Zu den Vorteilen des Gehens zählt die Möglichkeit, sich dem Ziel langsam und Ausschau haltend zu nähern. Wer nach Quedlinburg möchte, kann selbstverständlich mit dem Auto vorfahren und vom Großparkplatz aus den Zauber der Altstadt, die romanische Würde der Stiftskirche St. Servatii und ihrer Krypta, den Glanz des Domschatzes entdecken. Er kann aber auch der Stadt entgegengehen. Am Sonntagmorgen waren es nur wenige Wanderstunden, die über Thale und das gerade erst zu sich kommende Neinstedt, später auch entlang der bizarren Felsformationen bei Weddersleben, zum Ziel führten.
Und immer wieder auch die fruchtigen Überraschungen des August: die schwarzen, süßen Früchte der Brombeerhecken am Wegesrand, die übervollen Zwetschgenbäume. Nein, nicht alles ist romantisch: Die Brombeerhecken haben gestochen, die Zwetschgen waren zum nicht geringen Teil verwurmt. „Bio“ und wild noch dazu hat seine Tücken. Gleichwohl war es nicht einfach, vom Fleck zu kommen. Die blauen Fingerkuppen - ein Kindheitsmuster.
Gut drei Kilometer von Quedlinburg entfernt dann der erste Blick auf die wunderbaren, gleichmäßigen Türme der Stiftskirche, des „Doms“. Halbe Stunde noch, dann bin ich in der Stadt, vor dem großzügigen gotischen Rathaus, vor dem Geburtshaus Klopstocks, inmitten der alten und doch frisch renovierten Häuser. Der Schönheit fast zuviel.
Solche langsamen Annäherungen an eine reichhaltige und - am Sonntag zumindest - quirlige Stadt wie Quedlinburg weiß ich zu schätzen. Sie besitzen ein Maß, das uns Menschen zustehen sollte. Schnelligkeit und Seele, das passt nur selten zusammen. Auf seine klare, pointierte Weise drückte das Johann Gottfried Seume vor rund 200 Jahren aus: „Wo alles zu viel fährt, geht alles sehr schlecht: man sehe sich nur um. So wie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Man kann niemand mehr fest und rein ins Angesicht sehen, wie man soll: man tut notwendig zu viel oder zu wenig. Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft.“ (Aus: „Mein Sommer 1805“)