In Danzig

"Wunderschön, und doch ist alles auch ein bisschen Karneval" - so wirkt Danzig die Stadt der Literatur und der Werft, die mit ihrer Solidarnosc-Bewegung Weltgeschichte schrieb, auf CIG-Autor Christian Heidrich.

In Danzig
© Christian Heidrich

Ob es auch an dem langen 3. Oktober-Wochenende liegt? Die Stadt ist voller Touristen, und die große Mehrheit scheint aus Deutschland zu kommen. Auch Günter Grass ist in der Stadt, die "Grassomania", das sechste Festival, dem Werk des in einem Danziger Vorort geborenen Nobelpreisträger gewidmet, findet an diesem Wochenende statt.

Es ist nicht einfach, in den Prachtstraßen der Altstadt das Füllhorn der schönen Häuser, Kirchen, Tore und Denkmäler zu erfassen. Nicht einfach ist es auch, stets heiter zu bleiben angesichts der heranprasselnden Angebote zum Kauf von Bernstein, zur Einkehr in "traditionelle polnische Restaurants", zu Fotos mit einäugigen Piraten und ihren Papageien.

Wunderschön ist die Altstadt, und doch ist alles auch ein bisschen Karneval.

Ich steige die vielen Treppen zum Aussichtsturm der Marienkirche hoch, die spanisch sprechenden Jugendlichen vor mir geraten schnell außer Atem, und werde mit einem sonnendurchtränkten Überblick belohnt. Die ganze Altstadt und die neuen Agglomerationen, der Bahnhof, die Danziger Werften mit ihren noch aktiven oder vielleicht auch vor sich hin rostenden Kränen, die vielen Arme der Weichsel, die Westerplatte, die Danziger Bucht.

Es ist eine Stadt mit reichlich Geschichte und Meeresblick, eine Stadt, die für mich bisher eher eine literarische Größe war: die "Blechtrommel" natürlich, schon in der Schule, im "Leistungskurs Deutsch", suchten wir Fabel, Historie und Symbole zu durchdringen, schauten uns auch Volker Schlöndorffs meisterhafte Verfilmung an. Später las ich noch Pawel Huelles "Weiser Dawidek" (1987) und "Hanemann" von Stefan Chwin (1995). Vielschichtige Danzig/Gdansk-Literatur, die auch das jüdische Erbe wahrnimmt, Literatur der Grenze.

Jetzt also die Stadt selbst, ein paar Facetten zumindest.

Wenige Minuten von dem - chaotisch anmutenden, brutal kommerzialisierten - Hauptbahnhof entfernt, liegt die Werft, die Weltgeschichte schrieb. Hier öffneten Anna Walentynowicz, Lech Walesa und ihre Arbeitskollegen in den siebziger- und achtziger Jahren die Straße zur Freiheit. Der Kommunismus implodierte, der Rest ist bekannt.

Durch das berühmte Tor Nr. 2 betrete ich das Werftgelände, lasse das kürzlich eröffnete Luxusprojekt "European Solidarity Center" links liegen und gehe zu dem BHP-Saal, dem Ort der damaligen Verhandlungen, der berühmten Vertragsunterzeichnung zwischen den Arbeitern und der kommunistischen Regierung am 31. August 1980.

Die Fotos in der Galerie sind schwarz-weiß, und sie haben sich tief in die jüngste polnisch-europäische Geschichte eingegraben: die streikenden - und beichtenden - Werftarbeiter, der schlitzohrige Lech Walesa, die buchstäblich "leeren" Geschäfte der siebziger Jahre, die "Mutter der Solidarität" Anna Walentynowicz, die 21 Forderungen der Arbeiter, der Priester Jerzy Popieluszko…

Auch diese Geschichte hatte aber eine Fortsetzung und hat eine Gegenwart: "Was Moskau nicht mehr schaffte, wird Brüssel vollenden?", heißt es auf einem Demonstrationsbanner aus dem Jahre 2008. Und: Eine ukrainische Flagge vom Februar 2014, von Demonstranten des "Euromaidan" unterzeichnet, spricht davon, dass nicht einmal in Europa der Kampf um die Grundrechte vorüber ist.

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