Zusammenfassung / Summary
Die Begegnung Abrahams mit Melchisedek (Genesis 14,18-20) wirft einige exegetische Fragen auf, z. B. das plötzliche Auftauchen und Verschwinden Melchisedeks. Historisch-kritische Gelehrte vermuten, dass die Episode mit Melchisedek nur lose mit Genesis 14 verbunden ist, da sie den Dialog zwischen Abraham und dem König von Sodom unterbricht. Wissenschaftler aus der synchronen Perspektive argumentieren dagegen, dass die Melchisedek-Episode zwar den Erzählfluss der Melchisedek-Episode unterbricht, aber ein sorgfältig ausgearbeitetes literarisches Konstrukt ist, das in seinen literarischen Kontext eingebettet ist. Die Vorschläge der diachronen und synchronen Gelehrten tragen zwar zu unserem Verständnis der Melchisedek-Episode bei, lassen aber einige kritische Fragen außer Acht: Warum wählte der Text Salem, das in verschiedenen historischen Kontexten vielfältige Verzweigungen hat? Warum hat der Autor die Melchisedek-Episode an dieser Stelle eingefügt und nicht an einer anderen?
Um diese Fragen zu beantworten, wird in diesem Artikel ein intertextuelles Gespräch zwischen den textlichen Hinweisen in Genesis 14,18-20 und den möglichen kompositorischen Kontexten der Melchisedek-Episode geknüpft. Eine solche intertextuelle Analyse, so schlage ich vor, zeigt, dass die Melchisedek-Episode möglicherweise in der späten persischen und frühen hellenistischen Periode hinzugefügt wurde, um eine panjahwistische Gemeinschaft der judäischen Jahwisten und der samaritanischen Jahwisten inmitten der rivalisierenden jahwistischen Tempel in Jerusalem und auf dem Berg Gerizim zu entwickeln. Ein solcher Vorschlag ergänzt die bisherige Forschung und hofft, alternative Einsichten in die Melchisedek-Episode vom Rande der Gemeinschaft des Zweiten Tempels aus zu bieten.