Dieses Buch lässt kaum jemanden kalt. Die einen erliegen der Faszination seiner Bilderwelt oder rätseln über mögliche Bedeutungen für unsere Gegenwart. Andere fühlen sich abgestoßen, sei es von der Fremdheit seiner Visionen oder der Gewalttätigkeit seiner Erzählung. Sie stimmen in die skeptischen Urteile derer ein, die schon in den ersten Jahrhunderten Einwände gegen die Aufnahme des Buches in den Kanon formulierten (Dionysios von Alexandrien) oder wie Luther in seiner Vorrede der neutestamentlichen Bücher sichtlich genervt auf die Verschlüsselung des klaren Wortes des Evangeliums in komplizierten Bildern reagierten. Gleichmütig bleibt kaum jemand, der die Offenbarung des Johannes liest. Und vermutlich ist genau das die Absicht. Das Buch drängt seine Leserschaft zu einer Entscheidung! Um diese Entscheidung zu erleichtern, malt der Verfasser die Situation, in der er seine Adressaten sieht, in intensiven Farben und mit starken Kontrasten.
Was können wir über diese Situation in Erfahrung bringen?
Den Verfasser kennen wir mit Namen. Er heißt Johannes (1,4.9; 22,8). Wir lernen ihn als Empfänger von Visionen und Auditionen kennen (1,10–12); er versteht sich selbst als Prophet und sein Buch als Prophetie, das seine Autorität unmittelbar von Gott her empfängt (22,6.9) und deswegen auch nicht gekürzt, erweitert oder verändert werden darf (22,18f). Diese besondere Begabung hebt ihn nach seiner Selbstdeutung aber nicht aus der Gemeinde heraus: Er nennt sich Bruder und Partner in der schwierigen Situation (1,9), in der sich auch seine Adressaten befinden. Er ist Jude und hat seine Prägung wahrscheinlich in den Jesusgemeinden in Palästina oder Syrien erhalten. Seine Visionen empfängt er auf Patmos. Das ist eine kleine Insel, die heute zu den griechischen Dodekanes gehört und in der östlichen Ägäis, unweit der türkischen Westküste auf der Höhe des antiken Milet, liegt. Die Insel ist hügelig und nicht dicht besiedelt. Johannes hielt sich dort »wegen des Wortes Gottes und des Zeugnisses Jesu« auf (1,9). An anderer Stelle steht dieser Ausdruck im Zusammenhang des Martyriums von Jesusanhängern. Ist Johannes also vielleicht verbannt worden? Oder ist er geflohen? Da die Verbannungsstrafe nur gegen Mitglieder der gehobenen Schichten verhängt wurde, ist eine Flucht wahrscheinlicher. Aber wovor ist er geflohen? Drohte eine Anklage? War sein Leben bedroht?
Die Menschen, an die Johannes sein Buch richtete, lebten in sieben Städten der römischen Provinz Asia, dem westlichen Teil der heutigen Türkei: in Ephesus (heute in der Nähe von Selçuk), Smyrna (heute Izmir), Pergamon (ca. 80 km nördlich gelegen), Thyatira (heute Akhisar), Sardes (heute Sart), Philadelphia (heute Alaᶊehir) und Laodizea (in der Nähe von Denizli). Offenbar kannte Johannes diese Gemeinden gut; vielleicht war er Mitglied in einer von ihnen.
Was sieht der Prophet Johannes, wenn er sich die frühen Christen an diesen Orten ansieht? Faule Kompromisse mit der nichtchristlichen Umwelt, eine verwässerte christliche Identität, einen Lebensstil, der sich demjenigen einer nichtchristlichen Gesellschaft immer mehr anpasst (2,4; 3,15f). Besonders bringt es ihn auf, dass einige einflussreiche Personen in diesen Gemeinden genau diese »Angepasstheit« für richtig halten und verteidigen (2,6.14f.20). Konkret geht es vor allem darum, ob man an weit verbreiteten gesellschaftlichen Gepflogenheiten teilhaben soll, die im Geschäftsleben und im normalen Umgang üblich und die mit Riten und Interpretationen verbunden sind, die zum Herrscherkult oder zum Kult von »heidnischen« Gottheiten gehören. In den Gemeinden gab es Stimmen, die sich für eine theologisch reflektierte Integration in die Mehrheitsgesellschaft aussprachen, die Teilnahme an solchen Lebensformen empfahlen und damit eben keinen Verlust der christlichen Identität verbunden sahen. Das »sieht« Johannes grundlegend anders, und für seine Anschauung wirbt er mit seinem Buch.
