Woodstock und Pompeji

In Küstrin / Kostrzyn entdeckt Christian Heidrich die Spuren des größten europäischen Rockfestivals „Przystanek Woodstock“/„Haltestelle Woodstock“. Die historisch kriegsgebeutelte Festungsstadt empfängt jedes Jahr Hunderttausende unter dem Motto „Friede, Liebe, Rock“.

Woodstock und Pompeji
© Christian Heidrich

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein junger Rockfan das polnische Kostrzyn kennt, ist nicht gering. Das hat dann wenig mit der Stadtgeschichte zu tun, zumindest nicht mit der klassischen Historie von Krieg und Frieden, aber viel mit den „Toten Hosen“ und Genossen. Denn seit 2004 findet hier, immer Anfang August, Europas größtes Open-Air-Festival statt. Gut 700000 Musikfans kommen in die Stadt an Oder und Warthe zu einem Happening, das für sie kostenlos ist, weil es von Sponsoren finanziert wird. Rund 100000 Besucher sind Deutsche.

Das Festival gibt es bereits seit 1995, und die Vorgeschichte ist ein bisschen verwirrend. Doch kennt jeder in Polen Jerzy Owsiak, den Vater dieser Unternehmung, der „Przystanek Woodstock“ / „Haltestelle Woodstock“ als ein Dankeschön für sein anderes großes Projekt, die Weihnachtssammlung „Wielka Orkiestra Swiatecznej Pomocy“, initiiert hat. Mittlerweile trauen sich auch progressivere Vertreter der katholischen Kirche in der „Akademie der wunderschönen Künste“, die das Festival flankiert, aufzutreten. Jahrelang haben Bischöfe und Pfarrer Schlimmes vermutet und suggeriert. Die achtzehnte Haltestelle 2012 hatten gar die beiden Präsidenten Bronislaw Komorowski und Joachim Gauck eröffnet.

Als ich die „Woodstock-Felder“, ein paar Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, betrete, ist alles sauber und aufgeräumt, die riesigen Zeltplätze und auch die berühmte Schlammstelle für ausgelassene Bäder. „Panie“ (Herr), sagt mir ein Spaziergänger, der ein T-Shirt mit dem Aufdruck „If it doesn't go right, go left“ (Wenn es rechts rum nicht geht, gehe links rum) trägt, „als ich die Menge zum ersten Mal sah, da wurden mir die Knie weich. Wieder eine Flut, dachte ich. Aber nein, es blieb alles friedlich, auch wenn das Bier immer in Mengen strömt. Jetzt freuen wir uns alle, und die Geschäftsleute haben Weihnachten schon Anfang August.“

Am Nachmittag bleibt mir nicht mehr allzu viel Energie, um das „Pompeji an der Oder“ genau anzuschauen. Aber glücklicherweise ist Montag, die kleinen Ausstellungen sind geschlossen. Und ich habe die „Altstadt“ und die Festung, oder das, was von ihnen übrig blieb, fast für mich alleine. Kaum zu glauben, dass über viele Jahrhunderte hinweg für Küstrin eine gewaltige Bastion, ein Bollwerk, bestimmend war. Die Altstadt mit Marktplatz, Schloss und Kirche lagen innerhalb der Festungsmauern. Heute ist die Anlage im Grunde ein Ruinenfeld. Nur wenige Spuren lassen sich zuordnen. Das alte Küstrin wurde in den Kämpfen der letzten Kriegswochen 1945 fast vollständig zerstört. Wer die Hinweisschilder „Marktplatz“ oder „Webergasse“ liest, dem bleibt vor allem Platz für Phantasie.

So kann man sich auch einbilden, den Geist von Leutnant Hans Hermann von Katte wahrzunehmen, der hier am 6. November 1730 enthauptet wurde. Er hatte seinem Freund, dem jugendlichen Kronprinzen Friedrich, geholfen, vor seinem despotischen Vater Friedrich Wilhelm I. zu fliehen. Die Flucht scheiterte. Der spätere Friedrich II. wurde geschont, doch musste er die Exekution seines Freundes mitansehen.

Auch diese Tragödie ist in Fontanes „Wanderungen“ genau beschrieben. Ich aber denke an „Peace, Love, Rock“, die Leitworte von „Przystanek Woodstock“, und will auch an dieser Stelle nichts von den guten, alten Zeiten hören.

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