In der Frühe ist es bewölkt und diesig, ein paar Regentropfen fallen auch. Eine passende meteorologische Kulisse für einen Aufenthalt in Kwidzyn (Marienwerder). Denn ich bin jetzt tief im ehemaligen Gebiet des "geheimnisvollen" Deutschen Ordens mit seinen vielen Burgen und Kirchen der "Backsteingotik". Vielleicht könnte man Kwidzyn als die kleine Schwester des nur 40 Kilometer entfernten Riesen Malbork (Marienburg) sehen. Auch in Kwidzyn hat der Deutsche Orden mit der "Bischofsburg" und der Domkirche grandiose Spuren gelegt.
Wo aber in Polen vom Deutschen Orden die Rede ist, da ist nicht primär ein Kulturträger gemeint, da stellt sich etwas Düsteres ein (Eintrag vom 25. September). Die "Krzyzacy", "Kreuzritter", sind hier eine mythologische Größe, was freilich weniger auf solide Kenntnisse denn auf nationalistische Propaganda - auch noch in den sozialistischen Jahrzehnten - zurückzuführen ist. Der Orden, der in der Tat die Pruzzen, die baltischen Stämme, im 13. Jahrhundert mit Gewalt niederrang und zu Christen machte, der Religion und Politik ineinssetzte, war nicht besser und nicht schlechter als vergleichbare Gemeinschaften seiner Zeit. Doch jede Nation, vor allem eine, die stets zwischen zwei mächtigen Nachbarn eingezwängt war, lebt auch von ihren Mythen.
Marienwerder war ab 1243 bis zur Reformation Sitz des Domkapitels von Pomesanien, eines Bistums "östlich von Weichsel und Nogat", und das bewirkte den Bau der Kirchen- und Burganlage. Von der Bischofsburg sind nur noch zwei Flügel und zwei Türme übriggeblieben, doch die sind eindrücklich genug. In den langgezogenen Räumlichkeiten, durch die ich von den Aufsehern stets "weitergereicht" werde, wird allerlei Historisches, aber auch etwas willkürlich Naturkundliches vorgeführt. Und auch der Versuch, die drei Hochmeister des Ordens, die in Krypta der Kirche bestattet sind, in ihren Gräbern "authentisch" aussehen zu lassen, erscheint eher kitschig denn wirklich interessant.
Weniger ist manchmal mehr. Die Wucht des Gebäudes, die Schönheit des Gotteshauses, die verwickelte Geschichte des Ordens und seiner Beziehungen zur polnischen Nation benötigen keine Prothesen.
Am Rande:
Im Abendgottesdienst der Kwidzyner Domkirche legt der Priester die Hiob-Lesung aus. Unser Leiden habe auch etwas mit unserer Wahrnehmung, mit unserer Empfindsamkeit zu tun. "Lernen wir, unseren ganz eigenen Hiob anzunehmen."
Bei seiner Ansprache fällt mir ein Satz ein, auf den ich vor wenigen Tagen beim Blättern in einer Buchhandlung stieß: "Man will mit dem Anderen nur so lange tauschen, bis man seine ganze Geschichte kennt."
Im Zusammenhang des polnischen "Kreuzritter"-Mythos: Der Kommentator der "Gazeta Wyborcza" sorgt sich um die Stärke der deutschen Armee. Sie erscheint ihm "abgemagert", nicht gut genug gerüstet für vermutlich anstehende Konflikte. Ob es "diese" Sorge schon einmal gab? Man könnte glatt vom Fortschritt sprechen.