Wann könnten solche Herausforderungen virulent gewesen sein? Lange Zeit war man sich in der Forschung weitgehend darüber einig, dass die Offenbarung in den letzten Jahren der Herrschaft des Kaisers Domitian entstanden sein müsste: Domitian galt als »wiedergekommener Nero« (Juvenal 4,38); auf Nero weist die Zahl 666, die dem feindlichen Tier in 13,18 zu geschrieben wird. (In der Antike wurden Buchstaben statt Ziffern für Zahlen verwendet; wenn man das hebräische Alphabet zugrunde legt und zusätzlich eine etwas ungewöhnliche Schreibweise annimmt, könnte die Zahl für »Kaiser Nero« stehen.) Die sogenannte Herrscherliste in 17,9f könnte auch dazu passen. Die römischen Geschichtsschreiber Tacitus und Suetonius erzählen, dass Domitian besonderen Wert auf die Herrscherverehrung legte und sie ausbaute. In der althistorischen Wissenschaft wurde das Bild Domitians jedoch einer kritischen Überprüfung unterzogen, und es zeigte sich, dass dieser die Herrscherverehrung nicht stärker betonte als seine Vorgänger; besonders in Kleinasien lässt sich keine Intensivierung nachweisen, auch für eine Verstärkung des Drucks auf die christlichen Gemeinden lassen sich keine Indizien finden. In der jüngsten Forschung sind alle Texte, die sich für die Rekonstruktion der Entstehungssituation auswerten lassen (bes. Kapitel 13 und 17), einer gründlichen Überprüfung unterzogen worden. Im Ergebnis wird vorgeschlagen, das Buch in die Zeit des Kaisers Hadrian, in die 30er Jahre des 2. Jahrhunderts zu datieren, in dessen Regierungszeit die Herrscherverehrung in Kleinasien zunehmend in die privaten Lebensbereiche der Bevölkerung Einzug hielt. Auch die berühmte Zahl 666 lässt sich mit den Namen Traianus Hadrianus vereinbaren.
Wie sieht Johannes das Leben der Gemeinden? Wie begründet er seine Ablehnung jeglicher »Integration« in die Mehrheitsgesellschaft? Wieso erscheint ihm eine »christliche Parallelgesellschaft « als die einzige legitime Alternative? Wieso soll man Diskriminierung, Ausgrenzung und sogar Verfolgung auf diese Weise sogar provozieren?
Johannes lebt, sieht und denkt in einer ganz speziellen Vorstellungswelt, die man später »apokalyptisch« nennen wird und die er mit einigen Zeitgenossen, besonders aus seiner jüdischen Ethnie teilt. Typisch für die Anhänger dieser Art, die Welt zu deuten, war die Annahme, dass geheimes Wissen über den Weltlauf in Visionen oder Träumen geoffenbart würde. Die Bilderwelt dieser Visionen speist sich überwiegend aus dem Alten Testament und muss von dort her dekodiert werden. Diese Art und Weise zu denken war in einer Zeit entwickelt worden, in der Teile der jüdischen Bevölkerung sich in ihrer Identität durch den Anpassungsdruck, der von den hellenistischen Herrschern Syriens und Ägyptens ausging, bedroht fühlten. In ihren Augen wurde die Welt zunehmend gottlos und sie selbst als diejenigen, die sich an Gottes Gebote hielten, mussten Nachteile erleiden und wurden an den Rand gedrängt. Sie entwickelten die Vorstellung, dass auch dieser Prozess, obwohl Gott nicht zugunsten seiner Anhänger eingriff, zu einem übergreifenden Plan gehöre, der auf die Durchsetzung der Herrschaft Gottes in der Zukunft ziele. Bevor es aber soweit komme, müsse die Bosheit und Gottlosigkeit immer stärker werden. In dieser Phase einer ständigen Verschärfung der Situation der Gottesfürchtigen käme es darauf an, treu zu seinem Glauben zu stehen, sich nicht einschüchtern und sich nicht verführen zu lassen, und koste es das eigene Leben. Dann, wenn es gänzlich unerträglich geworden sei, dann sei der Punkt gekommen, an dem Gott mit Macht eingreife und seine Gegner, besonders natürlich die heidnischen Herrscher, zerschlage. Anschließend würde er seine Herrschaft aufrichten, die Schöpfung erneuern, die »Bösen« seien vernichtet, die Gottesfürchtigen würden rehabilitiert. Eine solche Wirklichkeitsdeutung liegt auch bei Johannes vor. Sie gewinnt ihre Motive aus dem Alten Testament, besonders aus prophetischen Büchern und dem Buch Daniel. Der wichtigste Text aus dem Alten Testament ist das Buch Ezechiel. Es hat die Funktion einer »Decodierungsmaschine « für die Offenbarung des Johannes. Seine Visionen haben in etwa zeitgenössischen jüdischen Texten, besonders dem 4. Esrabuch und dem syrischen Baruchbuch, enge Parallelen.
