Das Hotel

Es hängt davon ab wo man wohnt. Das antworten die Menschen in Polen auf die Frage, wie sie die Gegenwart ihres Landes wahrnehmen. CIG-Autor Christian Heidrich hat auf seinem Weg von Köln nach Königsberg hat im "Gromada"-Hotel in Pila ein Zimmer im obersten Stock bezogen.

Das Hotel
© Christian Heidrich

Der Weg von Trzcianka (Schönlanke) nach Pila (Schneidemühl) bietet nicht viel Abwechslung. Es ist aber eine vergleichsweise ruhige, verkehrsarme Strecke, was ich nach manchen Erfahrungen mit der R1-Fahrradtrasse zu schätzen weiß. In den Dörfern, vor allem in der Nähe einer Stadt, einmal mehr die Zweiteilung: Der Dorfkern hält sich eher mühsam und traditionell aufrecht, die Peripherie blüht auf. Hier bauen die Wohlhabenden, die "aus der Stadt", ihre Häuser. Es sind schmucke, gepflegte Anwesen, nicht selten könnten sie als Villen durchgehen. Vor der Garage stehen häufig zwei Autos. Vielleicht ist hier die schlichte Erklärung zu suchen für die so unterschiedlichen Meinungen zu Polens Gegenwart: Es hängt davon ab, wo man wohnt. Ob man teilhat an den vermeintlichen und tatsächlichen Segnungen des Kapitalismus, oder ob man sich mit Billigjobs begnügen muss.

Ein eher bizarres Bild bietet das ehemalige Herrenhaus von Kotun, an die fünf Kilometer von Pila entfernt. Soweit ich das "vom Zaun aus" sehen kann, ist es restauriert und macht einen großzügigen Eindruck. Nicht so die dazugehörenden Verwaltungsgebäude und Stallungen, die erbärmlich wirken. Ich frage eine Dorfbewohnerin. "Niemand weiß wirklich Bescheid", antwortet sie. "Das Schlösschen gehört wohl einem Investor, aber wirkliches Leben gibt es dort nicht."

In Pila, einer Stadt mit 75.000 Einwohnern, erblicke ich das "Gromada"-Hotel schon von Weitem, ein Turm mit zwölf Stockwerken. "180 Zloty die Zimmer mit 3 Sternen, 100 Zloty mit 2 Sternen", erklärt die Rezeptionistin. Ich entscheide mich für die zweite Option. Als ich ein Zimmer "ganz oben" bekomme, fühle ich mich zunächst wie am "schlechten Russentisch" in Thomas Manns "Zauberberg". Doch das ändert sich sogleich, denn das Zimmer ist sympathisch, bietet einen atemberaubenden Blick über die Insel am Fluss Gwda (Küddow) und über die Vorstadt. Zudem ist das Wi-Fi sehr schnell und zuverlässig.

Im Zimmer 1205 gibt es eine weitere Überraschung. An der Wand die Reproduktion einer säbelgeprägten Schlacht. Als ich das Bild in die Hand nehme, um den Namen des Malers zu erfahren - Henryk Pillatti (1832-1894), ein Historienmaler -, sehe ich auf dem inneren Rahmen mit schwarzem Filzstift mehrere deutsche Namen aufgeschrieben, dazu Hinweise, dass sie "in Schneidemühl, jetzt Pila" geboren wurden, die späteren Wohnorte in Deutschland. Waren es "Heimwehtouristen", die sich hier eingeschrieben haben? Die Stadt hat, wie so viele, die ich durchwandere, das Magdeburger Stadtrecht - und eine komplexe, deutsch-polnische Geschichte.

Und dann der Aufzug, deren drei: zwei lautlose, klimatisierte Hight-Tech-Gebilde, einer, der noch in einem sozialistischen Warschauer "Kombinat" angefertigt wurde. Er ist eng, knarrt gehörig - und ist genauso schnell "oben" wie seine modernen Kumpane.

Ein Hotel, das manche Geschichten zu erzählen wüsste. Auf das Frühstück in dem riesigen Saal "unten" bin ich gespannt.

Am Rande:
Was sich nie ändert: Jungen und Mädchen, die sich vor und nach der Schule herumdrücken, die so cool wie unsicher eine Zigarette rauchen. Nur in der Gemeinschaft macht es wirklich Spaß. Ein Initiationsritus, bei dem es dann hoffentlich bleibt.
"Psychologiczne badania kierowców. Expresowo" - lese ich am Eingang von Pila. "Psychologische Untersuchungen der Autofahrer. Superschnell." Nennt man so etwas in der Psychologie nicht einen performativen Widerspruch? Und: "Polska samba" - "Ein polnischer Sambatanz". So tituliert eine Sportzeitung. Der Sieg über den Volleyball-Riesen aus Brasilien bei der Weltmeisterschaft im eigenen Land ist in Polen ein Ereignis.

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