Es regnete ein wenig, als ich über die Glienicker Brücke von Potsdam nach Berlin gelangte. Das Wasser spiegelte sich auf dem Asphalt. Es war dunstig und unbestritten spätsommerlich. Das verlieh der Brücke ein wenig von der Atmosphäre, die zu ihrem Ruf als „Agentenbrücke“ passte. Zwischen 1962 und 1986, in der Ära des Kalten Krieges, gab es hier drei Mal einen Agentenaustausch, wobei der berühmteste Fall keinen Agenten, vielmehr einen politischen Gefangenen betraf. Anatoli Schtscharanski war ein russischer Dissident, und sein Begehren, ein freier Mensch zu sein und die Sowjetunion zu verlassen, bescherte ihm 1978 eine Verurteilung zu dreizehn Jahren Zwangsarbeit. 1986 durfte er dann über die Brücke in den Westen. Auf einer Erinnerungstafel wird dies durch ein Foto dokumentiert.
Über Schtscharanskis späteres politisches Wirken in Israel kann man geteilter Meinung sein. Sein Konzept der „Marktplatzprobe“ aber ist verblüffend. Ist es einem Bürger möglich, das Zentrum des Marktplatzes zu betreten und seine Meinung zu äußern, ohne befürchten zu müssen, verhaftet oder sonstwie durch die Regierungsorgane schikaniert zu werden, dann lebt er in einer freien Gesellschaft - andernfalls in einer „Gesellschaft der Angst“.
Von hier aus betrachtet, sind die Berliner selbstverständlich Teil einer freien, bunten Gesellschaft, einer Gesellschaft ohne Angst. Die Gefährdung und die Herausforderung mag heute woanders liegen. So in der hemmungslosen, vorgeblich „alternativlosen“ Kommerzialisierung des Lebens. Ein Warenfetischismus herrscht vor, der - pars pro toto - Bauarbeiter aus vielerlei Ländern am Sonntag um zwölf Uhr mittags arbeiten lässt, um das „Große Reopening“ einer bekannten Modekette am 4. September 2020 zu gewährleisten. Auf deren Hosen und T-Shirts wartet bekanntlich die ganze Welt. Auch das „Bogota“-Hotel in der Schlüterstraße, ein legendäres, preiswertes Haus, nicht nur bei Künstlern beliebt, ist seit einigen Monaten geschlossen. Die Hotelunterkunft mit den knarrenden Dielen wird nun in ein Ensemble von Büroräumen und Luxusläden verwandelt. „Ein denkbar normaler Fall“, sagt der Investor.
Wie könnte die postmoderne, urbane Fassung der „Marktplatzprobe“ lauten? Frei ist, wer dem Jahrmarkt des Dauerkonsums widersteht, der sich nicht am „Sonntags-Shopping“ erfreut? Wurzelhafter noch: Frei ist, wer nicht gezwungen ist, sich selbst auszubeuten? Die neue „Marktplatzprobe“ sucht noch eine Glienicker Brücke.
Am Rande:
Im Deutschen Historischen Museum, in dessen Räumlichkeiten ich mir die „Targets-Fotografien“ von Herlinde Koelbl ansehe, ist der Eintritt kostenlos. Das heutige Datum, der 1. September, macht es möglich. Es fällt schwer vom „Grund“ zu sprechen, gar vom „Jubiläum“, an dessen 75. Wiederkehr erinnert wurde. Zu verbuchen wohl unter gutgemeinter „Volkspädagogik“. Koelbls Ausstellung zeigt die unterschiedlichen „Schießziele“, an denen Soldaten weltweit ausgebildet werden. Pappkameraden sind es schon lange nicht mehr. Nicht selten werden ganze Stadtviertel nachgebildet, „designed“, um den Soldaten das Gefühl der Authentizität zu geben. In der französischen Trainingsstadt Sissonne tragen die Straßen auch deutsche Namen wie „Berliner Straße“ oder „Universitätsstraße“.