Die Schilderung seiner Visionen (4,1–22,5) rahmt Johannes mit Texten, die an die Briefliteratur erinnern. Wie einen Brief leitet er sein Buch, nach einem kurzen Vorwort (1,1–3), mit der Angabe von Absender und Adressaten und einem ausführlichem Segenswunsch ein (1,4–8) und schließt es mit einem Segenswunsch (22,21) auch ab. Als Briefe versteht Johannes auch die sieben Sendschreiben (2,1–3,22). Alle Sendschreiben sind gleich gegliedert: Einem Schreibbefehl (»Dem Engel der Gemeinde in … schreibe!«) folgt eine Botenformel (»dies sagt der ….«). Der variable inhaltliche Teil wird durch die »Ich kenne …«-Einleitung eröffnet und durch den Weckruf (»wer ein Ohr hat, höre, was der Geist den Gemeinden sagt«) abgeschlossen. Die Schreiben enden mit dem Überwinderspruch (»wer überwindet …«). Mit den Sendschreiben wird das ganze Buch situativ verankert: Seine Visionen sind an die Jesusgläubigen in diesen sieben Städten in ihren konkreten Lebensverhältnissen gerichtet. In der Beauftragungsvision (1,19) ist die Gesamtgliederung des Buches angegeben: Johannes schreibt auf, was er gesehen hat, nämlich die Berufungsvision, dann »was ist«, nämlich die kritische Diagnose des Ist-Zustands der sieben Gemeinden in den Sendschreiben, und schließlich, »was danach kommt«, die zukünftige Geschichte bis zum Weltende (4,1–22,5). Die Zahl »sieben« übergreift als Gliederungselement und als inhaltliches Motiv ebenfalls das gesamte Buch: Schon am Buchanfang und in der Beauftragungsvision ist die Zahl präsent: Sieben Geister oder Engel stehen vor Gottes Thron (1,4), sieben Sterne und sieben Leuchter – sie repräsentieren die Gemeinden bzw. ihre Engel – werden sichtbar. »Sieben« ist die Anzahl der Gemeinden, an die die Sendbriefe gerichtet werden. Auch im Visionsteil, der die Zukunft beschreibt, kehrt die Zahl immer wieder: sieben Siegel (6,1–8,1), sieben Posaunen (8,2–11,19), sieben Schalen (15,1–16,21). Sind die Ereignisse, die in diesen drei Siebener- Zyklen geschildert werden, als Nacheinander gedacht? Dafür könnte sprechen, dass sich das, was sich beim Blasen der Posaunen ereignet, als Folge der Öffnung des siebten Siegels darstellt (8,1). Dann wäre auch das Ausgießen der Schalen als Folge des Erschallens der siebten Posaune vorzustellen. Gegen die Annahme eines klaren Nacheinanders spricht, dass sich die Ereignisse der Posaunen- und der Schalenvision inhaltlich nicht so deutlich unterscheiden. Man hat deswegen auch überlegt, ob die »Siebener-Zyklen« vielleicht dasselbe Geschehen mit jeweils anderen Bildern und eigenen Akzenten darstellen wollen. Die meisten Interpretationen des Textes versuchen, beide Aspekte zusammenzubringen: Einerseits werde ein Zeitverlauf linear geschildert, andererseits sei die Darstellung aber auch zyklisch und wiederholend.
