Volkskunde

Bäuerliche Lebensweise, Volleyball-Weltmeisterschaften in Polen und die polnischen Arbeiter in Deutschland, die sich womöglich in der Heimat ein Häuschen vom Lohn bauen - Stoff genug für Volkskundler, beobachtet CIG-Autor Christian Heidrich.

Volkskunde
© Christian Heidrich

Am Abend, ich las in meinem Pensionszimmer fasziniert die neue Ausgabe des „Tygodnik Powszechny“, konnte ich hören, wie polnische Fans mit ihrer Volleyballmannschaft mitfieberten. Und sie mussten zusammenrücken, denn das Spiel war „kodiert“, nur für die Kunden eines Bezahlsenders live zu erleben.

Bei dem Match ging es ums Ganze, um den Einzug in das Halbfinale der Weltmeisterschaft - und der Gegner war Russland. Eine nicht nur sportlich brisante Konstellation. Bei der russischen Hymne wurde gepfiffen. Ich habe keinen Aufschlag, keinen Block und keinen Punktgewinn gesehen, und doch war ich im Bilde. Nach dem zweiten erfolgreichen Satz, der offensichtlich ausreichte, jubelte wohl ganz Polen.
Ob die Volleyballmannschaft ein Statthalter ist für die Fußballkünstler, die in den letzten Jahrzehnten den hohen Erwartungen nicht standhalten konnten? Der Halbfinalgegner ist jetzt Deutschland. Wenn schon, denn schon.

Am Morgen dann der kurze Weg in das Dorf Osiek am Fluss Notec (Netze), wo es ein „Skansen“ gibt, ein Freilichtmuseum für Volkskunde und bäuerliche Lebensweise. Das klingt nicht gerade spektakulär, ist es auch nicht. Und doch erzählt es vom wahren Leben. Unser Lebensmodell mit seiner ungeheuren Mobilität und einem Überfluss an Lebensmitteln bildet die große Ausnahme. Alle unsere Vorfahren waren Bauern und kleine Handwerker, die sich mühselig, in Angst und Schrecken auch, ihr täglich Brot erarbeiteten. Und wir selbst können kaum die Getreidesorten auseinanderhalten.

Unterwegs, wie so häufig entlang der Straßen, geschmückte Kreuze, Heiligenfiguren oder Marienaltäre, auf den Plätzen vor den Kirchen Denkmäler und Bilder von Johannes Paul II., „dem größten Sohn der polnischen Erde“, wie zu lesen ist. Auch das könnte man volkskundlich deuten. Aber es ist mehr. Es sind Symbole der größten Hoffnung, von der man nur erzählen kann - oder aber sie „naiv“ zu verbildlichen suchen.

In Osiek ist im September offensichtlich wenig los, und so bekomme im Skansen eine Privatführung, die in dem Eintritt von neun Zloty enthalten ist. Die sympathische junge Dame weiß natürlich alles über die Ausstellungsstücke. Alles über die bäuerlichen Hütten aus dem 18. oder 19. Jahrhundert und ihre „schwarzen“ und „weißen“ Räume (in den schwarzen wurde geheizt!), alles über die Windmühlen, die Schusterwerkstatt oder die Kunst der Hausfrauen, Brot zu backen. Doch wirklich interessant wird es für mich erst, als wir Verbindungen zum Heute ziehen. Denn so lange ist es nicht her, dass unsere Vorfahren viele Kinder hatten und winzige Räume, dass in jedem Schlafzimmer große Heiligenbilder und nicht Flachbildschirme hingen. Selbstverständlich hatte auch mein Opa, der gerne tischlerte, ein Bild des heiligen Josef in seiner Werkstatt.

Als ich von den großen Häusern berichte, die ich am Rande der Dörfer entdecke, bekomme ich sogleich und entschieden die Auskunft, sie seien alle in Deutschland oder in Holland „gemacht“. Ihre Besitzer konnten sie nur deshalb bauen, weil sie längere Zeit „im Westen“ arbeiteten. Mit Zloty-Löhnen seien solche Anwesen nicht zu bezahlen.

Es ist ein Thema, das mir in fast allen Gesprächen begegnet. In jeder Familie scheint ein Bruder oder der Schwager, der Vater oder die Schwester ihr Geld im Ausland zu verdienen. Manche kehren dann zurück und bauen, so es gut gegangen ist, ein Haus. Nicht wenige holen ihre Familie nach Deutschland oder Großbritannien nach.

Stoff genug für Volkskundler von heute und morgen.

Am Rande:
Was sich nie ändert: Schüler, die sich nach einer Mathematikarbeit gegenseitig versicherten, sie hätten „keinen blassen Schimmer“ gehabt; sie und die Mathematik passten nicht zusammen. Und gleichzeitig der Kampf der Enthusiasten, die, wie Olga Wozniak in der „Gazeta Wyborcza“, das ganze Land aufzuklären suchen, dass jeder das Mathe-Gen in sich trage, dass wir alle Mathematiker seien. Worauf es ankomme: Auf die Lehrer und eine kluge Didaktik.

„Hat nun Dein Janusz eine Arbeit?“, fragt eine besorgte Stimme am Nebentisch. „Raczej nie“, „eher nicht“, antwortet die Befragte. Eine verständliche Rhetorik. Mir aber fällt der Philosoph Leszek Kolakowski ein: „Man kann nicht auf dem Bahnsteig stehen bleiben und zugleich im Zug mitfahren.“

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