Ich hatte mir vorgenommen, unterwegs keine Bücher zu kaufen. In Danzig vielleicht, auf dem Rückweg. Oder eine schnelle, gesammelte Bestellung bei einem polnischen Versandhändler wieder zu Hause. Auch ohne „neue“ Bücher ist mein Rucksack gut gefüllt. Als ich in Grudziadz das neue Buch von Andrzej Stasiuk in den Händen halte, gerät dieser Vorsatz dann doch ins Wanken.
Stasiuk, Jahrgang 1960, ein unermüdlich Reisender und Vorlesender, gefragter Publizist, Romancier, Leiter eines Verlags, kann mich schon nach wenigen Zeilen in seinen Bann ziehen. Lese ich seine Reportagen, die stets mehr sind als Reiseberichte, blättere ich kaum vor, denn seine Gedanken entwerfen starke Bilder in meinem Kopf, lassen mich seine Erfahrungen mit meinen vergleichen. Literatur und Leben.
Sein neues Buch heißt „Wschód“, „Osten“ also. Und es scheint mir, dass es eine erste Summa des Autors ist, eine fortwährende Meditation über die Gründe, den Osten, den in der Nähe und den in der Ferne, vielleicht auch den imaginären, nicht zu vergessen.
Ja, gerade in Polen, so der Grundton des Werkes, will man vom „Osten“ nichts wissen. Die gut bezahlten Arbeitsplätze, die edlen Düfte und die sicheren Automobile, alles, was man sich wünscht und erträumt, ist „Westen“. Aus dem Osten kam nur der Kommunismus, kam die erzwungene Freundschaft. Im Osten - wie östlich auch immer - entstehen jetzt die billigen Textilien. Von dort kommen die noch billigeren Arbeitskräfte. Den Osten vergisst man lieber.
Stasiuk aber will nicht vergessen. Gerade, weil er den Westen kennt, von unzähligen Lesereisen zum Beispiel, hat er sein Interesse an ihm verloren. Und womöglich ist es die fehlende Metaphysik, die dafür verantwortlich ist. Stasiuk reist und sucht. Er spürt Verluste und Vergänglichkeiten und merkt, dass der Westen auf alle Zweifel mit den Segnungen des Massenkonsums antwortet. Diese Segnungen und Raffinessen haben mittlerweile die „letzten“ Winkel Europas erreicht, ihr Sog ist ein ungeheurer. Möchten wir das alle haben, diese universale Solidarität der Warenkonsumenten, der Geruchlosigkeit und der Verähnlichung? Und freuen wir uns wirklich, wenn wir mit vollem Einkaufswagen durch den Supermarkt rollen?
Stasiuk möchte anderswo suchen, möchte „im Osten“, dem Osten Polens, der Mongolei oder Kirgisiens, mehr über sich und unser Leben erfahren. Auch dort wird es kein Heil und wohl auch keine Heiligen geben, aber eine andere Weite und Perspektive, eine andere Erzählung von unseren Wurzeln.
Ich werde Stasiuks „Wschód“ langsam lesen, ihm zustimmen oder auch nicht. Ich werde nach Hinweisen für das richtige Leben im bleibend falschen suchen. Mag mein Gepäck jetzt auch ein paar Hundert Gramm mehr wiegen.
Am Rande:
Es sind kaum zehn Personen, die Frau des Pastors, den Küster und den Gast miteingerechnet, die sich an diesem Sonntagmorgen in der schlichten evangelischen Kirche in Grudziadz einfinden. Mit den gut und sehr gut gefüllten katholischen Gottesdiensten, auch in dieser Stadt, lässt sich hier kaum etwas vergleichen. Und doch wird das Wort Gottes verkündet und ausgelegt, wird die Kommunion - Brot und Wein - gereicht, werden Lieder gesungen.
Hier bewahren Menschen ihr religiöses Erbe, das ist kostbar. Ich aber gehe nach dem Gottesdienst an das Ufer der Weichsel und atme tief durch.