Ein nordkoreanischer Moment

Ein kitschiges Soldatendenkmal in Nebrowo Wielkie löst mit seiner ästhetischen Unbeholfenheit bei CIG-Autor Christian Heidrich einen „nordkoreanischen Augenblick“ aus.

Ein nordkoreanischer Moment
© Christian Heidrich

Der Tag begann mit einer Busfahrt vor die Stadt Grudziadz und endete mit einer Fahrt in einem Betonmischer-Lkw in die Stadt Kwidzyn (Marienwerder). Dazwischen eine lange Wanderung am Damm der Weichsel, ein nordkoreanischer Moment, ein Malheur und viele schöne Dörfer.

Bei Wielki Welcz komme ich der Weichsel wieder näher und wechsle von da an ständig zwischen dem hohen Damm und den kleinen Dörfern, die durch die vereinzelten Gehöfte wohl noch immer den Charakter der alten Mennonitensiedlungen bewahren. Viel Gemüse wird hier angebaut, aber auch Tabak, der in Scheunen zum Trocknen aushängt. Vor Nebrowo Wielkie mache ich eine Mittagsrast an einem großen Badesee, der freilich an diesem Tag nur einen einsamen Schwan zum Schwimmen animieren konnte. Und dann, im Ort selbst, ein für europäisch-polnische Verhältnisse dann doch frappierend kitschiges Soldatendenkmal. Der Sockel dürfte noch aus „deutschen Zeiten“ stammen. Das Denkmal selbst wurde 1947 geschaffen und eingeweiht. Vielleicht war es in diesen Zeiten ein Standardmodell des sozialistischen Realismus, vielleicht versuchten sich seitdem allzu viele Künstler an „Verbesserungen“. Ich aber staune ob der ästhetischen Unbeholfenheit, erlebe meinen ersten nordkoreanischen Augenblick.

Das Dorf aber hat mehr zu bieten, eine schmucke Kirche zum Beispiel, die - selten genug - auch offen ist. Der junge Pfarrer ist vor Ort, und wir wechseln einige Sätze. „Es kommt immer auf die Menschen an“, sagt er so schlicht wie entschieden. „Wenn die Menschen nur auf den beruflichen Erfolg setzen und nicht mehr zur Besinnung kommen, hat es das Gemeindeleben schwer. Wenn sie merken, dass es Größeres gibt, dann gibt es für den Seelsorger Arbeit genug. Stadt oder Land, Polen oder Deutschland, das ist nicht entscheidend.“

In Kaniczki gehe ich an einem kleinen, „deutschen“ Friedhof vorbei, der sich aber in einem desolaten Zustand befindet. Ein einziges Grab mit einem Gedenkkreuz ist wirklich gepflegt. Der Rest sind Bruchstücke, Abbrüche. Auch hier kommt es wohl „auf die Menschen an“.

Und dann, am Ende des Wandertages, ein merkwürdiges Malheur. Gestern Abend habe ich in Grabowo, in einer „agrartouristischen“ Unterkunft, ein Zimmer gebucht. Nun, die freundliche Besitzerin des „Zielony Ogród“ („Grüner Garten“) weiß nichts von meinem Anruf. Und die drei Zimmer hat sie leider mit Monteuren belegt. Mit wem aber habe ich gestern Abend gesprochen? Wir finden heraus, dass in meiner sonst so zuverlässigen Broschüre zum Radweg R1 die Adresse korrekt angegeben ist, nicht aber die Telefonnummer. Gebucht habe ich - am anderen Ende Polens.

Neun Kilometer sind es noch bis Kwidzyn, nicht sehr viel. Aber es dämmert schon (das beginnt in dieser Gegend zur Zeit ab 17.30 Uhr!), und viel Freude wird die Extratour nicht bereiten. Doch ich muss nur die ersten drei Kilometer laufen. An einer Baustellenausfahrt frage ich wagemutig einen Lkw-Fahrer. Er öffnet mir, ohne zu zögern, die Tür. Ob ich wohl eine Bußwallfahrt unternehmen würde, fragt er mich. „Wer hätte es nicht nötig!“, antworte ich. Wir unterhalten uns über den Zustand der polnischen Straßen. Und ich freue mich, dass der Mann am Steuer vom fortwährenden Fortschritt spricht. „Aber in die Politik“, so sagt er, „sollten nur die Menschen gehen, die ihr Geld schon verdient haben.“ War das nicht ein antikes Ideal?

Ich werde ins Zentrum der Stadt gefahren, wenige hundert Meter vor ein Hotel. Erst als ich dem Lkw nachschaue, sehe ich, dass es ein Betonmischer war.

Ein interessanter Tag.

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