Der Grenzübertritt wurde dann doch ein kleines Abenteuer, doch ich hatte den richtigen Cicerone bei mir. Da man die Grenze zu Fuß nicht passieren darf, bestellte ich in Braniewo ein Taxi. Und Kazimierz - wenn man zusammen nach Russland hineinfährt, ist man sogleich per Du -, ein pensionierter Polizist, war nicht nur bestens gelaunt, sondern die Ruhe in Person. Er kenne das ganze Procedere, sagte er, weil er immer wieder Geschäftsleute nach Kaliningrad-Chrabrowo, zum Flughafen, fahre.
Um 7.30 Uhr wurden wir auf der polnischen Seite praktisch durchgewunken, dann aber folgten etliche Schritte die, so banal es klingt, an die glücklicherweise untergegangene DDR erinnerten.
Erst einige hundert Meter im Niemandsland, dann eine exakte, streng zu beachtende Choreographie - "Fährt man los, bevor die Dame mit ihrem Schlagstock winkt, darf man 500 Rubel bezahlen" -, ein wiederholter Blick auf Visum und Passfoto. Ein zweiseitiges Zollformular in kyrillischer Schrift ist auszufüllen, bei dem es um die Einfuhr und Ausfuhr des Autos geht, aber auch um etwa 25 Kästchen, bei denen das Nein anzukreuzen ist. "Bei der Rückfahrt werde ich den Durchschlag vorlegen müssen, und wenn man nicht aufs Abstellgleis will, legt man einen 50 Rubel Schein dazu" - was vier Zloty, einem Euro, entspricht. Die Grenzbeamten verdienten, so Kazimierz, umgerechnet an die 1000 Zloty, und fast alles ist in Russland teurer als in Polen. So ist auch die Unmenge an Lidl-, Biedronka- oder Netto-Geschäften in Braniewo zu erklären. Der kleine Grenzverkehr, seit zwei Jahren in Kraft, ist beiden Seiten von Nutzen.
Zwanzig Minuten müssen wir dann noch warten, weil gerade Schichtwechsel ist. Da werden die Computer erst herunter-, dann hochgefahren…
So ungefähr war das, und die schlichte Frage bleibt: Wer braucht diesen bürokratischen Unsinn? Geht es um Autorität und Machtdemonstration, ist es "Tradition", die dann freilich vor allem Gedankenlosigkeit widerspiegeln würde? Allen Gegnern des offenen Europa sei der Besuch an einer Grenze wie dieser ans Herz gelegt.
Gleich hinter den Grenzanlagen ein fröhliches Schild: "Welcome to Russia!" In Ordnung, denke ich mir, ich bin gespannt und werde die Augen offen halten.
Es regnet stark, als ich mich in Mamonowo (Heiligenbeil), einem Städtchen direkt hinter der Grenze, von Kazimierz verabschiede. So schaue ich mir den Ort, der nach einem 1945 hier gefallenen Offizier benannt wurde, nicht lange an. Die Kämpfe am Ende des Zweiten Weltkrieges haben vom alten Kern nur winzige Spuren übriggelassen, und das neue Wohngebiet mit Plattenbauten und Geschäften weckt in mir keinen Entdeckersinn.
So hat mich, zwischen Mamonowo und Laduschkin (Ludwigsort), bald die Straße, der Grünstreifen, wieder. Der Grünstreifen ist breit, doch schnell sind die Autos, gewagt die Überholvorgänge.
Pjatidoroschnoje, Perwomajiskoje, Razdolnoje. Die kleinen Ortschaften mit ihren Lebensmittel- und Textilgeschäften, mit öffentlichen Einrichtungen, Gedenksteinen - auch ein Ehrenmal in deutscher Sprache für die Gefallenen des Krieges 1914-1918 findet sich - und Soldatenfriedhöfen bieten nichts Spektakuläres. Doch aus den 50 Kilometern, die nach Königsberg fehlten, wurden in Laduschkin überraschend schnell 28.
Welcome to Russia!
Am Rande:
Kurz vor Laduschkin eine winzige Kapelle und eine überraschend "deutsch" anmutende kleine Siedlung. Tatsächlich haben hier nach 1989 Russlanddeutsche, die bis dahin in Kasachstan wohnten, eine neue Heimat gefunden. Ein europäisches Schicksal ganz eigener Art. "Gott zur Ehre, den Menschen zum Heil", heißt es am Eingang der Kapelle, die Weihnachten 2001 eingeweiht wurde.