr und den Menschen gemacht hat (1,19f). Gott hat durch Christus »die Mächte und Gewalten ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt und über sie triumphiert« (2,15). Deshalb stehen die Christen nicht mehr unter der Herrschaft irgendwelcher Engelmächte und müssen sich auch nicht mehr besondere Vorschriften und Satzungen auferlegen lassen, um den Weg zu Gott frei zu machen. Denn sie sind »mit Christus für die Mächte der Welt gestorben« (2,20). Sie leben nicht mehr in dieser von allen möglichen Gewalten beherrschten Welt, sondern sind mit Christus auferstanden. Darum soll ihr Leben jetzt ganz auf das, was »droben ist«, also was Christus entspricht, ausgerichtet sein (3,1f).

Im Zuge dieser Auseinandersetzung macht der Kolosserbrief Aussagen, die sich merklich von dem unterscheiden, was Paulus in früheren Briefen gesagt hat. Heißt es in Röm 6,8: »Sind wir aber mit Christus gestorben, so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden«, so lesen wir in Kol 2,12: »Mit ihm seid ihr begraben worden durch die Taufe; mit ihm seid ihr auch auferstanden durch den Glauben.« (vgl. 3,1) Auch das Bild vom Leib Christi wird unterschiedlich gebraucht: Wird in 1 Kor 12,12f die Gemeinde als Leib Christi bezeichnet, und damit der ganze Leib mit Christus identifiziert, so ist im Kolosserbrief Christus das Haupt des Leibes, und zwar nicht nur der Gemeinde (1,18; 2,19), sondern auch »das Haupt aller Mächte und Gewalten«.

Man kann diese Unterschiede zum Teil damit erklären, dass die Irrlehre in Kolossä eine neue Formulierung der paulinischen Botschaft nötig machte. Die Bezugnahme auf diese Lehre erklärt auch, dass im Kolosserbrief viele Begriffe auftauchen, die sonst in den Paulusbriefen nicht gebraucht werden. Dazu kommt aber die Beobachtung, dass dieser Brief in einem deutlich anderen Stil geschrieben ist als die älteren Paulusbriefe. Er hat darin große Ähnlichkeit mit dem Epheserbrief, für den er wohl als Vorlage gedient hat. Darum sind viele Ausleger der Meinung, dass der Brief nicht von Paulus selbst stammt, sondern erst nach dessen Tod von einem seiner früheren Mitarbeiter verfasst wurde. Das Auftauchen der gefährlichen Irrlehre in den Gemeinden Kleinasiens machte eine Stellungnahme im Namen des Apostels nötig und Kolossä, wo es nach dem Erdbeben von 60 n. Chr. keine Gemeinde mehr gab, bot sich als fiktiver Adressat an.

Doch kann es sein, dass ein Brief mit so vielen persönlichen Mitteilungen nur Fiktion ist? Andere Ausleger gehen deshalb davon aus, dass Paulus diesen Brief zwar nicht persönlich diktiert hat, dass ihn aber ein Mitarbeiter, vielleicht war es Timotheus, in seinem Auftrag geschrieben hat. Dass Paulus bei der Abfassung im Gefängnis war, wäre eine einleuchtende Begründung für dieses Verfahren, das durchaus den Gepflogenheiten der Zeit entsprach. Diese Annahme würde auch erklären, dass sich der Brief zwar in seinem Stil und in manchen theologischen Aussagen von der Theologie der paulinischen Hauptbriefe unterscheidet, deren Grundlinien aber noch sehr nahesteht.

Wie dem auch sei, der Kolosserbrief ist ein eindrucksvolles Zeugnis für die Überzeugung der Urchristenheit, dass Gottes Handeln in Jesus Christus nicht nur Rettung und Befreiung für die einzelnen Glaubenden oder die christliche Gemeinde bedeutet, sondern Auswirkungen auf die ganze Schöpfung hat. In Christus begegnet Gott, der Schöpfer, der Befreier und der Versöhner, denn »in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig« (2,9). Weil sie nicht mehr von den Machtspielen der Mächte dieser Welt abhängig sind, sind Christen zu einem neuen Leben befähigt (3,10), zu einem Handeln in dieser Welt, das im Namen Jesu geschieht und von seiner Liebe geprägt ist (3,17), und zu einem Miteinander, das alle Grenzen überwindet (3,11).