Dem Visionszyklus von den sieben Siegeln ist die Thronsaalvision (4,1–5,14) vorangestellt: Fixpunkt in der Vorstellungswelt des Visionärs ist Gott selbst (4,1–11), den er so schaut, wie ihn einst Ezechiel (Ez 1) sah. Die zweite wichtige Figur für Johannes ist das Lamm, das anschließend eingeführt wird (5,1–14) und für den getöteten und erhöhten Christus steht. Es ist dieses Lamm, das die Siegel öffnen kann und das versiegelte Buch, das den Plan der Weltgeschichte enthält, zugänglich macht. Mit dessen Auftreten im Thronsaal wird also der Beginn der Endzeitereignisse eingeleitet: Die Erhöhung Jesu Christi ist somit der Auftakt für die endzeitlichen Ereignisse (12,5). Damit ist der Übergang zum ersten Siebener-Zyklus gestaltet. Der zweite und dritte Siebener-Zyklus ist durch die Vision vom »Drachen« und vom »Lamm« (12,1–14,20) getrennt; diese bildet die Mitte des Visionsteils und vielleicht so etwas wie den Scheitelpunkt der Konfrontation von Gott und der gegengöttlichen Macht, verkörpert im Römischen Imperium. An den letzten Siebener-Zyklus schließt sich die Vision vom Gericht über die Hure Babylon (17,1–19.10), einer symbolischen Verkörperung Roms, an. Dargestellt wird, wie das Römische Imperium als weltbeherrschende gegengöttliche Macht vernichtet wird. Der Abschnitt endet mit einem Lobpreis Gottes als des siegreichen Königs (19,1–10). Der Visionsteil wird mit der Schilderung der endzeitlichen Neuschöpfung beschlossen (19,11–22,5). Mit dem Schlussteil (22,6–20) wendet sich der Blick wieder zur Gegenwart: Die Verlässlichkeit des Buches und die Dringlichkeit seiner Botschaft werden herausgestellt. Regelmäßig wird von der Schilderung der Endereignisse weg auf die Situation der Jesusgläubigen geblendet (7,1–17;14,1–5;15,2–4): Im Kreuzfeuer des Kampfgeschehens, mitten im Chaos einer untergehenden Welt haben sie schon Anteil an der Erlösung, nehmen den Sieg Gottes in ihrem Lob vorweg und halten treu am Glauben fest. Hier zeigt Johannes seinen Adressaten in den sieben Gemeinden Identifikationsfiguren: So sollen sie sich verstehen und so sollen sie sich verhalten.
Die Offenbarung des Johannes ist wirkungsgeschichtlich eminent einflussreich gewesen. Sie versorgt unsere Kultur bis heute mit ihren eindrücklichen Bildern. Bis heute kommt kein Katastrophenfilm ohne die Offenbarung als Inspirationsquelle aus. Ihre Akteure, die vier apokalyptischen Reiter aus dem Siegel-Zyklus, die Sternenfrau und der Drache aus Kapitel 12, die Hure auf dem scharlachroten Tier aus Kapitel 17 und ihre Modelle, »das tausendjährige Reich« des Messias aus Kapitel 20 und das »himmlische Jerusalem« aus Kapitel 21 haben im Lauf der Jahrhunderte unzählige Menschen inspiriert und manchmal auch verführt. Das letzte Buch der Bibel ist vielfach gelesen, gedeutet, missverstanden und missbraucht worden. Generationen von Menschen in der Vormoderne hatten vor seinen Bildern abgrundtiefe Angst. Seine Faszination hat es dennoch nicht eingebüßt. Sein Anliegen, sich als Mitglied der Gemeinde Jesu von der Mehrheitsgesellschaft klar abzugrenzen, keine Kompromisse zu schließen und Integration zu verweigern, ist für uns heutige Leser und Leserinnen eine beträchtliche Herausforderung. Es sind fast nur Menschen mit einem fundamentalistischen religiösen Stil, die sich in die apokalyptische Weltsicht des Johannes hineinziehen lassen und ihr Lebensgefühl damit legitimieren. Viele von uns hingegen können die Wirklichkeitsdeutung, die Johannes vorträgt, nicht mittragen. Das muss nicht ausschließen, dass es wichtig sein könnte, sich seiner Anfrage zu stellen und darüber nachzudenken, wie gut unser Lebensstil mit unserem Glauben zusammenpasst und wie offensiv wir dazu bereit sind, unsere Überzeugungen in unsere zunehmend säkulare und plurale, aber freie Gesellschaft einzubringen.