In Dassel stoße ich zum ersten Mal auf den Europaradweg R1, der an der französischen Kanalküste beginnt und - kaum zu glauben - im russischen St. Petersburg endet. Diesem Weg werde ich jetzt häufiger begegnen. Profitieren werde ich auf jeden Fall von der Infrastruktur. Es sind gut markierte Fahrradwege, die nicht selten abseits der großen Straßen verlaufen. Am Sonntag und auch am Montag kann ich nur ganz wenige bepackte Radler entdecken. In einem Café vor Einbeck - grüner Tee hat es mittlerweile geschafft, zu einem selbstverständlichen Teil des Angebots zu werden - erfahre ich, dass die Anzahl der Europa-Radler steigt. Viele Holländer und Briten seien unterwegs. Ihr großes Ziel: Berlin. Manche wollen aber auch bis nach Ungarn.
Egal wie weit man fährt oder geht - Europa ist, sieht man von Russland ab, zu einem Raum ohne hinderliche Grenzen geworden. Das ist nur scheinbar selbstverständlich und sollte gut behütet werden. Wer in Johann Gottfried Seumes „Spaziergang nach Syrakus“ von 1802 hineinliest, merkt sogleich, wie beschwerlich das Überschreiten der Grenzen in Zeiten der Kleinstaaterei war, wie selbstherrlich sich kleine und große Provinzfürsten gebärdeten, wie sehr der Reisende von der Laune subalterner Beamten abhängig war. So gesehen symbolisiert R1 einen riesigen Fortschritt, mag man auch mit Hans Magnus Enzensberger noch so oft „Ach Europa!“ seufzen. In der Tat wird sich erst in einer Krise erweisen, ob „Offenheit“ ein tragender Wert sein kann, ob Europa noch ein anderes Standbein, eine Seele hat. Zunächst aber dürfen wir den Gewinn festhalten.
In den Kirchen wird auf das Jubiläum des hiesigen Bistums, Hildesheim, verwiesen, das sein 1200-jähriges Jubiläum feiern darf. „Ein heiliges Experiment“, so das durchaus kecke Jubiläumsmotto. Es geht um das Erinnern, Feiern, Aufbrechen. Darf man das auch von Europa sagen, das manchmal wie eine Insel der Seligen scheint und das gerade deshalb mit dem, nun ja, heiligen „Experimentieren“ nicht aufhören darf?
Unterwegs: Die Weizenernte steht an. „Sind Sie zufrieden?“, frage ich den Bauern, der gerade das Korn prüft. „Menge gut, Preis schlecht“, antwortet er knapp. Doch dann erzählt er von dem häufigen Regen in diesem Sommer („eigentlich bräuchten wir jetzt noch zwei trockene Tage“), von dem mäßigen Proteinwert und der „Fallzahl“, von den Weltmarktpreisen und den andauernden Unwägbarkeiten des Bauerndaseins. „Andererseits: Bin gerne Bauer. Wenn ich jeden Morgen in die Fabrik müsste, Deckel herstellen oder so was, dann wäre ich schon vor der Schicht müde.“