Von Berlin-Köpenick laufe ich wieder weiter. Zwei Tage Großstadt genügen. Wie viele Tage werden es nach Küstrin/Kostrzyn sein, an die deutsch-polnische Grenze? Meine Planung ist auch hier eher episodisch.
Zunächst stehe ich am Rathaus von Köpenick vor dem verschmitzt blickenden, falschen Hauptmann. Eine Tafel kündet: „In diesem Rathaus beschlagnahmte am Nachmittag des 16. Oktober 1906 als ‚Hauptmann von Köpenick‘ der Schuhmacher Wilhelm Voigt (13.2.1849 - 3.1.1922) die Stadtkasse. Als Köpenickiade ging die Tat in die Geschichte ein.“
Voigt war eine tragische Figur, ein Handwerker und ein Krimineller zugleich, dem es die damaligen Aufenthaltsvorschriften fast unmöglich machten, in die bürgerliche Gesellschaft zurückzukehren. Seine „Karriere“ ist nicht zu verherrlichen, sein Coup jedoch gibt der zeitlosen Frage nach dem Wesen der Autorität eine groteske Pointe. Es stellt sich heraus, dass manchmal bereits eine Uniform aus dem Trödelladen und ein selbstbewusstes Auftreten genügen, um die Menschen „mitzunehmen“ - und die Stadtkasse dazu. Hehre soziologische und philosophische Gedankengänge werden an dieser Stelle desavouiert. Manchmal siegt tatsächlich die Kühnheit des kleinen Mannes, und das Kind beschämt die Erwachsenen, weil es sich zu sagen traut, dass der Kaiser gar keine Kleider anhat. Sind wir wirklich so viel weiter?
Als ich am Großen und Kleinen Müggelsee vorbeigehe, fällt mir auf, dass man hier, wie so häufig in Berlin, lange Stunden in der Nähe des Ufers wandern kann, ohne dass man von einem „Privatweg“-Schild verscheucht wird. Hängt das auch mit der „proletarischen Tradition“ der Stadt zusammen, die zwar mancherlei Schnoddrigkeiten, aber eben keine Hochnäsigkeit kennt? Noch immer kann man in der U-Bahn Arbeiter sehen, die in ihrer Arbeitskluft den Feierabend antreten. Ein Anblick, der in anderen europäischen Metropolen eher Seltenheitswert besitzt. Freilich, am Dämeritzsee, einen See weiter sozusagen, lassen sich prächtige Villen und große Anwesen bewundern. Manches Gebäude wirkt fast schon à la Hollywood, so wenn es eine Burg samt dem Bergfried imitieren möchte.
Wenige Kilometer hinter Erkner, in Grünheide am Peetzsee, finde ich ein ruhiges „Zimmer am See“.
Am Rande:
Als ich durch Friedrichshagen, einem entspannten Ort am Müggelsee, gehe, entdecke ich in der Ramsch-Ecke eines Buchladens mit dem schönen Namen „lese lieber“ eine gebundene Ausgabe des Großessays von Georges Steiner, dem französisch-amerikanischen Philologen: „Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe“ für 6,99 Euro. Spätestens jetzt sollte man zugreifen, möchte ich den Vorbeigehenden zurufen. Es ist ein funkelnder Versuch, die menschliche Größe wie das menschliche Elend zu erklären. An beiden hat unsere Fähigkeit zu denken einen gehörigen Anteil.
Ein paar Meter weiter die Abschiedsworte am Schaufenster eines Geschäftes, das schließen musste: „EUCH ALLEN DANKE FÜR EINE GUTE ZEIT. Hört Musik, fahrt mit dem Rad und liebt vor allem Eure Kinder. ‚NAMASTE‘“