Um 5 Uhr morgens werde ich zum ersten Mal geweckt. Ein angenehmes Rattern, das sich dann in regelmäßigen Abständen wiederholt. Es ist der "Tramwaj", die Straßenbahn von Grudziadz (Graudenz), die mit der Nummer "3" bezeichnet ist. Dabei gibt es in dieser Stadt mit rund 100 000 Einwohnern nur eine einzige Straßenbahnlinie. Vom Bahnhof bis in das Hochhausviertel Rzadz verkehrt sie im schnellen Takt, die Fahrt dauert gut zwanzig Minuten.
Nach dem Frühstück fahre ich die Strecke hin und zurück und merke sogleich, dass diese Industriestadt an der Weichsel wenig Chancen hätte für den Titel "Stadt der Verliebten" (vgl. Eintrag vom 25. September). Zu grau ist ihre Erscheinung, so viel Farbe auch in den letzten Jahrzehnten verbraucht wurde, zu durchschnittlich sind ihre Einkaufsstraßen, zu ungepflegt, ja chaotisch, kommt mir das Gebiet rund um den Bahnhof vor.
Und dann sind es einmal mehr der Fluss und die Altstadt, die die Perspektive gehörig umbiegen. Der Blick von der Weichselbrücke zeigt einen mächtigen Strom, der Weg entlang der Weichsel beruhigt und inspiriert. "Fast wie am Meer", sagt ein Vorübergehender zu seinen Begleitern, und jeder versteht, was er meint. Von der Weichsel steige ich entlang der Speichergebäude hoch zur Altstadt, betrete sie durch das prächtige, mehrfach zerstörte und wiederaufgebaute "Wassertor". Hier stehen Kirchen, Bürgerhäuser und ein "Palais der Äbtissinnen" auf kleinstem Raum zusammen. In der Stadtkirche St. Nikolaus sind die Bänke mit Blumen geschmückt, eine Trauung steht an. Und dann, etwas abseits, die schlichte, neogotische St. Johanneskirche. Keine katholische Kirche, wie in Polen üblich, vielmehr der evangelisch-augsburgischen Konfession zugehörig. Jeden Sonntag um 10 Uhr ist ein Gottesdienst, jeden letzten Sonntag im Monat "mit Beichte und Kommunion".
Grudziadz verdient einen zweiten Blick. Eine Aschenputtelstadt, die mit magischen Momenten nicht geizt.
Am Rande:
"Krieg der Kardinäle", so titelt die "Gazeta Wyborcza" einen Artikel in der Wochenendausgabe, und meint damit die heftigen Differenzen in der katholischen Hierarchie hinsichtlich des Umgangs mit Menschen, deren Ehe gescheitert ist. Diesen Artikel hat die Zeitung einem Redakteur der angesehenen theologischen Zeitschrift "Wiez" anvertraut. Keine Spur also vom antikirchlichen Affekt, der ihr so gerne unterstellt wird.
Erbärmlich und erbarmungswürdig der Mann mit den Plastiktüten und der winterlich wattierten Jacke auf einer Bank entlang der Weichsel. Sein Leben vom Alkohol ruiniert. Wenige Minuten später gehe ich an "Borys Monopolowy" vorbei, einem auf Alkoholika spezialisierten Laden, der weit sichtbar kundtut, dass er "von 9.00 bis 23.00 Uhr" offen hat. Selbstverständlich auch an Sonntagen.