Anders als Quedlinburg, das von Anfang an bezaubert, braucht das nur wenige Kilometer entfernte, merklich größere Halberstadt einen zweiten Blick. Kein Wunder, der Dom - Halberstadt war bis 1648 ein Bistum -, die vielen Kirchen, manch interessantes Gebäude können nicht vergessen machen, dass der allergrößte Teil der Altstadt im Bombenhagel der Alliierten unterging. Die sozialistischen Herrscher trauerten dann den restlichen Fachwerkhäusern auch nicht lange nach, bauten vielmehr ihre „Arbeiterschließfächer“. So versprüht die Stadt heute, vielfach saniert und eine geschichtliche Epoche weiter, einen eher rauhen Charme, der Altes und Neues zu verbinden sucht.
Eines der touristischen Hinweisschilder motiviert besonders und wirft seltsame Fragen auf: Wie langsam ist „As slow as possible“? Und was hat die Zahl „639“ damit zu tun?
Diesen Fragen widmet sich das Halberstädter Orgelprojekt, das auf eine Komposition von John Cage (1912-1992) zurückgeht. Der Ort ist kein Zufall, wurde doch in Halberstadt die erste Großorgel überhaupt, eine „Blockwerksorgel“, gebaut. Das war im Jahr 1361, im gewissen Sinne der Beginn der modernen Musik. Im Jahr 2000 sind von da an 639 Jahre vergangen, und so viele Jahre soll auch die Cage-Komposition ORGAN2 / ASLSP von nun an gespielt werden - ein Stück, das schon in läppischen 29 beziehungsweise 71 Minuten eingespielt wurde.
Welche Überlegungen auch immer dieses Projekt befeuerten, klar ist, das jeder Ton über Jahrzehnte hinweg klingt, dass auch der „Klangwechsel“ äußerst selten geschieht. Der letzte fand am 5. Oktober 2013 statt, und für fast sieben Jahre, bis zum 5. September 2020, bleibt der neue „Fünfton“ unverändert. Ist es eine der üblichen, originalitätssüchtigen Kunstinstallationen? Eine musikalisch-philososphische Provokation im Geiste von Cage, der stets „für die Vögel, gegen die Käfige“ war? Von ihm stammt auf alle Fälle die „fatale“ Anweisung, das Stück so langsam wie möglich zu spielen.
Als ich am Dienstagvormittag die romanische St. Burchardikirche betrete, an der über 600 Jahre lang Zisterzienserinnen wirkten, bin ich vor allem gepackt von der Nüchternheit und Kahlheit des Gemäuers, das eher notdürftig geflickt denn glanzvoll scheint. Ich brauche eine Weile, bis ich weitergehe, ins jetzige Zentrum, zu der schmalen Orgel, die wie das Stück erst nach und nach, „organisch“, entsteht. Kein Organist weit und breit, seine Aufgabe übernehmen kleine Steinsäckchen.
Es ist ein anhaltender Klang, keine wohlige Musik. Und ich denke an die Ordensschwestern, die ihre 600 Jahre schon vollbracht haben. Was wird im Jahre 2640 sein? Wird das Orgelwerk dann noch jemanden begeistern?
Die heutigen Besucher können einzelne Klangjahre „kaufen“, das Projekt so finanzieren helfen. Ihre Namen sind auf schwarzen Tafeln, nun ja, verewigt. Auf einer Tafel, die bereits das Jahr 2500 anvisiert, lese ich ein Zitat von Peter Handke: „Wolle nichts Neues mehr, du weißt doch, was du bis ans Ende zu tun hast: deine Heimat suchen.“
Ich marschiere weiter. Nicht weit von hier beginnt die Magdeburger Börde.