Es ist tatsächlich der goldene Oktober, der mich aus Elblag herausführt und den ganzen Tag bis Tolkmicko (Tolkemit) am Frischen Haff begleitet. Der warme Pullover ist wieder in den unteren Regionen des Rucksacks verstaut. Das Wanderhemd genügt vollkommen, und bei den Elbinger Höhen - es geht vom Meeresspiegelniveau auf etwa 200 Meter - bin ich gar versucht, es mit dem T-Shirt gut sein zu lassen. Die Sonne zeigt sich herbstlich-heiter. Das Farbenspiel der Bäume in den fortwährenden, dichten Alleen entzückt.
Elblag scheint sich, wie so viele polnische Städte, immer mehr in die Länge zu ziehen. Wo früher Felder oder Weiden waren, sind neue Siedlungen entstanden. Und viele Häuser machen nicht gerade einen bescheidenen Eindruck. Großzügige Architektenhäuser eher, mit Zufahrt und Vorgarten.
Zwei Orte weiter, in Lecze, bekomme ich im Lebensmittelladen wieder die „Euro“-Geschichte zu hören. Manche ihrer Bekannten, erzählt die Verkäuferin, seien schon seit fünfzehn Jahren bei demselben Bauern oder Winzer beschäftigt. Auch wenn dies nur saisonweise geschieht, so reiche das Geld für den Anfang. Und wenn jemand regelmäßig „im Westen“ arbeite, sei das auch für die Bank ein gutes Argument.
In Lecze dann auch der erste freie Blick zum Frischen Haff, nun, in die Richtung zumindest, denn der - auch von Maklern - vielgepriesene Blick über das Wasser ist für mich nicht erreichbar. Wenige Kilometer weiter aber, in Kadyny (Cadinen), folge ich dem Hinweisschild zum Strand „Silberne Riviera“ und schaue nach zehn Minuten tatsächlich auf die Ostsee, die strenggenommen so nicht bezeichnet werden kann. Denn eine Nehrung, eine Landzunge einige Kilometer weiter, trennt das Haff, das Brackwasser, von der „richtigen“ Ostsee.
Doch für mich macht das jetzt keinen Unterschied. Ich stehe auf einem Sandstrand, blicke aufs Meer, auf eine weite Fläche, die glitzert und diversen Arten von Wasservögeln genug Platz zum Leben bietet. Ich bin fasziniert und froh und schaue nur, denn was soll man angesichts von solchen Naturräumen schon sagen? Dass sie großartig sind und schön, und auch erschreckend?
Auf dem fast leeren Strand allerdings wird das Stück „Ende der Saison“ gegeben. Ein Mann liegt unter einem Eiscreme-Wagen und macht ihn, wohl nach etlichen Strandmonaten, wieder fahrtüchtig für die Heimreise; zwei Männer sichern eine Strandbar gegen die Unbilden der windigen und kalten Monate. In der Ferne schieben einige Unentwegte ihre Fahrräder.
Ich durchquere Kadyny, dessen „Gut Cadinen“ auch Kaiser Wilhelm II. als Sommerresidenz diente und das bis heute an die von dem Kaiser initiierte Pferdezucht (Trakehner) anknüpft. Ich laufe noch einige Kilometer weiter nach Tolkmicko (Tolkemit). Dort habe ich keine Schwierigkeit, eine Übernachtung zu finden, denn der kleine Fischerort am Haff ist auf bedeutend mehr Touristen eingestellt, als auf die wenigen, die im Oktober noch hierher finden.
Am Rande:
„Die Generationen, die uns vorausgegangen sind“, zitiert die „Gazeta Wyborcza“ den frisch gekürten Gewinner des Literaturnobelpreises Patrick Modiano, „waren bereit, Kathedralen zu bauen. Ich denke hier z. B. an Proust. Alles ging langsamer vonstatten. Meine Generation ist zum Fragmentarischen verurteilt.“ Ein inspirierendes Wort. Wann sind wir bereit und fähig, Kathedralen - solche im wörtlichen und solche im metaphorischen Sinne - zu bauen, deren Vollendung erst die nachfolgenden Generationen erleben werden? Was treibt uns dazu, alles selbst anzufangen und zu beenden?
Zum Europameisterschafts-Qualifikationsspiel im Fußball zwischen Polen und Deutschland erstellte die Zeitung eine achtseitige Beilage. „Es geht nicht nur um Geschichte“, „Wie die Deutschen besiegen", „Deutschland. Die Geschichte einer Hegemonie“, „Lasst uns gegen die Deutschen verlieren“, „Deutschland wie eine Naturkatastrophe". Schlagzeilen als Stoff für Satire und Psychoanalyse.