Fünf Minuten, bevor der Schauspieler und sein musikalischer Begleiter die Bühne betreten, beginnt der alte, elegante Mann neben mir ein brummiges Lamento. „Schauen Sie sich doch mal das Publikum an, Brandauer wird doch hier erst gar nicht anfangen!“, raunt er mir zu, ohne wohl wirklich einen Gesprächspartner zu suchen. Ich bin natürlich überrascht und entgegne, dass ich mich über jeden freuen würde, der sich am Ende der Arbeitswoche auf den Weg zu einer literarischen Lesung macht. Der alte Mann grummelt weiter, hat jetzt etwas am Schauspieler selbst auszusetzen. „Andere Große in seinem Alter stemmen noch ganz andere Rollen als nur eine Vorzeige-Lesung“, sagt er. Auch hier hätte ich etwas einzuwenden, doch dann geht das Licht aus, der Scheinwerfer an, und Klaus Maria Brandauer steht auf der Bühne, ist präsent.
Ich sitze in der sogenannten Schinkel-Kirche, die zu dem Ensemble des Schlosses in Neuhardenberg dazugehört. Auf die Lesung bin ich einen Tag zuvor aufmerksam geworden. Es war eher der Roman als der namhafte Schauspieler, der mich letztlich motivierte. Herman Melvilles „Moby Dick“ (1851), der nicht selten immer noch für einen Jugendroman gehalten wird, ist eines der kühnsten, experimentierfreudigsten Stücke der Literaturgeschichte. Die Geschichte einer Obsession, die wie so viele Obsessionen nicht nur den Protagonisten, sondern die ganze „Mannschaft“ ins Unglück stürzt. Lediglich Ishmael, Matrose und Erzähler zugleich, überlebt, weil er nach dem Schiffsuntergang etwas Leichtes ergreift - einen Sarg, den der „Kannibale“ und Walfänger-Harpunier Queequeg einst während einer schwer Krankheit für sich zimmern ließ. Eine versponnene Geschichte in der Tat, die dem Leser ein Welttheater auf dem Deck eines Walfängers präsentiert. Raffiniert gewoben, komisch, lehrreich: „Lieber ein nüchterner Kannibale als ein betrunkener Christ.“
Brandauer, der das riesige Werk auf eine Lesezeit von gut einer Stunde kürzt, ist grandios, weil er die Stimme des Erzählers, die Komik des „edlen Wilden“ Queequeg, die beleidigte, depressive Brutalität des Kapitäns Ahab leichtfüßig präsentiert. Natürlich schreit und schnauft und pfeift er. Doch stellt er das in den Dienst des Romans. Seine Vortragskunst führt vorwärts und erreicht wie nebenbei das bittere und doch nicht ganz hoffnungslose Ende der Erzählung. Applaus, der an dieser Stelle den Schauspieler meint, das Bühnenereignis, nicht den großen Namen.
Auch mein Nachbar klatscht und verschwindet, ohne sich zu verabschieden. Ob er seine Vorurteile, die vielleicht dem Alterspessimismus geschuldet sind, ein wenig besänftigen konnte?
Am nächsten Morgen laufe ich nach Letschin. Unterwegs quere ich schon die Alte Oder. Es ist Samstag, es ist ruhig und auf den Feldwegen beinahe heiß. Die ersten Septembertage wollen noch dem Sommer angerechnet werden.
Am Rande:
Am Ortsausgang von Neuhardenberg, in der Karl-Marx-Allee, eine Tankstelle, die einen wichtigen Teil ihres Umsatzes mit Bockwürsten („Für mich ohne Brötchen, nur Fleisch!“, sagt, lächelnd, ein junger Mann) und einer kuriosen Auswahl an Alkoholika zu tätigen scheint. Weine aus Chile und Südafrika, aus Mazedonien und Rumänien. Auch die rheinhessische „Liebfraumilch“, einstmals gerne in den „Intershops“ der DDR angeboten, später eher berüchtigt, ist hier zu haben. Einen Sinn für Systematik entdecke ich in der Wodka-Ecke: Gorbatschow neben Jelzin, Moskovskaya neben einem Getränk namens Puschkin.
In Letschin, im „Landhaus Treptow“, genieße ich eine erstaunlich moderne, schmackhafte Küche. Als sich der Koch zu mir setzt, es ist noch früh am Abend und vor dem Ansturm („das Haus ist heute ausgebucht“), erfahre ich, dass er aus dem Ort stammt, freilich jahrelang in fremden Küchen, in Berlin und in der Schweiz, lernte und arbeitete. Jetzt investiert er am Ort, will sein Restaurant noch vergrößern. Schon mehrfach habe ich ähnliche Geschichten, gerade im Gastgewerbe, gehört. Die jungen Menschen gehen „nach draußen“, doch kehren sie mit guten Ideen zurück, wollen im Heimatort zeigen, was sie gelernt haben.